Zeitenspiegel Reportagen

Flucht unter Wasser

Erschienen in "Neon", 09/2011

Von Autor Carsten Stormer

Erst wurden sie von Fischern gejagt. Dann von Tierschützern zur Sensation erklärt. Jetzt schwimmen die philippinischen Walhaie vor Ökotouristen davon.

Bevor wir in das Boot steigen, bekreuzigen sich die Männer, murmeln ein Stoßgebet übers Meer und bitten darum, dass es ein guter Tag werden möge. Nicht, weil es Anlass zur Sorge gäbe. Das Meer ist ruhig und glatt, es spannt sich wie ein Tuch aus Blei bis an den Horizont. Kein Wind, manchmal bricht die Sonne durch die Wolken. Ideales Wetter. Haiwetter. Es riecht nach Salz und nassen Holzplanken. Der Kapitän wirft den Motor an, er schiebt sich eine Zigarette in den Mund und lässt sie von einem Winkel zum anderen wandern. Dann heißt es Warten.

Ich bin aufgeregt wie vor dem ersten Sex. Ich überprüfe drei, vier Mal die Schnorchelausrüstung, meine Finger trommeln auf zittrigen Knie, ich starre unentwegt aufs Meer, irgendwo dort draußen ragt doch bestimmt eine Rückenflosse aus dem Wasser. Ich bibbere vor Vorfreude, denn ich habe eine Verabredung mit dem größten Meeresfisch der Ozeane, ein Gigant mit dem Namen Rhincodon typus, dem Walhai. Oder Butanding, wie die Filipinos den Hai nennen. Ein Wunder der Natur, groß wie ein Haus, lang wie ein Abteil der S-Bahn und schwer wie ein Tanklastwagen. Bis zu vierzehn Meter lang und zwölf Tonnen schwer können diese Viecher werden. Ich bin 180 cm lang und 75 Kilo schwer und damit eigentlich kein ernstzunehmender Gegner. Dabei gibt es nichts zu befürchten, rede ich mir ein, und erinnere mich an das, was ich über den Walhai gelesen habe: groß, schon klar. Planktonfresser, damit für den Menschen ungefährlich, absolut harmlos, ein Hamster ist gefährlicher.

Seit einer halben Stunde dümpeln wir über den Pazifik, fahren immer weiter hinaus, Kilometer um Kilometer. Am Horizont schiebt sich der Kegel des Vulkans Mount Mayon in den Himmel und bläst weiße Rauchkringel aus seinem Krater, Delphine ziehen vorbei. Mit mir an Bord sind drei Späher, die nach Walhaien Ausschau halten, der Bootsführer und Reynan Tarog, der Butanding Information Officer (BIO), mein Guide und Aufpasser, damit ich nicht in einem Anfall von Überschwänglichkeit gegen die Regeln zum Schutz des Fisches verstoße. Ein Späher steht am Bug, die anderen beiden hängen in der Takelage und in den Aufbauten des Bootes, ihre Augen sind aufs Meer fixiert, wandern hin und her wie Scanner, registrieren kleinste Veränderungen an der Oberfläche, lesen darin, wie Wahrsager aus Handflächen.

Plötzlich gleitet ein Schatten am Boot vorbei, vielleicht neun oder zehn Meter lang, schwer zu schätzen. Eine Rückenflosse durchbricht das Wasser, taucht wieder ab, für einen kurzen Augenblick muss ich an den Film Der Weiße Hai denken und schüttele den Gedanken schnell wieder ab wie eine lästige Fliege. „Butanding! Butanding“, ruft der Mann am Bug, und ich zurre mir meine Tauchermaske übers Gesicht, presse meine Füße in Flossen und hüpfe ins Meer für die Begegnung von Mensch und Hai.

Und sehe erstmal: nichts.

Ich blicke in eine grüne trübe Welt, die Sicht beträgt vielleicht einen Meter, eher weniger. Ich komme mir vor wie in einem Aquarium, dessen Sauerstoffzufuhr abgestellt ist. Hektisch blicke ich mich um, links, rechts, links, rechts. Nichts, nur eine Mauer aus Plankton. Ich atme schneller, Salzwasser läuft in meinen Schnorchel. Jetzt spielt ein unsichtbares Orchester in meinem Kopf die Titelmelodie des Films. Etwas umfasst meinen Knöchel, zerrt daran und ich spucke vor Schreck meinen Schnorchel aus. Es ist nur Raynan, mein Guide. Er grinst mich breit an und zeigt mit dem Finger nach unten, mein Blick folgt ihm, und dann setzt meine Atmung für ein paar Sekunden aus. Unter mir schält sich eine Zweizimmerwohnung aus dem grünen Nebel, ich erkenne graue Punkte, eine Rückenflosse, das enorme Maul, das sich gleichmäßig öffnet und schließt und Plankton in den riesigen Körper pumpt. Ich schwimme direkt über dem Walhai, so dicht, dass die Schwanzflosse meine Wade streichelt; es fühlt sich an wie Schmirgelpapier. Ein irres Gefühl aus Glück, Bewunderung und Respekt vor diesem Wunder der Natur. Adrenalin und Endorphine rasen durch meine Venen, der Kopf wird leicht. Ich tauche ab, schwimme keine zwanzig Zentimeter neben dem Hai, blicke ihm in die Augen. Der Drang, den Fisch zu berühren ist beinahe unwiderstehlich. Zwanzig Minuten paddele ich neben dem Walhai, dann verlassen mich meine Kräfte. Einer der Späher zieht mich ins Boot, dann machen wir uns auf die Suche nach dem nächsten Walhai.

Das kleine Städtchen Donsol in der armen Provinz Bicol auf den Philippinen ist von einem Fischerdorf zu einem Mekka für Walhaibeobachter mutiert. Von der Hauptstadt Manila aus braucht man fünfzig Minuten mit dem Flugzeug und eineinhalb Stunden mit dem Minibus. Ein verschlafenes Nest, umrahmt von Reisfeldern und grünen Hügeln, 36.000 Einwohner, ein paar Kirchen, ein schmaler Streifen schwarzer Strand, kaum mehr los. Butandings gab es in den planktonreichen Gewässern von Donsol schon immer, und Reynan erzählt mir davon, wie er als Kind auf dem Rücken der Fische ritt und dass die Haut der Haie an den Oberschenkeln scheuert. Er hat einen Traum, sagt er: den Walhai zu schützen, denn Fisch und Mensch, so glaubt er, sind für ihr Überleben aufeinander angewiesen. Das klingt gut, war aber nicht immer so. Früher waren die Fischer der größte Feind des Walhais, man jagte den Großhai mit Speer, Stechhaken, Zyanid oder Dynamit – aus Angst und Unwissen, weil man den Planktonfresser für gefährlich hielt, weil er Netze oder Schiffsschrauben zerstörte, oder aus dem Irrglauben, der Hai fresse alle Fische auf. Und aus Gier: Außerhalb der Philippinen erzielen Flossen, Fleisch und Haut des Haies hohe Preise. Die Flossen gelten als Delikatesse und Potenzsteigerungsmittel. Der Rest des Tieres endet als Fischbällchen oder Suppeneinlage. Jedes Jahr wurden dutzende Fische getötet. Bis sich 1998 alles änderte. Damals filmte der Tauchlehrer Romir Aglugub Walhaie vor Donsol und demonstrierte einem breiten Publikum, wie friedlich die Haise sind. Philippinische Medien und der Tierschutzbund World Wildlife Fund (WWF) nahmen sich des Themas an – und veränderten das Leben der Fischer, der Kleinstadt und des Fisches. So viel PR und Aufregung um einen Fisch konnte auch die philippinische Regierung nicht ignorieren, sie erließ 1998, gegen den Protest einiger Fischer, die auf ihre traditionellen Fangrechte verwiesen, ein Gesetz zum besonderen Schutz des Walhais. Denn das Tier ist vom Aussterben bedroht. Erst mit 30 Jahren wird der Walhai geschlechtsreif. Das Gesetz verbietet seinen Fang, den Ver- und Ankauf sowie Transport des Fleisches. Die meisten halten sich daran; nur einige philippinische Politiker und reiche Familien bestechen die lokalen Behörden, damit ihre Schlepper das Meer unbehelligt leer fischen können. Donsol nennt sich heute “whale shark capital of the world”. Am Ortseingang grüßt ein Walhai aus Pappmaché, die meisten Dorfbewohner leben heute vom Hai-Tourismus. Mauern zieren Butanding-Grafitti, und einmal im Jahr feiern die Menschen mit selbstgebastelten Walhaiatrappen tagelang zu Ehren des Fisches Fiesta. Die Einbindung der Fischer in den Tourismus und die sich hieraus ergebenden Einkommensquellen sollen den Fortbestand der gefährdeten Tiere sichern. Der Umgang mit Touristen ist allerdings noch ein wenig unbeholfen, die Fischer müssen sich in ihre neue Rolle als Tauchführer, Spotter, Souvenirverkäufer, Kellner, Restaurant- oder Hotelbesitzer erst noch einleben. Nicht immer bekommt man, was man bestellt hat. Der nächste Geldautomat ist zwanzig Kilometer entfernt.

Bisher kann niemand so richtig erklären, warum die Haie die Nähe des Menschen dulden, aber sie kommen Jahr für Jahr wieder in die planktonreichen Gewässer. Es ist, als ob Fisch und Mensch einen Pakt geschlossen hätten. Jedes Jahr kommen jetzt Zehntausende, um mit Walhaien zu schwimmen. Im vergangenen Jahr waren es 24.231 Besucher.

Gut für die Menschen, schlecht für den Fisch. Mit den Touristen steigt auch die Verantwortung gegenüber dem Hai, aber Verantwortung wird im Augenblick mit Profitgier vertauscht. Der Mensch hält sich nicht mehr an die Abmachung. Es sind zu viele Besucher, die unkontrolliert in den Lebensraum des Hais einfallen. Angebot und Nachfrage sind aus der Balance geraten. Jedes Jahr kommen weniger Walhaie in die Bucht von Donsol. Bis zur vergangenen Saison drehten sich Touristengespräche in Donsol nicht um die Frage, ob man einen Walhai gesehen hat, sondern wie viele. Die Begegnung mit den sanften Riesen ist streng reguliert, ein Boot pro Fisch, maximal sechs Schnorchler und niemals mehr als dreißig Boote auf einmal im Meer. So weit die Theorie.

Die Realität sieht anders aus. Wie bei so vielen gut gemeinten Gesetzen in den Philippinen hapert es auch in Donsol an deren Umsetzung. Niemand kümmert sich Einhaltung der Regeln. Reynand Tarog, mein Guide, gehört zu jener Minderheit, die zwar vom Haitourismus profitiert, aber dessen Entwicklung mit Sorge verfolgt. Früher war er Fischer, heute schwimmt er während der Hochsaison von Dezember bis Mai mit Touristen durch den Pazifik auf der Suche nach Butandings – und kann davon ganz gut leben. Sechshundert Pesos erhält er pro Tour, umgerechnet zehn Euro. In seiner Freizeit arbeitet er ehrenamtlich für den WWF und stemmt selbstgebaute Gewichte in seinem Garten. Reynand Tarog ist ein scheuer Riese, Stiernacken, ein Kreuz so breit wie eine Schrankwand und enormer Bizeps. Ein stiller, nachdenklicher Herkules, dreißig Jahre alt – und so, wie die Dinge derzeit in Donsol laufen, man kann es nicht anders sagen, findet er beschissen. Denn es gebe zu viele Touristen für immer weniger Haie. „Den Leuten geht es nur um den Profit, die Butandings sind ihnen egal“, murmelt er. Seit zwei Stunden schippern wir über den Ozean, und seit unserer ersten Begegnung haben wir keinen weiteren Hai gesehen. Was Reynands Theorie bestätigt, dass der Tourismus den Lebensraum und die Gewohnheiten der Fische stört. Es beginnt zu regnen, die See wird rauer, Wellen schwappen ins Boot. Das Wetterphänomen La Niña hat die Region um Donsol fest im Griff. Seit drei Monaten regnet es fast ununterbrochen, obwohl eigentlich Trockenzeit herrscht.

Wir klappern die Gewässer entlang der Küste ab, vor denen einst Ferdinand Magellan segelte. Erfolglos. Reynan erzählt, dass hier früher Dutzende Butandings schwammen. Nach einer Weile sehen wir in der Ferne einen Pulk Boote. Es hat den Anschein, als ob sie um die Wette fahren. Sie pflügen im Zick Zack durchs Wasser, kreuzen, schneiden sich gegenseitig den Weg ab. Fünfzehn Boote zähle ich, als wir näher kommen. Im Wasser hetzen 42 Schnorchler einen Walhai durchs Plankton. Sie kicken sich gegenseitig ihre Flossen ins Gesicht, schwimmen übereinander weg, drücken andere Schwimmer unter Wasser. Eine philippinische Touristin heult im Meer, während sich ein deutscher Tourist im Wasser mit ihrem Ehemann prügelt. Und ständig kommen neue Boote hinzu, die ihre Menschenfracht ins Meer abladen.

„Hui“, ruft Reynan den anderen Guides zu. „Was macht ihr dort? Es ist nur ein Boot pro Butanding erlaubt.“ Keine Reaktion. Reynan ruft lauter, so lange, bis er eine Antwort bekommt. „Was willst Du denn? Du hast uns gar nichts zu sagen“, ruft ihm jemand von einem der Boote entgegen. Reynan zuckt mit den Schultern, setzt sich missmutig an den Bug und gibt dem Kapitän ein Zeichen, weiterzufahren. Dann vergräbt er die Stirn in seinen Pranken. „Die Walhaie sind jetzt schon verstört. Wir müssen ihn schützen.“ Aber er weiß, so lange jedes Jahr mehr Touristen in Donsol einfallen, wird das schwierig werden. Reynans Leben ähnelt den Gezeiten des Meeres, der Pegel des Glücks hebt sich, wenn die Touristen kommen, weil sie sein Einkommen sichern; und es senkt sich schnell wieder, wenn er dessen Auswüchse sieht. Nicht überall, wo Okötourismus draufsteht, ist Ökotourismus drin.

Im Touristenbüro sind die Mitarbeiter offiziell dafür verantwortlich, dass die Regeln zum Schutz der Walhaie eingehalten werden. Aber zuständig fühlt sich hier niemand. Am Eingang drängen sich einheimische und internationale Touristen. Einige klagen, dass sie den Anblick ihres Butanding mit anderen Besuchern teilen mussten und fordern ihr Geld zurück. Diejenigen, die ihren ersten Hai gesehen haben, sehen aus wie Hippies nach einem guten Joint. Im Fernseher läuft ein Video über verantwortungsvolles Schwimmen mit den Walhaien, aber kaum jemand sieht hin. Und die Touristenpolizei führt die beiden Streithähne ab, die sich eben im Wasser gekloppt haben. Nenita Pedragosa, die oberste Aufpasserin der Tourismusbehörde, hat sich seit Tagen nicht in ihrem Büro blicken lassen, Anrufe und Textnachrichten ignoriert sie wie die Eule das Tageslicht. Ja, natürlich, man tue alles, um die Butandings zu beschützen, stottert ein Stellvertreter. Aber man könne ja nicht jedes Boot kontrollieren, das soll man doch bitte verstehen. Noch Fragen?

Herrje, nur eine: Wie lange werden sich die Fische den Stress mit den Menschen noch antun, bis sie weiterziehen? Drei Tage schippern wir durch den Pazifik, und jeden Tag sehen wir das gleiche Spektakel: Eine Touristenmeute, die mit ihren Sofortbildunterwasserkameras den wenigen Walhaien vor der Küste hinterher wetzen. Reynan Tarog ist ein Gefangener seines Gewissens. O ja, er könnte petzen, Bootsführer und Guides verpfeifen; aber dann stünde er in der Stadt als Verräter da. „Das ist auch keine Lösung.“ Er hält sich am Bootsrand fest. Wir fahren immer weiter hinaus aufs Meer und schwimmen mit vier weiteren Butandings. Doch in die Freude mischt sich ein schaler Beigeschmack. Es ist ein bisschen wie bei dem Mann, der lange eine schöne Frau begehrte und jetzt, da er sie verführt hat, von ihr enttäuscht ist. Reynan Tarog steht am Bug und scannt den Meeresspiegel nach Flossen ab. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Mensch die Butandings aus Donsol vertrieben hat“, sagt er, während vor dem Boot ein siebenmeterlanges Walhaiweibchen auftaucht. „Genieß es, so lange es noch möglich ist.“ Dann setzen wir die Taucherbrillen auf und springen ins Wasser.