Zeitenspiegel Reportagen

Die letzten Christen

Erschienen in "Kontinente", 03/2011

Von Autor Carsten Stormer

Die Gewalt gegen religiöse Minderheiten im Irak nimmt ständig zu. Vor allem Christen stehen im Fadenkreuz von Fanatikern und Extremisten. Im kurdisch verwalteten Norden des Iraks stemmt sich ein katholischer Priester gegen Fanatismus und Gewalt.

Um fünf Uhr morgens, wenn das Böse in seinem Land noch schläft, steht er auf, schlüpft in die Soutane, legt die Kette mit dem silbernen Kreuz um seinen Hals und betet; für Frieden im Irak, seiner Heimat, dafür, dass auch heute wieder ein Tag ohne schlechte Nachrichten vorübergeht, dass keine Kirche brennt in Bagdad oder Mosul; und keine Haftbomben unter Autos explodieren und Christen, Jesiden oder Kurden in den Tod reißen; dass niemand mit schallgedämpften Pistolen erschossen wird. Es stirbt sich leicht im Irak und deswegen gibt es viel zu beten – aber zur Zeit ist es relativ ruhig und, so Gott will, wird es hoffentlich noch eine Weile so bleiben. Die Gewalt, das weiß der Priester, kommt und geht, ist wie Ebbe und Flut, bestimmt das Leben der Iraker wie die Gezeiten die Meere.

Vater Gabriele K. Tooma ist ein schmaler Mann mit Brille, das akkurat frisierte Haar mit grauen Strähnen durchzogen. Ein Karriere-Priester; mit 41 Jahren bereits vom Papst zum Abt aller katholischen Klöster im Irak erkoren. Er geht ein bisschen gebückt, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, das große Kreuz um seinen Hals wirkt wie eine Last, an der er schwer zu tragen hat. Er ist Abt des Klosters der Jungfrau Maria, ein Bollwerk christlichen Glaubens in dem Städtchen Alqosh, einer ausschließlich von Christen bewohnten Enklave im Nordirak, knapp zwei Autostunden von der Fanatikerhochburg Mosul entfernt.

Alqosh liegt im kurdisch verwalteten Teil des Iraks. Dieses Gebiet ist zum Rückzugsgebiet für alle Vertriebenen im Zweistromland geworden. Hier wohnen die Volksgruppen nebeneinander und, auch wenn sie sich auch nicht unbedingt mögen, so ist das Zusammenleben zumindest friedlich: Kopten, Christen, Jesiden, Kurden, Moslems und die Anhänger Johannes des Täufers teilen sich den Lebensraum. Jahrhunderte der Koexistenz, und jede Menge Vorurteile.

Ein Exodus in diese Region und ins Ausland findet gerade im Irak statt. Die Flucht ist eine Kapitulation vor religiösem Fanatismus und die Folge einer Politik, die machtlos ist gegen die Gewalt und die Betroffenen nicht schützen kann. Mehr als die Hälfte der im Irak lebenden Christen soll das Land schon verlassen haben: 400.000 bis 700.000 Menschen. Christen und andere Minderheiten sind zur Zielscheibe von Terroristen und Extremisten geworden, damit der Irak völlig auseinanderfällt und ein islamistisches Kalifat entsteht. Die religiösen nicht-islamischen Gruppen machen nur drei Prozent der Bevölkerung aus, aber stellen zwanzig Prozent der Flüchtlinge. Wenn sich die Lage wieder beruhigt hat, kehren einige wieder zurück. So pendelt sich das Leben im Rhythmus der Gewalt ein.

Es ist kalt in Nineveh, der Wiege des christlichen Glaubens im mittleren Osten. Ein eisiger Wind pfeift über das Hochplateau und lässt das Thermometer auf gefühlte Null Grad fallen. Vater Gabriel Tooma steigt in seinen neuen Toyota Corolla, um sich auf die gefährliche Reise zu begeben. Er will seinen Glaubensbruder Vater Steven im Kloster Santa Gorgio in Mosul besuchen, den letzten katholischen Priester in Mosul.

Für die Fahrt hat Vater Gabriel die Soutane abgelegt, zu gefährlich. Genau wie das silberne Kreuz, das jetzt im Handschuhfach liegt; besser so. Nur der Priesterkragen, der unter seiner schwarzen Winterjacke hervorlugt, verrät seine Glaubensgesinnung. Die kurdischen Peshmerga, die sein Kloster bewachen, schieben das eiserne Rolltor beiseite, salutieren und Vater Gabriel murmelt ein Vaterunser zum Himmel. Am Checkpoint zum Ortseingang von Alqosh scherzt er mit einem befreundeten irakischen Soldaten, dass er keinen Führerschein habe und der Soldat ihn bitteschön trotzdem durchlassen möge.

Vater Gabriel fährt, als besäße er wirklich keinen Führerschein. In rasantem Tempo und Gottvertrauen wechselt er immer wieder von der rechten auf die linke Fahrbahn, die sich schnurstracks durch die Hügel Kurdistans zieht, auf denen ein grüner Flaum den Frühling ankündigt. Er raucht eine Zigarette der Marke Prestige nach der anderen und redet noch schneller als er fährt. „Ich bin der einzige Priester, der sich noch nach Mosul wagt, aber als Abt ist es meine Pflicht.“

In Mosul tummeln sich ehemalige Angehörige von Saddams Baath Partei, religiöse Hetzer und Terroristen der Al-Kaida. Bis vor ein paar Jahren lebten hier mehr als 100.000 Christen, jetzt seien es weniger als 5.000, heißt es. Vater Gabriel zündet sich die zwölfte Zigarette des Tages an und erzählt, dass alle Kirchen in Mosul geschlossen seien, alle Priester, bis auf einen, die Stadt verlassen hätten und Weihnachten im vergangenen Jahr abgesagt werden musste. Er selbst bleibe nie länger als zwei Stunden in der Stadt, der Sicherheit wegen. Je näher Mosul rückt, desto mehr Straßensperren behindern den Verkehr; kurdische und irakische Soldaten mit entsicherten Gewehren verlangen nach Ausweisen, schauen in Kofferräume und als ein junger Mann im kurdischen Tarnfleck das Kreuz im Handschuhfach entdeckt, flüstert er Vater Gabriel zu, dass er bitte aufpassen und nicht zu lange in Mosul bleiben solle. Man wisse ja nie in diesen Zeiten… Vater Gabriel schickt zum Dank ein „Gott sei mit Dir“ durchs offene Fenster und bekreuzigt sich.

Drei Checkpoints der irakischen Armee sichern das Kloster St. Gorgio, das auf einem Hügel neben einer Ausfallstraße um Rande Mosuls steht. Die Zufahrtsstraße ist mit Zementblöcken und Stacheldraht versperrt. Das Kloster ist verlassen, Vater Steven nicht da. Auch gut, dann macht er eben einen Abstecher zur Familie Maqdasay, ein paar Straßenzüge weiter. „In dieser Straße lebten einst nur Christen, heute sind nur drei Familien übrig geblieben“, sagt der Priester und blickt ständig in den Rückspiegel. Seine Stirn wirft Falten, er ist nervös. Die Familie Maqdasay war eine von 37 Familien, die nach der Belagerung einer Kirche in Bagdad im Oktober, die in einem Blutbad mit 51 Toten endete, ins Kloster von Alqosh flüchtete. Zwei Monate lang versorgte Vater Gabriel die Familie und mehr als zweihundert weitere Flüchtlinge, die sich jeweils zu zwanzigst in die winzigen Zimmer des Klosters quetschten, und machte ihnen Mut, der Gewalt nicht zu weichen. Erst nach Weihnachten trauten sie sich langsam zurück. Wie viele tatsächlich aus Mosul verschwanden, weiß niemand. Im Oktober 2008 flohen 12.000 Christen, nachdem vierzehn Gläubige ermordet wurden. Im Februar 2010 gingen 4.000 nach Syrien, als zehn Christen umgebracht wurden.

Wie durch einen Schleier gedämpft, dringen die Geräusche der Stadt in das Haus der Maqdasays. Bei Miller-Bier und gebrannten Nüssen sitzen Vater Gabriel und die Familie Maqdasay in deren eiskaltem Wohnzimmer und halten sich an den Händen. Atemwolken liegen in der kalten Luft. Vater Gabriel verteilt Stofftiere an die Kinder: Pu, der Bär und einen grünen Drachen. Der Strom ist mal wieder ausgefallen. „Ah, die Früchte von Freiheit und Demokratie“, bemerkt Vater Gabriel sarkastisch und alle lachen.

Obwohl sie nie persönlich bedroht wurden, flohen die Maqdasays in den vergangenen zwei Jahren drei Mal aus Mosul. Entweder, weil es wieder einen Christen erwischt hat, weil irgendwo eine Autobombe hochging, oder weil jemand „Christen verschwindet aus Mosul oder wir töten euch“ an eine Hauswand geschmiert hat. Es ist wieder die Zeit der SMS. Wenn sie das Haus verlassen, stehen sie per Handy in Kontakt: „Bin nur noch schnell Zigaretten holen, ich bin okay!“ Dabei seien die Beziehungen zu den moslemischen Nachbarn eigentlich ziemlich gut.

Moslemische Freunde der Familie kommen vorbei, weil sie gehört haben, dass Vater Gabriel zu Besuch ist, man kennt und mag sich; das Bier verschwindet, stattdessen wird gezuckerter Tee serviert. „Wenn wir fliehen, dann lassen wir den Hausschlüssel bei den Nachbarn, die auf unser Haus aufpassen“, sagt Amer Maqdasay, 62, das Familienoberhaupt, der neun Jahre als Kriegsgefangener im Iran verbrachte. Seine Frau sitzt am Fenster und guckt spazieren. Die Angst ist allgegenwärtig. „Wenn wir auf die Straße gehen, trauen wir uns nicht, das Kreuz zu tragen. Ich habe Angst, zur Arbeit zu gehen. Und die Frauen verlassen das Haus gar nicht mehr.“ Vater Gabriel schaut auf seine Uhr. Es ist schon spät. Er muss los, besser so, steht auf, Umarmungen, Küsse. Auf Wiedersehen, Friede sei mit euch.

Geschichten wie diese sind in ziemlich jedem christlichen Dorf im Nineveh Plateau zu finden. Etwa 36.000 christliche Familien leben als Flüchtlinge im eigenen Land in Kurdistan. Sie haben sich abgeschottet, Enklaven geschaffen, in denen ausschließlich Christen leben. In Sharifa, Telesqof, Telqef. In Batnaia, einem 8000-Seelen Nest auf halber Strecke zwischen Alqosh und Mosul, sitzt der 56-jährige Samir Azoo Dawood in seinem Krämerladen zwischen Rosenkränzen und Tomatenketchup und träumt sich in seine Vergangenheit. Vor drei Jahren floh er aus Bagdad, nachdem Killerkommandos der Al-Kaida zwei seiner Kollegen aus der Stadtverwaltung ermordeten, seinen Vater bedrohten und sein Bruder an einer Blinddarmentzündung starb, weil die schiitische Milizen sie nicht ins Krankenhaus ließen. Ein paar Schritte weiter, in einem Haus, das sich an die Friedhofsmauer von Batnaia quetscht, erlebt der 43-jährige Hani Sami Mansoor jeden Tag das Leiden seines Sohnes Fadi, der an einer Hormonschwäche leidet. Seitdem sie aus Mosul fliehen mussten, kann sich die Familie die teuren Medikamente zur Behandlung des Sohnes nicht mehr leisten.

Und in Alqosh, gleich neben dem Grabmal des Propheten Nahum, sitzt Josef Younis in seinem winzigen Wohnzimmer vor einer Tasse türkischen Kaffees. Die Promenadenmischung Kete, eine fransige Töle, spielt am Boden mit den Resten des Mittagessens. Ein Streifen Sonne fällt durch das Fenster zum Hof, aus dem man freie Sicht auf St. Michael hat. Das 1400 Jahre alte verlassenes Kloster klebt wie ein Schwalbennest an einer Felswand. Der 62-jährige floh mit seiner Familie aus Mosul, nachdem ihn Al-Kaida Leute entführten und gegen 20.000 Dollar Lösegeld wieder freiließen. Warum sie ihn nicht töteten, weiß er nicht. Aber er wolle es auch gar nicht herausfinden. Zwei Tage nach seiner Freilassung ließen sie ihr Haus und ihren Besitz in Mosul zurück und retteten sich nach Alqosh. „Alles, was ich in dreißig Jahren aufgebaut habe, wurde innerhalb von Tagen zerstört.“ Nebenan sitzt die 81-jährige Dichterin Ister Izik Zara in ihrem buntbemalten Hexenhaus und besingt die Toten der letzten Anschläge.

Vor hundert Jahren war jeder vierte Iraker ein Christ, heute stellen sie nur noch etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung. Die Jesiden nur ein Prozent. Wer es sich leisten kann, flieht ins Ausland; nach Amerika, Skandinavien, Deutschland. Immer mehr Länder öffnen ihre Pforten für vertriebene Christen aus dem Irak. Vater Gabriel kann das verstehen, aber ihm gefällt diese Entwicklung nicht. Denn so verliere der Irak seine Identität, seine Kultur. „Seit zweitausend Jahren sind wir ein Teil des Iraks. Je mehr Christen ins Ausland fliehen, desto mehr Bestätigung erhalten die Terroristen“, findet er. Mit der zunehmenden Aufmerksamkeit, die das Leiden der Christen im Ausland erfährt, nehmen auch die Terroranschläge zu. „Die Terroristen wähnen sich ihrem Ziel nahe, alle Andersgläubigen aus dem Irak zu vertreiben. Wir sollten lieber leise leiden, als laut zu sterben.“

Dabei hat der Terror auch vor Vater Gabriel Tooma nicht Halt gemacht. Vor drei Jahren floh er mit seinen Priestern aus dem Kloster in Bagdad. Es wurde einfach zu gefährlich. Einmal explodierte eine Autobombe vor den Mauern des Klosters, manchmal wurde es beschossen. Ein andermal schickten ihm die Terroristen eine eindeutige Botschaft: eine Kugel in einem Briefumschlag. Und er entging nur knapp einer Entführung. Die Frau, bei der er immer Zigaretten kaufte, warnte ihn, sagt er, und zündet sich eine Prestige an. Damit war das Fass voll und der Entschluss gefasst: Er übernahm das Kloster in Alqosh. Ins Ausland zu fliehen stand für ihn dagegen nie zur Debatte. „Ich bin Iraker, liebe mein Land und die Menschen.“ Jeder Mensch habe eine Verantwortung zu tragen, seine sei es, hier zu sein – und wenn es sein Leben kostet. Er knackt mit den Fingern. „Jesus wurde auch getötet. Ich maße mir nicht an, besser als er zu sein. Wenn ich sterbe, dann sterbe ich.“

Aber noch gibt es wichtigere Dinge, als über den Tod nachzudenken. Die vier Männer sitzen in einem Raum, der voll gestellt ist mit alten Computern, Stühlen und Tischen, die in einer Ecke verstauben. Wann immer es ihre Zeit zulässt, treffen sie sich in der Stadt Shekhan zum Tee, reden, tauschen sich aus und versuchen Probleme zu erkennen, bevor sie entstehen: Vater Gabriel, der Christ, Younis Ali Musa, der 50-jährige Imam von Shekhan, Peer Hassan Ali, der Jeside, 62, und Mohammed Yousif Khamo, der Kurde, 49 Jahre alt. Sie sind Verbündete, stemmen sich gegen den Sog des schwarzen Lochs, das den Irak unaufhaltsam ansaugt. Und um diesem zu entkommen, haben sie den Verein „Eyan“ gegründet, was so viel wie „Haus der Weisheit“ bedeutet. Weil vor der Freiheit das Wissen steht. In unregelmäßigen Abständen veranstalten sie religionsübergreifende Näh-Workshops für die Frauen der Umgebung. „Es geht nicht darum, die Sachen anschließend zu verkaufen. Unser Ziel ist, dass die Frauen Freundschaften schließen, merken, dass die Christin nicht anders ist, als die Muslimin!“, sagt Imam Younis Ali Musa. Oder sie halten gemeinsam Gottesdienste in Kirchen, Moscheen oder den Tempeln der Jesiden ab. „Die Menschen sollen sehen, dass Christen, Moslems und Jesiden zusammen beten. Wenn sie merken, dass wir uns wie vier Brüder verhalten, bauen sie vielleicht ihre Vorurteile und ihren Hass ab“, sagt Vater Gabriel Tooma und schmeckt seine Worte noch einmal nach. Aber häufig geht es nur darum, Streit zu schlichten. Neulich gab es Ärger zwischen den Clans der Jesiden und der Moslems, weil muslimische Jungs mit jesidischen Mädchen rumgemacht hätten. „Das haben wir geklärt!“

Den Übermut einiger Teenager in den Griff zu bekommen, ist das eine. Wesentlich komplizierter war es, als einem kurdischen Lastwagenfahrer ein Reifen absprang und in der Windschutzscheibe eines Autos landete, in dem eine christliche Familie saß. Ein 13-jähriges Mädchen war danach gelähmt, der Wagen hatte Totalschaden und eine aufgebrachte Meute forderte den Kopf des Truckers. „Auch das haben wir auf unsere Art geregelt“, sagt der Imam, ein Hüne mit weißem Bart und warmen Augen, und wenn er lacht, wackelt der Turban auf seinem Kopf. „Der Lastwagenfahrer hat sich entschuldigt, Zehntausend Dollar Entschädigung an die Familie des Mädchens gezahlt und ein neues Auto besorgt.“ Danach war wieder Ruhe in Nineveh.

Es sind wackelige Babyschritte von Menschen, die sich in ihrem Glauben nicht Nahe stehen, aber die Nase voll haben von Krieg, Chaos und Gewalt – und an eine Vision eines friedlichen Iraks glauben. Erst die Jahrzehnte unter Saddam, in denen man den Mund nicht aufmachen durfte, um ein friedliches Leben zu führen. Eine Zeit, in der besonders die Kurden unter Vertreibung und Giftgasangriffen litten. Dann die Zäsur, die Invasion der Amerikaner mit ihrem Versprechen für einen Neuanfang in Frieden und Demokratie. Nichts davon wurde gehalten, im Gegenteil, die Gewalt gegen religiöse Minderheiten, begann mit dem Sturz des Diktators Hussein. Die Enttäuschung über die Lippenbekenntnisse ist groß, die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird, klein. Das schweißt zusammen.

Sie alle wurden bedroht, haben Gewalt erlebt und wissen, was es heißt Angst zu haben. Aber es gibt nicht viel, was man dem Terror der Islamisten und der eigenen Furcht entgegensetzen kann. Davonlaufen? Auch keine Alternative. Mit Gewalt antworten, zurückschießen? Die schlechteste Lösung. Was dann? In Gottvertrauen ausharren! Jeder mit seinem eigenen. „Wir leben seit Hunderten von Jahren friedlich nebeneinander“, sagt der Imam, der vor zwei Jahren aus Mosul flüchten musste, weil islamistische Extremisten ihn für zu tolerant und für einen Spion der Christen hielten, weil er Freundschaft zwischen den Religionen predigte. „Jesus ist mein Bruder. Er war ein Prophet, ich bin ein Prophet. Christen und Moslems sind Brüder“, sagt er und schlägt dabei mit der flachen Hand auf den Oberschenkel von Vater Gabriel, den er seinen großen Bruder nennt, obwohl dieser viel jünger ist. Es ist eine Geste des Respekts und der Zuneigung. „Unsere Beziehung ist mehr als Freundschaft!“ Sie lachen beide und fallen sich in die Arme.

Dann widmen sie sich ihrem Lieblingsthema, dass sie zugleich wütend und traurig macht. Reden über die Politiker und scherzen, dass sie einen Diktator los sind, aber dafür Hunderte bekommen haben. Und schimpfen über die Amerikaner. Denn erst mit deren Einmarsch brach die Gewalt zwischen den Volksgruppen aus; geschürt von Zellen der Al-Kaida, Saddams Anhängern, religiösen Hetzern. „Nie war es für die Christen im Irak so schwierig wie heute“, sagt Vater Gabriel Tooma und sein jesidescher Kollege Peer Hassan Ali, ein großer Mann mit Schnauzer, schlohweißem Haar und Händen, die wie Zangen zufassen, nickt heftig Zustimmung und sagt: „Uns geht es genauso, aber ihr Christen bekommt die ganze Aufmerksamkeit.“ Und Imam Younis Ali Musa meldet sich zu Wort, dass man bitteschön nicht die 2.700 moslemischen Binnenflüchtlinge vergessen soll, die vor dem Chaos in Bagdad und Mosul fliehen mussten und sich nun am Stadtrand von Shekhan eine neue Existenz aufbauen. Mohammed Yousif Khamo, der Kurde, ist der Stille der Gruppe. Er wippt nur mit den Füßen, hört zu und spitzt manchmal seine Lippen, als wolle er etwas sagen, behält seine Gedanken dann aber doch für sich.

Schluss mit Diskutieren, Zeit zum Mittagessen. Imam Younis Ali Musa lädt zu gebratenem Huhn und Kebabs in sein Haus, anschließend gibt es Kaffee beim Jesiden und am späten Nachmittag fährt Vater Gabriel Tooma, satt und zufrieden, zurück in sein Kloster in Alqosh, hält noch bei einem befreundeten Maler und packt Bilder des heiligen Antonius in den Kofferraum. Nach der Abendmesse, die nur zwei alte Frauen besuchen, setzt er sich noch an seinen Computer. Dunkle Ringe ummalen seine Augen, er qualmt Kette und schreibt einen langen Brief an Nuri Kamal al-Maliki, den irakischen Präsidenten. Darin bedankt er sich in schönen Worten für die Sicherheitsmaßnahmen und Soldaten, welche die Christen im Irak schützen sollen. Zumindest in Kurdistan ist seine Vision von Ruhe Wirklichkeit geworden, sagt er, und wünscht gute Nacht.

Am folgenden Tag reißt ein Selbstmordattentäter in Tikrit 50 Menschen mit in den Tod und in Mosul tötet eine Frau einen katholischen Doktor.