Zeitenspiegel Reportagen

Die Bastion der Flüchtlinge

Erschienen in "WOZ", Nr. 12, 20. März 2014

Von Autor Jan Rübel

In Berlin halten Migranten seit einem Jahr eine Schule besetzt. Einblick in einen (fast) abgeschlossenen Kosmos

Der Schulhof liegt verwaist in Berlins Morgenfrost, als ein kleiner dünner Mann in Schlappen, Shorts und T-Shirt aus dem ehemaligen Sportpavillon gegenüber springt. Bloß in Bewegung bleiben, zittern seine Lippen, noch immer kam nur kaltes Wasser aus den Duschen. Ein Handtuch zum Turban über seinen Kopf gewickelt, weicht er autogroßen Müllbergen auf dem Pflaster aus und sprintet die breite Schultreppe hinauf in den ersten Stock des wuchtigen Zentralbaus, vorbei an Matratzenlagern und einem schiefen Weihnachtsbaum mit goldfarbenem Lametta. Es riecht nach Urin. Der Boden unter den Füßen klebt. Überall Menschen in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg, in Schlafsäcken auf Isomatten oder in Hockerstellung. “Hier”, lächelt er und schlüpft in ein Ein-Mann-Rundzelt in einer Flurecke.

Mo ist Anfang zwanzig, er kämpft mit einem Spray gegen den Duft, der nicht mehr nach Schulkreide oder Bohnerwachs riecht.

Zwischen 150 und 200 Menschen wohnen in der Schule. Manche haben irgendwo in Deutschland Asyl beantragt, andere sind illegal hier. Auch Flüchtlinge aus Lampedusa beziehen die Klassenräume. Sie alle strandeten vor einem Jahr, als Ausläufer eines Protestcamps am Kreuzberger Oranienplatz: Aus ganz Deutschland hatten sich Flüchtlinge zusammengetan, sie demonstrierten für eine Aufhebung der Residenzpflicht für Asylbewerber und ein Recht auf Arbeit. Als der Winter nahte, nahm man sich die leer stehende Schule als Rückzugsraum. Seitdem kommt die Stätte nicht mehr aus den Schlagzeilen. “Wer bringt das Gesetz ins Gesetzlosen-Haus?”, titelte das Boulevardblatt “B.Z.” “An dieser Schule traut sich kein normaler Mensch aus Angst mehr vorbei”, ließ sich der Kreuzberger CDU-Vertreter im Berliner Abgeordnetenhaus, Kurt Wansner, zitieren und stellte vergangene Woche Strafanzeige gegen Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann wegen Untreue und Förderung von Straftaten; die Grüne duldet die Flüchtlinge, dreht ihnen Strom und Heizung nicht ab.

Ein Anruf bei Kurt Wansner. Nein, persönlich habe er vor Ort keine negativen Erfahrungen gemacht. “Aber dort wird massiv mit Drogen gehandelt. Familien machen schon jetzt einen großen Bogen ums Haus.” Draußen, auf dem Bürgersteig, flaniert Kreuzberg entlang. Mütter mit Kindern, Teenager und junge Erwachsene.

Mo aus dem Sudan sieht in der Schule ein Refugium für die “Zwischenzeit”. Über die Türkei, Griechenland und Italien hat er sich nach Deutschland durchgeschlagen. Warum er seine Heimat verließ? “Was für eine Frage”, schnaubt er. “Ich weiß nicht, was es dort mehr gibt: Armut oder Krieg.” In Deutschland sucht er Freiheit, “einen Job, eine Wohnung, eine Familie”.

Die Zahlen steigen Auf dieser Suche sind viele, und es werden wieder mehr: Aktuellen Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge beantragten 109.000 Menschen im vergangenen Jahr Asyl in Deutschland. Das bedeutet einen Zuwachs von fast 70 Prozent im Vergleich zu 2012. Auch die Zahl der Folgeanträge stieg deutlich - um 33 Prozent auf 17.000 im Jahr 2013.

Das merkt auch das Land Berlin: 6.000 Flüchtlinge mussten hier im vergangenen Jahr untergebracht werden, doppelt so viele wie 2012. Für 2014 rechnet Berlins Sozialsenator Mario Czaja (CDU) mit ähnlichen Zahlen. Die Plätze in den dafür vorgesehenen Heimen reichen bei weitem nicht aus, Notunterkünfte werden improvisiert, zum Teil werden Flüchtlinge auch in umfunktionierten Hostels untergebracht - oder eben in lehrstehenden Schulgebäuden wie in Kreuzberg.

Dort steht Mo mit zwei Senegalesen vor einem Boiler. Jemand hat versucht, den in Gang zu kriegen; jetzt rauchen die durchgebrannten Schaltkreise. “Wir brauchen stärkere Kabel, um Waschmaschinen an die Dosen anschließen zu können”, murmelt einer. Gegenüber hängt ein Konterfei Nelson Mandelas, darunter “RIP Africa United”. Vereint sind sie hier im Provisorium.

Ein bitterer Trotz umweht die Flure. Wer bis hierher gekommen ist, musste dafür Leid und Gefahr auf sich nehmen. Viele hier bitten nicht mehr, sie fordern, als erwarteten sie den Zahltag für ihre Mühen. Mo schaut sich auch um nach Verbesserung, er wirft einen Blick in die Aula im dritten Stock, auf der Suche nach einem neuen Schlafplatz.

Im größten Raum der Schule liegen zwar die Matten dicht an dicht, aber sie verlieren sich unter der viele Meter hohen Decke aus Holztafeln und Kassettenschnitt. Hell ist es, sauber und warm, die Heizkörper aus Stahlblech strahlen dezent. Rund 30 junge Männer wohnen hier, einer von ihnen fegt immer. Was im Haus als Ganzem in der Hygieneorganisation nicht klappt, ist umso penibler in den einzelnen Räumen. Von hinten dringt Currygeruch. Auf zwei Kochplatten kocht ein Trio aus Mali Spagetti mit Fleischstücken, auch Bulgaren von der Fensterecke rücken heran und langen mit Löffeln in den großen Topf.

“Wer hat, gibt”, sagt Hafid. Immer wieder starrt er an einem Holztisch auf ein Heft mit Deutsch-Vokabeln. Vor zwei Monaten kam er hier an - auf der Suche nach einem Ort zum Durchatmen. In Frankreich hatte der 37-jährige Marokkaner studiert und gearbeitet, dann kamen irgendwann die “Probleme”, “viele Leute wollten mir Böses”, sagt er und senkt die Stimme. Nach Berlin kam er, weil er eine Auszeit brauchte, eine Neuorientierung. Weil er Brücken abreißen wollte. Das Gebäude verlässt er fast nie.

Die Gerhart-Hauptmann-Schule ist wie aus Zeit und Raum gefallen. Ihre Bewohner verharren zwischen Verdruss und Hoffnung. Zwischen Traumata von früher und Aufbruch heute, der Sehnsucht nach Ankommen. Und manchmal entladen sich all diese Gefühle in einem einzigen Moment.

Es beginnt mit zwei Gläsern, die der Mann laut auf den Tisch stellt. Dann zieht er seine Kreise, nähert sich. Brüllt plötzlich los. “Ihr verletzt unsere Privatsphäre! Was wollt ihr! Warum denkt ihr alle, dass wir schlecht sind? Ihr seid scheiße! Scheiße!” Er ballt die Hand zu Fäusten. Rasch springen Hafid und ein paar andere auf, halten ihn zurück. Die Nerven liegen blank. Wladimir kennt dieses Auf und Ab. Er fährt sich mit der Hand den Hals entlang, ein verkrusteter kleiner Blutkratzer läuft hinab bis zu Spritzern auf dem weißen Hemd. “Heute Nacht kam jemand aus dem Nebenraum, wollte etwas stehlen. Ich wachte auf, wir verjagten ihn.” Eine halbe Stunde später sei der mit einem Messer wiedergekommen und habe Reizgas versprüht. Wladimir lächelt. “Keine Verletzten.” In seiner Heimat Bulgarien sei er Polizist gewesen, eine Verletzung habe ihn aus dem Job katapultiert. Gleich am Morgen habe man die Angelegenheit mit den Männern von nebenan geklärt. Allein mit Worten. In manchen Räumen wohnen nur Ghanaer oder nur Tunesier, das schafft oft Misstrauen zwischen den Zimmern. In der Aula aber kommen sie alle zusammen und miteinander aus.

Wladimir steht auf, auch die Köche aus Mali. Sie hüllen sich in ihre Pullover und ziehen los, nach draußen in die Stadt, zum Pfandflaschensammeln. Versuche von deutschen linken Gruppen, im Haus eine Art Selbstorganisation aufzubauen, gestalten sich als zäh. Bisher schaffte es kein Klassenraum, einen Vertreter zu wählen. Dennoch gibt es gemeinsame Deutschkurse, Kneipenabende und eine Theatergruppe. Ein Flur ist reserviert nur für Frauen.

Draußen wächst die Skepsis. “Kaum jemand traut sich mehr hinein”, schreibt der “Tagesspiegel” - “außer der Polizei”. Die indes muss zuweilen mit einer Hundertschaft anrücken - aber weniger wegen der Flüchtlinge. “Auf Seiten der Unterstützer entsteht schnell der Eindruck, wir wollten räumen”, sagt Stefan Redlich, Pressesprecher der Berliner Polizei, am Telefon. “Dann behindern sie unseren Einsatz, und wir müssen mit mehr Beamten unsere Arbeit absichern.” Je mehr Beamte, desto mehr Aufsehen - so entsteht mediale Aufregung.

Laut Recherchen der Polizei stiegen die Straftaten im Umkreis der Schule um 57 Prozent auf 899. “Es ist schwierig, sich ein Bild daraus zu machen. In 60 Fällen konnte ein Bezug zum Heim belegt werden”, sagt Redlich. “Ein Anstieg der Straftaten ist allein deswegen logisch, weil nun viele Menschen im Gebäude wohnen - und vorher niemand.” Das allein sei allerdings keine Erklärung dafür. Dazu gehört auch eine Mischung aus Frust und Aggression, aus Arbeitsverbot und Inseldasein. Es scheint wie ein gegenseitiger Belagerungszustand, als stünde eine unsichtbare Mauer zwischen der Schule und den angrenzenden Straßen. Und auch die Landespolitik durchzieht inzwischen ein Graben. Die CDU will das Haus räumen. Die SPD setzt dagegen auf Verhandeln. Vorerst, so die Beschlusslage, passiert nichts.

Der Zug der Flaschensammler setzt sich nun in Bewegung. Er wird die Stadt durchstreifen auf der Suche nach ihren Abfällen, in der Hoffnung, irgendwann einmal zu ihr zu gehören. Doch am Abend, wenn sich der Wind legt und eisiger Starre weicht, ziehen sich die Geflüchteten im Wartezustand wieder zurück in ihre Bastion.