Zeitenspiegel Reportagen

Die Schatten des Krieges

Erschienen in "Wiener Zeitung", 8.-9. Oktober 2011

Von Fotograf Carsten Stormer und Autor Carsten Stormer

Auch mehr als dreißig Jahre nach dem Terror der Roten Khmer ist Gewalt in Kambodscha allgegenwärtig: Besonders Attentate mit Batteriesäure richten verheerende Schäden an. In der Endauswahl des Henri Nannen Preises 2012, Sektion Fotoreportage.

Es ist nur ein Schritt zwischen Srey Ons alten Leben und ihrem neuen. Sie zieht sich den Krama, das traditionelle Wickeltuch der Kambodschaner, über ihr zerstörtes Gesicht, steigt tastend aus dem Motorradtaxi. Dabei blickt Srey On nach links und rechts, als hätte sie noch Augen.

Menschen wuseln durch die Straßen Phnom Penhs. Kinder spielen mit einer leeren Cola-Flasche Fußball, eine Frau verkauft grüne Mangos. Als Srey On durch die Straße wankt, die Arme von sich gestreckt, werden sie alle plötzlich ruhig. Starren auf das entstellte Gesicht, die Narben auf ihren Armen und Händen. Sie beobachten und zeigen mit dem Finger auf sie; manche wenden sich ab. Ein Mädchen beginnt zu weinen, es versteckt sich hinter ihrer Mutter. Srey On fühlt das auch ohne Augen. Und sie kann sie hören; Gesprächsfetzen, die wie heiße Nadeln in sie eindringen.

In einer leeren Seitengasse voller Plastiktüten und Essensreste lässt sie die Blicke hinter sich. Srey On, 31, streicht sich das lange Kleid gerade, klopft an eine Tür aus Wellblech und schlüpft in die Wohnung eines Elendsviertels am Rande von Phnom Penh. Srey On hat eine Verabredung mit ihrer Tochter Naomi.

„Naomi! Naomi! Wo bist Du?“, fragt Srey On mit heiserer Stimme, kniet sich auf den nackten Zementboden und breitet die Arme aus. Sie zittert vor Aufregung, seit Wochen haben sich Mutter und Tochter schon nicht mehr gesehen. Die Kleine wohnt seit dem Anschlag bei der Familie von Srey Ons Schwester. Langsam vergisst sie, dass die Frau hinter der Fratze ihre Mutter ist.

Zwei Jahre und zwölf Operationen ist es nun her, dass eine Nachbarin Srey On Säure ins Gesicht schüttete. Ein Versehen, eine Verwechselung. Entschuldigung. Eigentlich war die Säure für eine Geschäftspartnerin der Täterin bestimmt. Die Flüssigkeit fraß sich durch Srey Ons Gesicht, ätzte Nase und Augen fort, die Kopfhaut, auf der nur noch vereinzelt Haarbüschel wuchern. Die Säure tropfte auf die Arme und Knie – und hinterließ eine Hülle aus Narben und verwachsenem Gewebe. Niemand wurde je angeklagt oder verurteilt. Es gab keine Entschädigung, und wenn man Srey On fragt, warum ihr das angetan wurde, zuckt sie nur mit den Schultern und dreht den Kopf weg. Sie weiß es nicht.

Ein Mädchen kommt aus der Küche gehüpft. Die Hütte ist dunkel, nur ein paar Sonnenstrahlen dringen durch löchriges Wellblech. Als Naomi,fünf Jahre alt, jene Gestallt in der Ecke des Zimmers entdeckt, bleibt sie stehen, zögert, blickt ängstlich hoch zu ihrer Tante, die neben ihr steht. Die Tante nickt und streicht dem Mädchen langsam durchs Haar. Dann geht Naomi zögernd auf ihre Mutter zu, befühlt die Augen, das Loch, wo einmal eine Nase war, die verstümmelten Ohren. Das Gesicht des Mädchens ist wie eine Maske, als befühlte sie ein fremdes Objekt. Srey On sieht das nicht, sie lacht und schluchzt, umarmt das Mädchen, drückt sie fest an sich. Und schließlich kichert Naomi leise, faltet die Hände vor der Brust zusammen und verbeugt sich leicht. Die kambodschanische Geste des Respekts vor Älteren. Dann gibt sie ihrer Mutter einen Kuss auf die vernarbte Wange.

Srey On ist eines von hunderten Opfern von Säureattacken in Kambodscha. Überlebende nennen sie sich, weigern sich, die Opferrolle zu übernehmen. Sie überleben, irgendwie. Man kann sie auf den Zuckerrohrplantagen der kambodschanischen Provinz finden. Als bettelnde Schatten in den Ruinen von Angkor. Auf den Müllkippen von Phnom Penh. Oder in wackeligen Bambushütten, wo sie von ihren Angehörigen aus Scham und Hilflosigkeit versteckt werden. Die Leute nennen sie die lebenden Toten von Kambodscha. Sie sind die vergessenen Opfer eines Krieges, der schon lange beendet ist, sich aber in der Seele des Landes fortsetzt.

Säureangriffe nehmen Menschen wie Srey On nicht nur Aussehen und Augenlicht. Familien werden auseinander gerissen, Ehemänner verlassen aus Scham ihre Ehefrauen, oder umgekehrt. Kinder verlieren ihre Eltern. Sie können ihren Beruf nicht mehr ausüben; oft bleibt nur noch das Betteln. Oder sie werden zu einer Bürde für ihre Familie, weil sie ohne fremde Hilfe nicht durch den Tag finden. An ihnen haftet das Stigma der Ausgestoßenen.

Ein Riss geht durch Kambodscha, einem Land auf der Überholspur zurück in die Zukunft, seit internationale Firmen Kambodscha als Billiglohnland entdeckt haben. Der Bürgerkrieg und Massenmord an der Bevölkerung, begangen vor über 30 Jahren von den Roten Khmer, sind nie aufgearbeitet worden, kaum jemand wurde verurteilt. Man hat darauf gehofft, dass die Zeit die Wunden irgendwann heilt, irgendwie. Die Vergangenheit wird ausgeblendet, nur die Gegenwart zählt, das Hier und Jetzt. Geblieben ist eine traumatisierte Gesellschaft, in der Familienstreitereien, Eifersuchtsdramen, Neid oder berufliche Querelen fast immer mit Gewalt gelöst werden. Man kennt es nicht anders. Kaum eine Familie, die keine Angehörige im ideologischen Schlachten der Khmer Rouge verloren hat. Ein geerbter Fluch, der von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Batteriesäure ist dabei das beste Mittel, mit geringem Aufwand größtmöglichen Schaden und lebenslanges Leid anzurichten. Für einen Dollar bekommt man einen Liter Batteriesäure an fast jeder Straßenecke. Die Täter kommen meist ungestraft davon, die Opfer lässt man allein.

Ein Gesetz, das Säureangriffe unter Strafe stellt, gibt es nicht. Wie viele Anschläge es pro Jahr gibt, weiß man nicht genau. 2011 waren es bislang elf gemeldete Fälle. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Viele Opfer verschwinden als Nummern in den Akten der kambodschanischen Justiz. Andere trauen sich aus Angst vor weiteren Angriffen nicht gegen die Täter auszusagen. Und manche kämpfen für Ausgleich und ihr Recht.

So wie Sakreun Mean. Wer sie finden will, muss lange suchen, hinausfahren aus Phnom Penh, wo Jugendliche auf japanischen Motorrollern in verschachtelten Seitengassen Passanten von der Fahrbahn hupen. Auf der Nationalstraße Nummer 2 bis nach Ta Khmao, ein Vorort von Phnom Penh: Hier franst die Hauptstadt aus grüne Reisfelder und bunte Holzhäuser auf Stelzen mischen sich wie Farbtupfer in die Landschaft. Am Ende einer schmalen Dschungelpiste bewohnt Sakreun Mean mit ihren drei Kindern eine winzige Hütte aus Wellblech und Ziegeln. An unverputzen Wänden hängen ein altes Familienfoto und ein Jutesack, in dem verwahrt sie ihr bisschen Besitz – Andenken an glückliche Tage und eine Welt, deren Erinnerungen langsam verblassen. Sie ist dünn wie eine Kokospalme, das Reden strengt sie an. Nach jedem Satz macht sie eine Pause, holt tief Luft, und dabei spannt sich das Narbengewebe in ihrem Gesicht. Ihre Nachbarn nennen sie „die Frau ohne Gesicht“.

Dutzende Operationen hat die 37-Jährige hinter sich. Bezahlt mit Geld, dass sie sich von Freunden oder der Familie leihen musste. Oder von Hilfsorganisationen, die sie unterstützen. Zuletzt haben ihr die Ärzte Hautstücke wie Jalousien über ihre leeren Augenhöhlen gezogen. Vor fünf Jahren hat ihr die eifersüchtige Ex-Frau ihres Mannes fünf Liter Batteriesäure über den Körper geschüttet, während sie bei Nachbarn eine chinesische Seifenoper im Fernsehen ansah, sagt Sakreun Mean. Die Frau wurde zwar verurteilt, aber einflussreiche Freunde in der Politik und bei der Polizei verhinderten, dass das Urteil vollstreckt wurde. “Ich habe mit der Justiz gekämpft.” Auf ihrem Gesicht deutet sich ein Lächeln an. “Für meine Kinder!” Sie möchte, dass die mal auf eine gute Schule gehen. Erst 2009 kam die Täterin ins Gefängnis, fünf Jahre soll sie absitzen; Sakreun Mean wurden 2600 Dollar Schmerzensgeld zugesprochen. Nachdem sie zu Ende erzählt hat, steht sie auf und geht zur Wand gegenüber aus rohen Ziegelsteinen, tastet sich zu dem Jutesack vor und kramt ein altes schwarzweißes Foto hervor. Eine attraktive Frau ist darauf zu sehen, die den Betrachter anlächelt, die Haare hochfrisiert, das Gesicht geschminkt, Ohrringe. „So schön war ich einmal“, sagt sie, lässt ihre Finger über das Bild gleiten. Dann bricht ihre Stimme.

Die kambodschanische Gesellschaft hetzt, die verlorenen Jahre des Krieges und des Völkermordes sucht sie zu verdrängen, will Anschluss an die Zukunft finden. Für Opfer von Säureangriffen fehlt meist Zeit, Geld und ausgebildetes Personal. Deswegen gibt nur einen Ort in Kambodscha, wo ihnen geholfen wird, wo die körperlichen und seelischen Narben behandelt werden. Wo man die Überlebenden als Menschen und nicht als Monster sieht. Das Cambodian Acid Survivor Charity (CASC) liegt ein paar Kilometer außerhalb von Phnom Penh an einer staubigen Ausfallstraße, zwischen Tamarindenbäumen und Kokospalmen. Hier versucht man, die Bewohner auf ein Leben im toten Winkel der Gesellschaft vorzubereiten.

Auf schattigen Terrassen sitzen blinde Frauen, Narben am Körper und auf der Seele, singen traurige Lieder oder häkeln Geldbeutel und Umhängetaschen, die sie an Besucher verkaufen. Ein Mann, der sich als Mister Bonarith vorstellt, komponiert auf einem Keyboard Lieder. Sein vernarbtes Gesicht versteckt er hinter einer dunklen Sonnenbrille.

Doktor Honng Lairapo ist der einzige Arzt hier. Der 44-Jährige, von allen nur Doktor Rapo gerufen, ist die gute Hausfee; geduldig, mit sanfter Stimme und weichen Händen. Hunderte hat er schon behandelt. Erst am Morgen stand ein 16-jähriger Junge mit vernarbtem Rücken und Nacken vor dem Tor der Organisation und bat um Hilfe. Jetzt liegt er auf einem Bett, ein Deckenventilator verquirlt die heiße Luft, eine Krankenschwester massiert verhärtetes Gewebe und schmiert Vaseline auf schlecht verheilte Wunden. Der Junge starrt aus leeren Augen an die Wand, rührt sich nicht und sagt kein Wort. Doktor Rapo setzt sich neben ihn, flüstert ihm ein paar Worte auf Khmer ins Ohr, streicht ihm durch das Haar und geht weiter zum nächsten Patienten. Er kenne das, sagt er. Am Anfang flüchten sich alle in einen Kokon aus Schweigen und Scham. Es dauere, bis sie sich öffnen, erzählen, was ihnen widerfahren ist. Wer die Täter waren. Doktor Rapo hat Zeit. „Wir Kambodschaner haben nie gelernt, unsere Probleme aufzuarbeiten. Viele Menschen meinen, es gibt nur eine Lösung: Gewalt!“

CASC beschäftigt Doktor Rapo und einige Krankenschwestern, die sich um die körperlichen Wunden kümmern, Psychologen für die seelischen. Und Anwälte, die den Opfern dabei helfen, die Täter anzuklagen und, mit Geduld und Glück, ihr Recht zugesprochen bekommen. „Wir müssen Zeichen setzen“, sagt Doktor Rapo. „Die einzige Abschreckung für Täter ist, wenn sie wissen, dass sie für ihre Taten verurteilt werden.“ Das ist bislang nicht der Fall; so versuchen CASC-Mitarbeiter die kambodschanische Regierung davon zu überzeugen, endlich ein Gesetz zu erlassen, das Säureangriffe unter Strafe stellt – „auf die gleiche Stufe wie Mord.“ Denn jedes Jahr gebe es mehr Angriffe.

„Wir wollen unsere Gäste auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereiten, ohne abhängig von anderen sein zu müssen“, sagt Doktor Rapo. „Wenn sie Hilfe benötigen, können sie zu uns kommen. Dann helfen wir ihnen.“ Hier bekommen Leute wie Sakreun Mean oder Mister Bonarith eine warme Mahlzeit: Soja Milch, hartgekochte Eier, Reis, Gemüse, ein bisschen Fleisch. Hier können sie über ihr Leben plaudern, ihre Probleme, ihre Sorgen, ohne Angst haben zu müssen, dass man sie dafür auslacht oder mit dem Finger auf sie zeigt. Manche sitzen den ganzen Tag an einem Teich im Garten und lauschen dem Gackern der Hühner und den Fischen, die aus dem Wasser springen, bei der Jagd nach Insekten. Fünf Holzhütten auf Stelzen stehen den Patienten zur Verfügung, in denen sie wohnen können, so lange sie möchten. Im Augenblick sind sie alle belegt.

Doktor Rapo hat sie alle behandelt. Sakreun Mean, die so lange für ihr Recht gekämpft hat. Die 36-jährige Cheav Cheanda und ihre sechs Jahre alte Tochter Socheata Bun, die nun mittellos am Rande einer Müllkippe von Phnom Penh leben, weil die Geliebte des Familienvaters beiden Säure ins Gesicht kippte. Oder der halbblinde Sok Thy, 50, der seine Familie als Bettler vor der Völkermordgedenkstätte Tuol Sleng durchbringt, wo ihm geschockte Touristen ein paar Dollarnoten zustecken, oder als Motorradtaxifahrer. Und Srey On, die langsam ihre Tochter verliert.

Die Abendsonne taucht Kambodscha in goldene Farben, alte Männer und Frauen sitzen auf verrosteten Stühlen am Straßenrand und kauen Betelnüsse, als ein CASC-Fahrer Srey On nach dem Besuch bei ihrer Tochter Naomi in einer Motorrikscha vorbei bringt. Sie hat sich ihren Krama um ihr geschundenes Gesicht gewickelt, ihr Kopf wackelt. Da bricht ein Krächzen aus ihr hervor, ein tränenloses Weinen. Ein paar Studenten der Universität in Phnom Penh, Freiwillige, die bei CASC aushelfen, versuchen die Frau zu beruhigen. Nach einer Weile flüstert sie den Grund mit heiserer Stimme: Naomi nennt ihre Tante, bei der sie lebt, nun Mutter.