Zeitenspiegel Reportagen

Fürs Leben bestraft

Erschienen in "Frankfurter Rundschau", 18. Mai 2009

Von Autor Jan Rübel

Ronni wurde abgeschoben nach Uganda – und träumt von Berlin. Als Flüchtlingskind war er nach Deutschland gekommen. Er fühlte sich heimisch und bat um Asyl. Dann vergewaltigte er ein Mädchen.

Natürlich kann er wieder nicht schlafen. Wenn sich die Nacht über Nateete legt und Häuser und Hütten schluckt, verliert sich Ronni, 22, im Nichts. Die Dunkelheit ist längst nicht mehr sein Freund, dann kommen die Gedanken. Ronni nimmt einen Plastikstuhl unter den Arm und läuft los, vorbei an Bananenstauden und Eukalyptusbäumen, entlang der Leuchtkäfer am Rand und den Trampelpfad hinauf bis zur Hügelspitze. “Was kosten die Sterne?”, fragt Ronni und lacht. Er greift jetzt nach ihnen in die schwere Luft, unter ihm die Lichter der ugandischen Millionenstadt Kampala und ihres Ausläufers Nateete. “Wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder daheim in Berlin. Mann, bin ich jetzt hier oder dort?”

Schon lange hat Ronni kein Deutsch mehr gesprochen. Heute aber hat er berlinert, als müsste er in wenigen Stunden die Vergangenheit nachholen. Bei unserem letzten Gespräch am 6. Januar 2008, einem der letzten Tage seiner Abschiebehaft in Berlin, hatte er in den Telefonhörer gerufen. “Bleib kurz dran.”

Im Hintergrund fragte Ronni einen Gefängniswärter: “Wann fliege ich?”

“Am 8. fliegen Sie. Sie werden abgeholt morgen.”

“Okay, alles klar, danke.”

Dann wieder in den Hörer: “Puh, hast du gehört?” Am nächsten Tag holten sie ihn ab.

Ronni L.’s Leben in Deutschland endete mit dem KLM-Flug 1822 nach Entebbe über Amsterdam. Es hatte begonnen, als er aus Uganda fliehen musste, da war er fünf Jahre alt. Gemeinsam mit drei Schwestern und einem Bruder erreichte er 1993 Berlin. Ihre Tante, die sie an Stelle der Eltern begleitete, starb zwei Wochen später an Malaria. Alle fünf Kinder kamen ins Heim.

In Uganda hatten sie ihre todkranke Mutter zurückgelassen. Der Vater starb im Gefängnis. Einst im Präsidialbüro des Diktators Idi Amin tätig, hatte er sich später der Opposition angeschlossen. Soldaten plünderten das Haus der Familie und vergewaltigten zwei Schwestern; eine verblutete dabei. In Deutschland beantragten die fünf Geschwister politisches Asyl. Das Bundesamt lehnte ab: “Der stereotypische und verallgemeinernde Sachvortrag…lässt bei der auffälligen Häufung angeblicher Zufälligkeiten begründete Zweifel aufkommen”, schrieb der Sachbearbeiter. Die Fünf klagten. Ein Urteil wurde über Jahre hinweg verschleppt.

“Mann, das war mir doch alles egal”, sagt Ronnie. Es wird eine lange Nacht im ugandischen Nateete. Ronni saugt an einem Strohhalm. Es riecht nach gemähtem Gras. Irgendwo ein Affenschrei. “In der Grundschule sang ich die deutsche Nationalhymne. Niemand sagte mir, es gebe für mich eine andere, eine Asylantenhymne.” Ronni ließ sich nicht viel sagen. Er war zehn Jahre alt, da passierte etwas. Ronni wollte stark sein, respektiert, gefürchtet. Aber oft war ihm schwer zumute, als sitze ein Alb auf seiner Brust. Ronni hatte damals schon eine schwere Persönlichkeitskrise. Er erkannte nicht seinen Weg und seinen Wert. Das riss an ihm.

Regeln benutzte Ronni, um sie zu brechen. Ihm passten nicht die Schlusszeiten im Heim, die Essenszeiten nicht und noch weniger die Putzpläne. Mit den Kindern verstand er sich gut, aber bei den Betreuern eckte er an. “Ich misstraute ihnen. Keine Liebe.”

Ronni springt jetzt auf. “Komm, lass uns spazieren gehen. Wenn ich laufe, kann ich besser sprechen.” Schnell geht Ronni, das tut er immer, so als treibe ihn etwas. Ganz gerade reckt sich sein schlanker, muskulöser Oberkörper beim Abstieg vom Hügel.

Ronni wechselte in Berlin die Heime, irgendwann schmiss ihn immer ein Betreuer raus. Zuhause fühlte er sich nirgendwo. Aber seine Wut wuchs, schnell regte er sich auf. Seine Strafakte wegen Prügeleien schwoll an. “Ich hatte viele Flausen”, sagt er. Die Ehre, das Ansehen. Beides erboxte er sich auf der Straße.

Ronni geriet auf die schiefe Bahn. Dann entdeckte er die Drogen. Im Märkischen Viertel in Berlin hatte Ronni mehrere “Läufer”, sie brachten Cannabis und Kokain für ihn unters Volk. Mehrere 1000 Euro verdiente Ronni so im Monat; er gab sie schnell wieder aus. Über seinen Status als “Ausländer” machte er sich keine Gedanken. Er fühlte sich deutsch. Was sonst?

Die Ausländerbehörde tickte anders. 2003 verweigerte sie eine Aufenthaltsbefugnis für Ronni und seine jüngere Schwester, weil beide keine Ausbildung machten, “so dass auf den Bezug von Sozialleistungen nicht…verzichtet werden können wird”. Seine Schwester besuchte das Gymnasium, daher stehe sie mit 14 Jahren “dem Ausbildungsmarkt vorerst nicht zur Verfügung”. Dann kam alles Schlag auf Schlag.

Am 19. Februar 2005 feierte Ronni seinen 18. Geburtstag. Zwei Monate später nahmen er und seine Geschwister die Asylklage zurück – ihre Betreuer erhofften sich für sie dadurch einen besseren Flüchtlingsstatus.

Einen Monat später drehte Ronni durch. Er vergewaltigte ein Mädchen, sie war 16 Jahre alt. Er nennt es nicht so, aber an seiner Grausamkeit ändert das nichts. “Die deponierte für mich Drogen”, erzählt er. “Und sie aß alles selbst auf.” Ronni hatte Kredit bei Großdealern aufgenommen, er wollte groß einsteigen in den Handel. Als Ronni bei dem Mädchen nach dem Zeug suchte, wurde er wütend. Sie habe angeboten, die Schuld abzuarbeiten, sagt er.

“Was du schilderst, bleibt eine Vergewaltigung.”

“Meine Güte, das war ein Deal von ihr.”

“Wusstest du wirklich nicht, was du getan hast?”

“Mann, damals war mir alles scheißegal, nur das Geld war mir wichtig.”

Das Mädchen sagte aus, die Schöffen verurteilten ihn zu zweieinhalb Jahren Jugendhaft. Sie waren überzeugt, dass Ronni das Mädchen mit Gewalt und Drohungen zum Geschlechtsverkehr gezwungen hat. Er saß seine Strafe in der Jugendstrafanstalt Plötzensee ab. Zum ersten Mal fühlte er sich ruhig.

Er machte im Gefängnis den erweiterten Hauptschulabschluss und einen Computerkurs. Erstmals unterzog er sich einer Psychotherapie, die tat ihm gut. Dass ihn eine Persönlichkeitskrise peinigte, erfuhr er erst da. Dann kam ein Brief mit dem Abschiebungsbescheid. Als er ihn las, fühlte er sich plötzlich hohl.

Über zwei Jahre Jugendhaft rechtfertigen die Abschiebung von Geduldeten. Seit der Einstellung seiner Asylklage war Ronni nur “geduldet”. So kam er nach den zweieinhalb Jahren hinter Gittern in Abschiebehaft. Die Begründung liest sich im Schreiben der Ausländerbehörde so: “L. ist offensichtlich auch weiterhin nicht gewillt, sich gesetzeskonform zu verhalten. So erklärte er auf Befragung am 19.09.05, dass er mit seiner Abschiebung nicht einverstanden ist.”

Jahrelang hatten sich Ronni und seine Geschwister bei der ugandischen Botschaft in Berlin um Papiere bemüht. Mit ihnen hätten sie ihren Aufenthalt gesichert. Zigmal hatten sie Briefe geschrieben oder in der Botschaft vorgesprochen. Stets hatten sich die Diplomaten geweigert, die Abstammung zu bestätigen, weil die Jugendlichen keine ugandische Sprache sprächen. Bei dieser Einschätzung bleibt die Botschaft bis heute – mit einer Ausnahme: Als Ronni einsaß, bestätigte eine Diplomatin Ronnis ugandische Staatsbürgerschaft. Hätte die Frau das nicht getan, hätten die deutschen Behörden Ronni nicht abschieben dürfen. Wohin auch? Denn all die Jahre galt er als staatenlos. Doch nun war der Weg frei.

Die beiden Polizeibeamten, die ihn beim Flug eskortierten, waren freundlich. Sie unterhielten sich mit ihm und scherzten, beim Zwischenstopp in Amsterdam spendierten sie Ronni ein Bier. In Entebbe aber musste er in eine Zelle, acht Quadratmeter groß, zusammen mit zwölf anderen Insassen und zwei Eimern, einem für Urin, einem für den Kot. Die Polizei in Uganda wusste nichts mit Ronni anzufangen. Sie steckte ihn in den Knast.

Es ist Mittag in Nateete, kühl, sonnenlos. Ronni schlendert über den Markt, er beginnt mit seinem Training. Er lernt, wie man einkauft in Uganda. “Was kosten die Kochbananen?”, fragt er. Die Antwort tippt die Verkäuferin in ihr Handy. Ronnies Englisch ist schlecht, und er muss lernen, mit Geld umzugehen. Im ugandischen Polizeigefängnis verbrachte Ronni zwei Wochen. Er erkrankte an Malaria, vertrug das Essen nicht und verstand niemanden. Eines Tages betrat Morris Kizito die Zelle. Er wurde Ronnis Erzieher. Der Mittvierziger hat große Hände und große Augen. “250 Schilling für fünf Stück? Zu teuer”, sagt Morris Kizito, den Ronni “Onkel” nennt. Er steht jetzt ganz nah hinter Ronni. Die Bananen bleiben liegen, das Geschäft kommt nicht zustande. Ronni macht immer, was Morris Kizito ihm sagt.

Ronnis Anwalt in Berlin hatte eine ugandische Menschenrechtsorganisation alarmiert. Doch auch die hatte keine Ahnung, was sie mit dem jungen Mann anstellen sollte. Ratlos fragten die Menschenrechtler herum – und landeten bei Morris Kizito, Gründer von “Mission after Custody” (MAC), einer ugandische Gefangenen-Selbsthilfegruppe. Ein Zusammenschluss von Ex-Häftlingen, die sich gegenseitig helfen. Verurteilte Straftäter tragen in Uganda ein noch schwereres Stigma als in Deutschland. Allein würden sie hier untergehen.

Gemeinsam mit drei anderen Ex-Häftlingen besucht Ronni nun Gefängnisse, verteilt Decken. Seine MAC-Mitstreiter klären dabei Insassen und Wärter über ihre Rechte auf, Ronni steht daneben und versteht kein Wort. Aber er hat ein Bett und Essen. Er lebt wie die anderen MAC-Leute mit Kizitos Familie in einem Rohbau mit Wellblechdach. Das Geld zur Fertigstellung seines Wohnhauses investierte Kizito in die Hilfsorganisation. Alle Arbeit hier ist ehrenamtlich. Ein bezahlter Job ist für Ronni nicht in Sicht.

Gestern Nachmittag hat Kizito Ronni in ein Fernsehstudio nach Kampala geschleppt. Da rappte Ronni auf Deutsch, über den Gefängnisalltag in Plötzensee und über die Straßen in Berlin. Und fragte, ob jemand seine Familie kennt. Schon dreimal war er im Fernsehen. Eine kleine Berühmtheit ist er mittlerweile in Uganda. Gemeldet hat sich aber keiner. Nur einmal kam eine Dorfdelegation aus dem Dschungel, die vier Männer wollten Ronni mitnehmen. Ihr Stammesältester könne mit Hilfe von Geistern Ronni zu seiner Familie bringen, sagten sie.

Und dann waren da noch diese Weißen. Vor einem Monat riefen zwei Deutschsprachige an. Sie hatten sich in einem Nobelhotel in Kampala eingemietet und riefen Ronni zu sich. Eine Woche lang hingen sie gemeinsam mit ihm ab, kauften Ronni Jeanshosen und Sportschuhe. Sie hätten gesagt, sie könnten ihn illegal wieder nach Deutschland bringen, erzählt er. Dann waren sie plötzlich verschwunden.

“Wer war das?”

“Keine Ahnung, was Krummes planten die.”

“Und, bleibst du sauber?” “Lass stecken”, sagt er müde. “Mir geht es dreckig genug.”

Zum Abschied packen Ronni, Kizito und die anderen eine Schachtel mit Kochbananen. “Die habe ich in Deutschland nie gegessen, gibt’s die dort?”, fragt Ronni. Regen trommelt auf das Wellblechdach über Kizitos Wohnzimmer. Am Holzofen in der Ecke wärmen sich drei MAC-Mitarbeiter. Beim nächsten Besuch, sagt Ronni, werde er einen zweiten Plastikstuhl besorgt haben, ganz bestimmt, für die Nacht auf dem Hügel. Denn die Sterne kosten nichts.