Haben oder Sein
Die Natur kann gruseln, wenn sie sich versteckt. In den Rücken bohrt sich der Blick eines einsamen Bussards, er sitzt auf einer Hängebirke, die größte Erhöhung in einem Meer aus Grün und Gelb, das wie Natur aussieht, sich aber in monotoner Ödnis verliert. Links reckt sich Mais einen halben Meter hoch, endlos in seinen Reihen auf dem Ruppiner Land. Rechts steht Weizen und in seiner Unermesslichkeit dem Counterpart gegenüber in nichts nach. Dazwischen eine mit der märkischen Sandbüchse gepuderte Straße, deren Braun kaum verrät, dass sie einst gepflastert war. Dieses Bild kennt nur drei Farben. Hier zwitschert kein Vogel, raschelt kein Getier – durch die Halme tost nur der Wind.
Landwirtschaft in Brandenburg verwandelt manche Landschaft in einen stumm dienenden Ort. Zweimal im Jahr kommen die Tieflader, dann ist Zahltag, sie spucken Traktoren und Mähdrescher aus. Entlang aufgegebener Höfe und Felder wächst hier in Wuthenow, ähnlich wie im Grain Belt oder Corn Belt der USA, Grün für die Biogasanlage, die einen halben Kilometer weiter leise surrt. Der Eigentümer all dessen: Deutsche Agrar Holding (DAH), laut Wikipedia „ein Unternehmen im Bereich der Agrarindustrie und der Energieerzeugung“ mit 20.000 Hektar im Grundbuch.
Die ostdeutsche Landwirtschaft denkt traditionell groß. Über Jahrhunderte von Gutsherren mit weiten Ländereien geprägt und in Zeiten der DDR zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zwangsvereint, musste sie sich nach dem Fall der Mauer neu erfinden. Bauern erhielten ihre Scholle zurück, manche bildeten wieder Genossenschaften, manche nicht. Und der Staat wurde Eigentümer von Land – das er seit 1992 über die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH (BVVG) verkaufte, in der Regel meistbietend; insgesamt 893 000 Hektar Agrarfläche und 598 000 Hektar Wald wurden so privatisiert. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts gab es 2020 etwa in Brandenburg 332 Betriebe mit 1000 und mehr Hektar; in den größeren Ländern Baden-Württemberg und Bayern sind es je fünf. Es kann konstruktiv wirken, wenn große Zusammenschlüsse auf Agrarökologie setzen; gerade in Ostdeutschland wurde der Bioboom durch große Betriebe losgetreten. Aber Flächenballung unter einem Hut führt auch zu Landschaften wie Wuthenow, wo Monotonie regiert. Dennoch, es tut sich was. Da Boden knapp ist, haben sich Dutzende Initiativen gegründet, die auf kreative Art versuchen, Land zu sichern – damit Bäuerinnen und Bauern es selbstbestimmt nutzen können, damit Dörfer und Höfe wieder näher zusammenrücken, damit sich die Kulturlandschaft mit Leben füllt.
150 Kilometer südöstlich, in Alt Tuchband im Oderbruch, erstreckt sich auf zehn Hektar eine Art Gegenstück zum Biogasbusiness Wuthenows. Ein hochgewachsener Mann wandert seinen Acker ab, mal tritt er auf , mal fährt seine Hand durch den Sand, als sei er ein Arzt, der den Zustand des Bodens untersucht. „Eigentlich stehen die Früchte gut“, murmelt Erz, 38, Bauer,, den Blick auf ein Kartoffelfeld. Gleich daneben wächst Hokkaido-Kürbis, links davon Weizen; eine andere Fläche ist gerade gemulcht. „Die Abwechslung sieht schöner aus“, sagt Johannes Erz, „außerdem reduziert sie das Risiko von Ernteausfällen durch zu wenige Niederschläge“. Seine Augen verengen sich, als sein Blick auf das Kartoffelgrün fällt. Das braune gestreifte Etwas an den Blättern, es sieht aus wie Bonbons, gefällt ihm nicht. „Kartoffelkäfer“, sagt Erz nur. Und: „Da muss ich später nochmal mit Neemazal ran“, ein biologisches Insektizid. Später? Die Sonne senkt sich bereits, aber die Mischung aus Bestimmtheit, Genugtuung und ein wenig Stolz über den eigenen Grund, auf dem er nun steht, funkelt in Erz‘ Gesicht weiter.
Das war nicht immer so. Das erste Mal sprachen wir mit ihm 2014, da waren er und seine spätere Frau Hannah auf der Suche nach einem Hof, beide ausgebildet und studiert im Landbau, aber ohne ein Grunderbe oder Kapital. „Zehn Hektar würden uns schon reichen“, hatte Johannes Erz damals gesagt. „Doch Land wird meist in größeren Zellen verkauft, da haben es Einsteiger schwer.“ 2014 hatte die BVVG noch 250 000 Hektar im Portfolio, aber von ihr bekam Familie Erz ihr Land nicht. „Wir suchten und suchten“, erinnern sie sich. Fündig wurden sie schließlich 2016 bei Immowelt, einem Onlineportal, das eine Hofstelle in Rathstock bewarb. „Die drei Gebäude interessierten uns nicht so sehr“, sagen Hannah und Johannes, „aber die Möglichkeit, zusammen mit ihnen auch zehn Hektar Boden zu erwerben“. Sie handelten einen Bankkredit aus und legten los. Ließen zwei der Gebäude, wie sie waren („gut im Schuss sind sie nicht, aber das kommt später“), und investierten in den Ackerbau. Und die BVVG? Erz schnaubt. „Man verliert das Vertrauen“, sagt er. Und nach einem weiteren Moment: „Man wartet halt nicht mehr auf die Politik.“ Das „man“ klingt distanziert und resigniert zugleich.
Noch sind rund 90 000 Hektar Grund und Boden im Besitz der BVVG. Sie sollen eigentlich nicht, wie viele der hunderttausenden Hektar zuvor, in die Hände eines industrialisierten Agrobusiness fallen; Schluss sollte mit der Beschreibung von „Landgrabbing“ in Ostdeutschland sein – ein Begriff, den man früher eher aus afrikanischen Ländern kannte, wo sich wenige Mächte Ländereien schlicht nehmen. Schließlich heißt es im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung: „Die BVVG-Flächen werden für Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen sowie Klima- und Artenschutz genutzt“. Geeinigt haben sich SPD, Grüne und FDP außerdem darauf: „Landwirtschaftlich genutzte Flächen werden vorrangig an nachhaltig beziehungsweise ökologisch wirtschaftende Betriebe verpachtet und nicht veräußert.“ Allerdings ist nun ein erbitterter Streit zwischen den einzelnen Ministerien entbrannt, von dem die Öffentlichkeit nur wenig erfährt. Noch im Mai hatte das Landwirtschaftsressort zufrieden einen Kompromiss zur konkreten Ausgestaltung verkündet – ausgehandelt auf Staatssekretärsebene zwischen den Bundesministerien für Finanzen, Umwelt und Landwirtschaft. Doch dann die plötzliche Kehrtwende: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) kassierte die Einigung, ohne die Gründe öffentlich zu nennen. Nun muss noch einmal bei Null begonnen werden. Auf Anfrage antwortet das Finanzministerium mit Standardsätzen: „Eine finale Einigung liegt noch nicht vor. Wir bitten um Verständnis, dass zwischenzeitlich keine weiteren Informationen mitgeteilt werden können.“
Viele Bäuerinnen und Bauern nehmen derweil ihr Schicksal in die eigene Hand. Familie Erz zum Beispiel ist der Regionalwert AG Berlin-Brandenburg beigetreten. Mithilfe von Bürgeraktien investiert das Netzwerk in regionale Betriebe entlang der gesamten Wertschöpfungskette – in Bauernhöfe, Lebensmittelhandwerk, Gastronomie. Mit diesem Eigenkapital wird die AG Miteigentümer der Betriebe – und diese zu Partnern. Erz sitzt im Aufsichtsrat der Regionalwert. „Noch haben wir selbst kein Geld in Anspruch genommen“, sagt er. „Aber einem Bauern in der Nachbarschaft ist so die Hofübernahme gelungen.“ Er selbst und seine Frau profitieren von den Ideen und Erfahrungen, die im Netzwerk kursieren. Darüber hinaus bindet sich der Hof Erz in die so genannte Solidarische Landwirtschaft ein. Über die „SoLaWi“ Speisegut beteiligen sich Privathaushalte mit monatlich gleichbleibenden Zahlungen an den Kosten des Betriebs, „das bedeutet für uns eine stabile Liquidität“, sagt Erz. Die Haushalte wiederum erhalten, was die Ernte bringt, zum Teil kommen sie sogar selbst, um mitzuernten. Verbrauch und Produktion rücken so zusammen.
Auf dem Weg zurück zum Hof färbt sich die Sonne rot. Müdigkeit huscht über das Gesicht von Johannes Erz. „Der Weg bis hierhin, zu unserem eigenen Land, war zu stressig“, sagt er. Er hat im Saatgutvertrieb gearbeitet und in der Bioberatung, bis er endlich beim Vollerwerb in der Landwirtschaft ankam. „Das würde ich nicht noch einmal so machen“, sagt er. Jetzt findet das, was er produziert, in Berlin dankbare Abnehmer. Familie Erz trotzt einem Trend. In ihrem Fall bleibt die Wertschöpfung bliebt in der Region und verschwindet nicht wie in Wuthenow mit den Tiefladern. Der Kauf landwirtschaftlicher Flächen muss behördlich genehmigt werden. Aber über Anteilskäufe an Agrarunternehmen wechseln Flächen indirekt den Eigentümer, ohne dass die Behörde davon erfährt. Eine Studie des Thünen-Instituts für Ländliche Räume schätzt, dass dies auf 21 Prozent aller erfassten Flächenverkäufe zutrifft. Nicht selten sitzen die Eigentümer ganz woanders als vor Ort. Und das führt dazu, dass die Großen immer größer werden und die Kleinen aufgeben müssen.
Manchmal aber rettet sich auch ein Großer hin zum Gemeinwohl. 160 Kilometer nördlich vom Bauernhof Erz drückt schwüle Luft hinab, doch regnen will es nicht. Auf einer alten Tafel steht in Kreide geschrieben: „Stall 1, Regenfallröhre, Dach undicht“, aber das muss warten, bei der Dürre in diesem Jahr gibt es andere Prioritäten. Heike Kühner strebt aus ihrem Büro, marschiert über den Hof in Rothenklempenow im Südosten Mecklenburg-Vorpommerns. „Nehmen wir morgen auch den Trecker mit?“ fragt ein Mitarbeiter sie im Vorbeigehen. Kühner, 34, kurze Funktionshose mit vielen Taschen, blaues Shirt, nimmt kurz die Brille ab. Die Ränder eines Feldes sollen beschnitten werden. „Ja, und den Rasenmäher brauchen wir auch“, erwidert sie. „Und schärf` bitte die Messer des Freischneiders.“
Kühner betreut als Co-Geschäftsführerin die Tierhaltung des Betriebs, über 300 Rinder halten sie hier; der Betrieb, Teil der Höfegemeinschaft Pommern,hat eine Fläche von 850 Hektar. Gekauft hat sie Bioboden, eine Genossenschaft, die sich dem ökologischen Landbau verschrieben hat. 2009 wurde sie von der GLS Bank und der GLS Treuhand gegründet – Ökolandwirte hatten sich an die GLS gewandt, weil ihre Böden drohten in die Hände von Spekulanten zu fallen. In die Bioboden-Genossenschaft kann jeder eintreten, über 6000 Mitglieder sind es mittlerweile. Sie kauft Boden, „sichert“ und verpachtet ihn – oder bewirtschaftet ihn selbst, wie hier in Rothenklempenow, wo gerade eine Menge passiert: Ein Bagger schafft Platz für Parkplätze, Tischler zimmern eine Holzterrasse und Kunden aus dem 631-Seelen-Dorf streben in den Hofladen. „Endlich gibt es hier ein Geschäft“, sagt eine Mittvierzigerin im Trenchcoat.
Bevor Bioboden den Hof 2013 übernahm, hatte ihn ein Landmaschinenhersteller bewirtschaftet, mit zwei Mitarbeitern vor Ort und den Rest per – Tieflader. Seitdem hat sich die Belegschaft vergrößert. Nur für das alte Tankhaus haben sie keine Verwendung, und auch der Güllepott, so groß wie ein Mehrfamilienhaus, steht ungenutzt da. „Wir brauchen diese Räumlichkeiten nicht, unsere Tiere sind ganzjährig draußen“, sagt Kühner. Agraringenieurin ist sie, mit Land gut arbeiten wolle sie, aber es auch besitzen? „Muss nicht. Mir kommt es mehr aufs Kreative an, aufs gute Machen.“
Noch einen Schritt weiter geht das so genannte Ackersyndikat. Dem dezentralen Solidarverbund selbstorganisierter Höfe geht es um konkrete Entprivatisierung, er handelt noch kollektivistischer. Hervorgegangen ist das Ackersyndikat aus dem Mietshäuser-Syndikat, das seit 1999 nicht kommerziell arbeitet und Häuser erwirbt, um sie zu vergesellschaften; inzwischen ist man an 174 Hausprojekten beteiligt. Wie funktioniert dieses Prinzip auf dem Acker? Ein Anruf bei Gesine Langlotz, die 27-Jährige hat gemeinsam mit Freundinnen und Freunden einen Hof in Thüringen übernommen, 0,7 Hektar, „aber wir hoffen, dass noch mehr dazukommt”, sagt sie. Für den Kauf haben sie und ihre Mitbesitz:innen sich viele kleine Kredite im Bekanntenkreis besorgt; den Direktgeberkreis erweitern sie ständig, etwa für Sanierung und weiteren Landkauf. Mit dem Ackersyndikat haben Langlotz & Co eine GmbH gegründet. 51 Prozent des Anteils hält die Hofgruppe, mit 49 Prozent sorgt das Ackersyndikat dafür, dass nicht verkauft werden kann. „Wer geht, der geht”, erklärt Langlotz das Konzept, nach dem Anteile nicht mitgenommen werden können, „und hat neben dem Hausbau ja auch trotzdem noch ein Leben gehabt.” Derzeit richten sie in Eigenarbeit die Wohnräume her, nächstes Jahr soll der Gemüseanbau starten. Läuft sowas spannungsfrei ab? Sie lacht. „Es ist wie in einer Ehe oder Partnerschaft, das ist auch Arbeit.”
Diese Hofgründung setzt einen Kontrapunkt. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Zahl der Höfe in Deutschland halbiert. Eine Analyse der DZ-Bank geht davon aus, dass es in Deutschland von den derzeit 267 000 Höfen in 20 Jahren nur noch 100 000 geben wird. Landwirtschaft ist, gemessen an den Umsätzen, kapitalintensiv. Investitionen sind für die Kleinen schwerer zu stemmen. Hinzu kommen Nachfolgeprobleme und in die Höhe schnellenden Bodenpreise: In Ostdeutschland haben sie sich zwischen 2009 und 2019 um 174 Prozent erhöht; da ist die wachsende Weltbevölkerung, der steigende Bedarf nach tierischen Produkten und deren Futter, niedriger Zinsertrag woanders. Außerdem wird Deutschland zersiedelt: Seit der Jahrhundertwende schrumpfte die Agrarfläche um 1,5 Millionen Hektar, das entspricht der Größe Schleswig-Holsteins. Das Land ging dahin für Siedlungen und Autobahnen, aber auch Windparks und Naturschutzgebiete. Auch als Spekulationsobjekt lohnt sich Boden, weil er selbst nach der jüngsten Agrarreform noch immer reichlich von der EU subventioniert wird – mit einer Flächenprämie im Schnitt zwischen 271 und 276 Euro je Hektar. 191 Empfänger erhielten mehr als eine Million Euro; allein für den Besitz streicht zum Beispiel das Agrobusiness der Aldi-Familie jährlich allein 3,1 Millionen Euro ein. 99,6 Prozent der übrigen Antragsteller hingegen erhalten aus Brüssel weniger als 300 000 Euro an Direktzahlungen.
Über Jahre hinweg weder gewachsen noch geschrumpft ist das Ökodorf Brodowin, 75 Kilometer nördlich von Berlin gelegen. Die Bauern der ehemaligen LPG hatten sich Anfang der Neunziger gefragt, wie sie wohl überleben könnten, die Arbeitsplätze sichern. Die BVVG hatte hier kaum Fläche, die Landwirte konnten also freier entscheiden, weil keinen Flächen drohte, verkauft zu werden. Sie wollten biologisch wirtschaften, auch wenn das viel personalintensiver ist. 1400 Hektar legten die Brodowiner Bauern zusammen, aber sie wussten: Allein kriegen wir die Transformation nicht hin. „Hat jemand von euch schon mal echte Biovollmilch getrunken?“, fragt eine Mitarbeiterin fünf Jungen einer Schulklasse aus Bernau, sie stehen vor der gläsernen Molkerei. Rund 100 000 Besucher zählt der offene Hof im Jahr. „Nee“, sagen vier. Der Fünfte: „Doch, einmal mit Schoko.“
Aus dem Stall röhrt es lang. Ein Dreivierteljahr haben die Jungkühe mit einem Bullen im Stall gestanden. Nun trächtig sollen sie für die kommenden Monate ins Freie. Sie scharren mit den Hufen, merken, was gleich passiert. Eine schaut mit dem Kopf raus, zieht ihn rasch zurück. In den Neunzigern bekamen die Bauern von Brodowin Hilfe von einem Westberliner Unternehmerpaar. Die Eheleute Upmeier wollten Sinnvolles tun, helfen, ohne etwas aufzustülpen. Sie investierten Millionen in den Betrieb, er stabilisierte sich als ökologische Hofgemeinschaft. „Es gab viele Upmeiers in Ostdeutschland, aber daraus entstanden andere Betriebsstrukturen“, sagt Ludolf von Maltzan, 60,, mit Blick auf „Wessis“, die im Osten auf Agrobusiness mit Monokulturen setzten. Der Geschäftsführer setzt sich an einen runden Holztisch, zum Gespräch. Der Betrieb hat Strahlkraft, bindet Arbeitskräfte und Kunden und der Region, im Laden kauft immer jemand ein. „Es gibt eine neue Entwicklung“, sagt von Maltzan, „die Leute besinnen sich mehr auf lokale Produkte, auf ihre Region“. In Brodowin finden sie dafür einen Ort – in einem Land, in dem viele kleine Läden, Metzgereien und traditionelles Handwerk die Jahrtausendwende nicht überlebten. Das Modell Brodowin und sein Erfolg hat auch die benachbarte konventionell arbeitende Agrargenossenschaft Oderberg angezogen. Dort stand ein Generationenwechsel bevor – und die Oderberger haben Ende 2020 ihre 860 Hektar Boden dem Ökodorf Brodowin anvertraut, mit Hilfe der Genossenschaft Bioboden, die die Flächen kaufte und jetzt Brodowin verpachtet. „Die Oderberger dachten: Ich will weiterhin guten Gewissens durchs Dorf gehen können und nichts verhökert haben“, sagt von Maltzan. Er erzählt von Drückerkolonnen, die durchs Land ziehen und schnelles Geld für Boden bieten. „Die sagen: ‚In vier Wochen kriegst du die Euros‘“. Hinten im Stall muhen die Kühe jetzt lauter. An der Ladentheke steht ein Junge aus der Bernauer Schulklasse, er sagt: „Eine Flasche Bio-Vollmilch, bitte.“
Das Ehepaar Erz brauchte für ihre Unabhängigkeit lange Jahre, Gesine Langlotz macht sich gerade auf den Weg. Den Bauern Brodowins half ein Engel, und denen von Rothenklempenow eine ganze Genossenschaft. Sie alle mühen sich jeweils auf einem Stück Land, „unvermehrbar und unverzichtbar“, wie ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1967 den Boden beschrieb. Frei auf ihm zu sein, das fällt schwer. „Der Boden des Vaterlandes“, schrieb Cicero vor über 2000 Jahren, „sei allen teuer“. Doch was, wenn man ihn sich nicht leisten kann? Wenn Preis und Politik enge Grenzen setzen?
Sieben Gänse fliegen in einer Linie über den Stall. Endlich macht eine der Jungkühe die ersten Schritte raus, ins Freie. Sie dreht sich um, als würde sie mit den anderen reden. Zwei, drei Kühe folgen ihr, dann sind plötzlich 20 Rinder auf dem Hof. Staksen und stocken in der Weite, im grellen Licht. Plötzlich, wie auf ein stilles Kommando hin, rennen sie los, Erde spritzt auf, und Dutzende Hufe legen sich in wilden Galopp.