Zeitenspiegel Reportagen

Hexenjagd

Erschienen in "Amnesty Journal", 01/2011

Von Autor Carsten Stormer

In Papua Neuguinea glauben die Menschen an schwarze Magie und Hexen. Saguma nennen sie diesen Aberglauben. Hunderte fallen ihm jedes Jahr zum Opfer.

Bevor wir die Tote sehen, riechen wir sie. Seit drei Tagen verwest der Leichnam in den feucht-heißen Tagen des Hochlands. Waja Lokos geschundener Körper liegt auf einer stockfleckigen Matratze in einer Hütte, ihre striemenbedeckten Beine hängen über das Fußende, der Bauch ist aufgebläht. Ihre glasigen Augen ruhen auf dem Gesicht der Schwester. Die weint, während einer ihrer Söhne vergeblich versucht, mit einem Erfrischungsspray den Geruch des Todes zu verdrängen. Waja Loko, 55 Jahre alt, musste sterben, weil man sie für eine Hexe hielt. Ihr Vergehen: Sie soll einen jungen Mann aus der Nachbarschaft mit bösem Blick getötet haben.

Monica Paulus war gleich nach Goroka geeilt, als sie von dem Mord gehört hat, eine befreundete Nonne hatte sie angerufen. Die tote Hexe soll im dem Dorf Asarufa liegen, irgendwo dort unten im Tal, erzählte man ihr. Wir hasteten durch die Straßen von Goroka, einer kleinen Stadt im Hochland Papua Neuguineas, nur eine Flugstunde, aber ein gefühltes Jahrhundert von der Hauptstadt Port Morsby entfernt. Es ist acht Uhr morgens. Wir liefen in den Morgenstunden am Markt vorbei, auf dem die Menschen Betelnüsse und Gemüse verkaufen und überfüllte Kleintransporter Goroka mit dem Rest des Landes verbinden. Betrunkene Männer wankten uns entgegen und lallten „fuck you!“. Uve Loko mahnte uns, schneller zu gehen. „Die Mörder beobachten uns. Es ist nicht sicher hier!“, flüsterte er, sein Blick wanderte dabei unruhig über die Straße.

Papua Neuguinea ist eigentlich ein Paradies: Neben Indonesien, oberhalb von Australien, 6,3 Millionen Einwohner, achthundert Ethnien, rauchende Vulkane, reißende Flüsse, endloser Dschungel, hohe Berge. Paradiesvögel, Kopfjäger, Hairufer. Die Menschen sind warmherzig und freundlich. Die Uhren laufen langsamer hier. Erst in den letzten zwei Jahrhunderten von der Steinzeit in die Moderne katapultiert, ist das Land aber auch Schauplatz eines archaischen und blutrünstigen Aberglaubens. Die Menschen flüstern es: Saguma nennen sie den Glauben an schwarze Magie, böse Geister und Hexen. Hunderte Menschen werden jedes Jahr getötet, meistens Frauen, aber auch Kinder, manchmal Männer; weil man sie der Hexerei beschuldigt. Saguma ist die Schattenseite des Paradieses.

Uve Loko ist der Neffe der Toten. Er ist ein kräftiger Mann, 28 Jahre alt, mit schmutzverkrusteten Pranken, fauligen Zähnen und einer Häkelmützen in den Nationalfarben Neuguineas: schwarz, rot und gelb. An einem Friedhof bogen wir links ab, kletterten über einen Zaun, liefen durch Bananenplantagen, über Kassavafelder, kämpften uns durch Dickicht und Gestrüpp, blickten uns immer wieder um, ob uns jemand folgt, blieben stehen, lauschten. Durch die Üppigkeit drang das Wehklagen einer Trauerfeier. Am Ende eines Dschungelpfades standen zwei Hütten, die sich in den Schatten eines Baumes ducken.

Monica Paulus presst jetzt ein Taschentuch vor ihr Gesicht, um das Atmen erträglicher zu machen. Sie ist eine rundliche Frau mit kurz geschorenem Haar und traurigen Augen, 42 Jahre alt, und sie kennt den Anblick toter Frauen. Seit vier Jahren kämpft sie gegen den Irrglauben, zieht durch die Dörfer des Hochlands, spricht mit Überlebenden oder Familien von Opfern, schreibt ihre Geschichten auf, vermittelt Anwälte, versteckt vermeintliche Hexen bei sich zu Hause oder bei Freunden, hilft ihnen bei der Polizei gegen die Täter auszusagen oder bringt sie ins nächste Krankenhaus – und meistens bezahlt sie alles aus eigener Tasche. Manchmal arbeitet sie für die Vereinten Nationen als Übersetzerin, ansonsten verkauft sie Gemüse, das sie zu Hause anbaut. Sie hat nur wenige Verbündete: Mitarbeiter von Hilfsorganisationen oder der Vereinten Nationen, Menschenrechtler, Ärzte. Der Leiter der Mordkommission in ihrem Heimatort Kundiawa steht auf ihrer Seite, und ein Vetter von Pabst Johannes Paul II, der als Arzt Saguma-Opfer im Krankenhaus von Kundiawa kostenlos behandelt.

Wie viele Menschen der Aberglauben jedes Jahr tötet, kann niemand genau sagen. Menschen werden willkürlich stigmatisiert, gefoltert und getötet, weil sie angeblich mit schwarzer Magie oder bösem Blick den Tod eines Menschen verursacht oder eine Krankheit ins Dorf gehext haben sollen; Aids, Schwindsucht oder eine Blutvergiftung. Seitdem sich das Aidsvirus durch die Bevölkerung frisst, stieg auch die Anzahl der Saguma-Toten. Angebliche Hexen seien schuld an schlechten Ernten, Unfällen, Ehebruch, Diebstahl. Alles Unglück wird auf Saguma geschoben. Die Clans und Familien setzen sich dann zusammen und bestimmen, wer dafür büßen muss. Meistens sind es alleinstehende Frauen, Witwen, Kranke, Eigenbrötler, Menschen, die sich von der Gemeinschaft abwenden, Geisteskranke.

Inzwischen hat auch die Regierung das Problem erkannt und ein Gesetz gegen Hexenverfolgung erlassen. Lokale Zeitungen berichten inzwischen wöchentlich über Saguma-Morde, doch Statistiken gibt es nicht. Wer überlebt oder fliehen kann, der ist gebrandmarkt. Der Makel überträgt sich selbst auf die Kinder wie ein geerbter Fluch, und das Urteil macht vogelfrei. Ein Beschuldigter rechnet jederzeit mit dem Tod, egal, wo er sich versteckt. Sagumas willige Vollstrecker sind fast immer junge Männer, aufgepeitscht von Drogen, Alkohol und Aberglaube, arbeitslos und ungebildet.

So geschah es auch mit Waja Loko, der angeblichen Hexe von Asarufa. Als das Schreien vorbei war und die Männer von ihnen ließen, lag eine der gefesselten Frauen tot im Schlamm. Die Männer hockten sich auf den feuchten Boden und betrachteten ihr Werk. Stunden zuvor waren sie in das Dorf gekommen, um eine Schuld einzutreiben: Den Tod des Nachbarn zu sühnen, der vor zwei Wochen an einer sonderbaren Krankheit gestorben war. Niemand wusste, woran er starb, nur eines waren sie sich gewiss: Hexerei war im Spiel. Saguma!, lallten sich die Mörder zu, suchten eine Erklärung in schwarzer Magie. Saguma! Diese Nacht, hatten die Männer beschlossen, war Zahltag im Dorf Asaroufa. Jemand muss büßen.

Ihren Mut tranken sich die Männer flaschenweise an, rauchetn Marihuana und tanzten sich in Stimmung. Sie wankten den Pfad hinunter, wo die Frauen, die sie verurteilt hatten, in ihren Hütten schliefen. Mit jedem Schritt schaukelten sich die Männer mehr in Rage. Dann zerrten sie die drei Frauen aus ihren Hütten und banden sie an einen Baum, zwanzig, vielleicht dreißig Männer, die nach Schweiß, Betel und Fusel stanken. „Hexen, ihr seid Hexen“, schrien sie die Frauen an, spuckten ihnen ins Gesicht und verlangten mit Messern und Knüppeln ein Geständnis.

Und in all dieser Zeit kauerte Lakophi Loko in ihrer Hütte, hielt sich die Ohren zu und beobachtete durch ein Loch in der Wand, wie man ihre Schwester langsam tötete: Sie schlugen mit Stöcken zu, brachen Rippen, warfen Steine und rammten glühende Drähte unter die Haut der Gefesselten; sechs Stunden lang. Als die Frauen endlich gestehen, holt jemand die Axt aus dem Gebüsch. Waja Loko ist sofort tot, die beiden anderen Frauen entkommen, erzählt Lekaphi Loko. Sie ist eine kleine, schmale Frau, 65 Jahre alt und das Leben hat tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben. Sie kauert neben der Ermordeten und streichelt ihr die Wangen, massiert die Kopfhaut, als könnte sie ihre Schwester damit wieder zum Leben erwecken.

Eine der Frauen, die überlebten, soll sich in dem Dörfchen Kama verstecken, nicht weit von hier. Wo sich die dritte Frau aufhält, weiß niemand. Vielleicht ist sie tot, verblutet im Busch, vielleicht versteckt sie sich auch irgendwo. Monica Paulus bittet einen Verwandten von Waja Loko, sie nach Kama zu führen.

Rose Bob liegt auf einer Matratze und starrt ins Leere, der Mund ein Riss im Gesicht, die Arme hat sie um ihren Körper geschlungen; als hätte jemand sie in eine Zwangsjacke gesteckt. Ihr Rücken ist mit blauen Flecken und blutigen Striemen übersät. Ihr ganzer Körper ist ein Krisengebiet. Und als sie erzählt von diesem Abend vor drei Tagen, wird ihre Stimme dünner und dünner, bis sie zum Schluss kaum noch zu hören ist. Rose Bob ist 28 Jahre alt, und das Leben, das sie bis jetzt kannte, existiert nicht mehr. Wer sie beschuldigt hat, schwarze Magie auszuüben, weiß sie nicht, warum auch nicht. Ihr neues Leben wird darin bestehen, sich zu verstecken. „Sie werden mich finden und umbringen“, sagt sie, ihre Stimme überschlägt sich, Tränen laufen die Wangen herunter.

Als man ihr die Fesseln durchtrennte, um sie zu ermorden, rannte Rose Bob in den anbrechenden Tag, erzählt sie. Sie blickte sich nicht um, läuft, bis sie nicht mehr kann, versteckte sich im Gebüsch. Aber niemand folgte ihr. Jetzt verkriecht sie sich hier im Dörfchen Kama, eine Ansammlung aus windschiefen Hütten, die sich hinter einem Berghang verschanzen – zwei Stunden Fußmarsch von ihren Verfolgern entfernt.

Jeder Schritt ist eine Qual, jede Bewegung Schmerz. Sie bewegt sich mechanisch, zeitverloren. Zur Polizei will sie nicht, die würde sie nur in ihrem Dorf abliefern – „die Polizisten glauben doch auch alle an Saguma und dass ich meine gerechte Strafe erhalten soll. Ich habe niemanden getötet, ich bin keine Hexe! Ich bin keine Hexe!“ Rose Bob wiederholt diese Wörter wie ein Mantra und zeigt dann eine Röntgenaufnahme, die man im Krankenhaus von Goroka gemacht hat – zwei gebrochene Rippen. Sie hat Schnittwunden an beiden Oberarmen – von den Buschmessern. Jetzt ist sie auf Almosen ihrer Familie angewiesen und hofft, dass die Verwandten ihr Versteck nicht verraten. Manchmal sitzt sie nur da, den Mund wie zum Schrei aufgerissen. Rose Bob lebt – aber man hat ihr das Leben gestohlen, denn ab jetzt führt sie ein Dasein in ständiger Todesangst.

Monica Paulus sitzt neben Rose Bob, streichelt ihre Hände und hört sich ihre Geschichte an, nur manchmal fragt sie sanft. Diese Hütte hier, die sich an den Abhang quetscht als wollte sie etwas der Welt verheimlichen, ist ein guter Ort zum Verstecken, findet Monica Paulus: abgeschirmt durch Pinien, Eukalyptusbäume und Büsche, weit weg von ihrem Heimatdorf. Monica Paulus schlingt den Arm um Rose Bob, flüstert ihr Mut zu, wischt eine Träne aus dem Gesicht der jungen Frau und drückt ihr, als niemand hinsieht, zwanzig Kina in die Hand, umgerechnet knapp sechs Euro, mehr hat sie nicht bei sich. Monica Paulus ist Einzelkämpferin. Ihre Werte kollidieren mit der Wirklichkeit. Vor vier Jahren ist sie selbst nur knapp dem Tod entronnen, weil ihr Stiefbruder sie der schwarzen Magie beschuldigte, nachdem der Vater an einem Schlaganfall gestorben war. „Er wollte das Erbe für sich haben“, sagt Monica Paulus, ihr Mund lächelt dabei, ihre Augen nicht. Die Gründe sind meistens so banal wie tödlich: Eifersucht, Habgier, Erbschaftsstreitereien, Besitzansprüche. Saguma ist die einfache Lösung Familienangehörige, Feinde, Nebenbuhler oder Konkurrenten loszuwerden.

Seit vier Jahren hat Monica Paulus ihre Familie nicht mehr besucht – zu gefährlich. Ihre drei Kinder trifft sie zuweilen heimlich. Der Ehemann, ein Polizist, hat sich von ihr getrennt. Monica Paulus ist allein, und alles, was sie aufrecht hält, ist der Kampf gegen den Aberglauben und für dessen Opfer. Noch immer trägt sie die Angst in ihrem Herzen, sagt sie. Selbst nach vier Jahren bekommt sie Panik, wenn jemand unangemeldet an ihrer Tür klopft: jetzt holen sie mich und bringen mich um, denkt sie dann. Stirbt jemand unerwartet in ihrer Umgebung, denkt sie: jetzt geben sie mir die Schuld. Wut? „Nein, was geschehen ist, ist geschehen.“ Ihr Schicksal habe ihrem Leben eine Richtung gegeben, ein Ziel. Daraus schöpfe sie Kraft. „Niemand hilft uns, aber wir müssen für unser Recht kämpfen. Wenn wir uns verstecken, wird niemand von unserem Schicksal erfahren. Wir müssen uns wehren, sonst bringen sie uns um.“

Es ist ein Kampf gegen Gleichgültigkeit und Unwissenheit, den Monica Paulus führt. Ein Schleier der Apathie liegt über der Gesellschaft im Hochland Neuguineas. Niemand fühlt sich verantwortlich, weil die meisten Menschen glauben, dass die Opfer ihre gerechte Strafe bekommen. In der Polizeistation von Goraka sitzt Sergeant Fogi Kotfege an seinem Schreibtisch, vor ihm ein Stapel Akten mit unerledigten Fällen und ein defekter Computer. Der Strom ist gerade mal wieder ausgefallen, Schimmel frisst sich durch den Putz. Monica Paulus erzählt dem Polizisten von der toten Hexe. Ja, sagt er, er habe von dem Mord an Waja Loko gehört, sehr tragisch. Aber bisher sei er leider noch nicht dazugekommen, den Fall zu untersuchen. Er bittet um Nachsicht, denn die wenigen fahrtüchtigen Fahrzeuge seien gerade alle im Einsatz, und der Rest habe kein Benzin. Außerdem habe er nicht genügend Personal, um den Fall zu bearbeiten – und Zeugen gebe es bestimmt auch nicht. Er zuckt mit den Schultern. Mehr Sorgen macht Sergeant Fogi Kotfege, dass die Clans und Familien nun aufeinander losgehen könnten, um abzurechnen. Ansonsten ist der Fall erledigt. Er reicht Monica Paulus die Hand und bittet sie zu gehen.

Alltag im Hochland von Neuguinea: Die Opfer werden alleine gelassen, die Täter kommen meistens ohne Strafe davon. In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Fälle von Hexenverfolgung: In Mount Hagen, Immeguna, Sirau, Emai, überall. Drei Stunden Busreise und unzählige Schlaglöcher von Goroka entfernt liegt das Städtchen Kundiawa. Monica Paulus möchte dort ihre Freundin Maxi Annah Gelupa besuchen. Die 27-jährige Krankenschwester fürchtet um ihr Leben, seitdem ihre Schwiegereltern sie beschuldigen, das Essen ihres Schwagers mit Aids vergiftet zu haben. Anfang des Jahres brachte man ihn das Krankenhaus, in dem Maxi arbeitet. Sechs Wochen später war er tot, an Aids gestorben. Seitdem versteckt sich Maxi Annah Gelupa bei einer Freundin. Nach dem Besuch schaut Monica auf der Polizeistation vorbei, wo Polizisten gerade den ehemaligen Gouverneur der Provinz verhören, weil er seine Frau verbrannt hat. Im Gefängnis von Barawagi schreibt Monica Paulus das Geständnis des 31-jährigen Dama Dowe auf, der die nächsten zwanzig Jahre für den Mord an seinem Onkel absitzt, den er für einen Hexer hielt. Und im Krankenhaus von Kundiawa erzählt Schwester Patricia, dass sie seit Anfang des Jahres 189 vergewaltigte und misshandelte Frauen betreut habe.

Der rostige Laster ohne Türen und Windschutzscheibe rumpelt den Berg hinauf, immer höher und höher. Von hier aus hat man einen atemberaubenden Blick auf das Bergpanorama der Eastern Highlands, im Dunst liegt das Massiv des Mount Wilhelm, des höchsten Berges in Neuguinea, weit unten im Tal glitzert der Fluss Wahgi in der Nachmittagssonne. Monica Paulus wird auf der Ladefläche des Lasters durchgerüttelt, für die Schönheit der Natur hat sie keinen Blick. Ihr Ziel ist das Bergdorf Giu. Monica Paulus hat eine Verabredung mit der Familie Kiupa, den Hexern.

Billy Kiupa, 63, und seine Zweitfrau Doris, 52, sitzen auf der Terrasse ihres Hauses und trinken selbstangebauten Kaffee, manchmal hebt sich Doris mühsam aus ihrem Stuhl und humpelt auf einer Krücke in die Wohnstube, um ein paar Avocados zu holen. Doris’ Humpeln ist ein Andenken an die Nacht, die sie nur durch Zufall überlebten. In einer Nacht vor einem umzingelten etwa hundert Männer das Wohnhaus, in dem Billy mit seiner Ehefrau Rose und seiner Zweitfrau Doris schlief, der Mob wollte die Familie lynchen. Sie drangen in das Haus ein, warfen Doris vom Balkon und brachen ihr Becken und die Hüfte. Mit Macheten schlugen sie auf Billy und Rose ein, bewarfen sie mit Steinen, stundenlang. Der Anführer der Bande sagte, die Kiupas seien Hexer und schuld am Tod des Dorfbürgermeisters. Als der Morgen graute, ließen sie von Billy und Doris ab. Nur Rose banden sie an die Stoßstange eines Autos und schleiften sie die Straße hinunter zum Fluss. Dort warfen sie ihren Leichnam ins Wasser.

Schweigen. Monica Paulus nippt an ihrem Kaffee, die Avocados liegen unberührt vor ihr auf dem Teller. Sie ist mit den Kiupas befreundet, seit sie diese kurz nach dem Angriff im Krankenhaus traf. Doris Kiupa wischt sich mit der Hand über ihr Gesicht, Tränen laufen ihr über die Wangen. Noch nach einem Jahr leiden die Kiupas an den Folgen des Überfalls. Doris hat jede Nacht Alpträume und kann nur unter Schmerzen gehen, die gebrochene Hüfte ist nur schlecht verheilt. Billy zeigt die Narben an seinem Schädel und Unterarmen. Im Krankenhaus von Kundiawa wurden sie zwar kostenlos behandelt, wie alle Saguma-Opfer, aber gegen die psychischen Schäden kann man dort auch nicht viel tun. Billy Kiupa kennt die Täter alle persönlich, aber bislang wurde niemand verurteilt. Nur die Angst bleibt.

Während sich Billy und Doris Kiupa in den Trümmern ihres Lebens einrichten, die Krankenschwester Maxi Annah Gelupa sich vor ihren Schwiegereltern versteckt, trauern in Asaroufa Angehörige und Clanmitglieder um die tote Hexe Waja Loko. Frauen liegen sich in den Armen und weinen. Verwandte kommen aus Nachbardörfern und sprechen ihr Beileid aus. Die Männer, welche die Tote in den Sarg legen, tragen Atemschutzmasken. Verwesung mischt sich mit dem Geruch von Erfrischungsspray. Bunte Falter hüpfen von Busch zu Busch und ein paar Kinder führen ein Ferkel an einer Leine spazieren.

Wenige Meter abseits sitzt Uve Loko, der Neffe der Toten, unter einer Pinie und flüstert Monica Paulus ins Ohr. Die Familie der Toten hatte darum gebeten, dass Monica Paulus an der Beerdigung teilnimmt. Er zittert, weint. Monica Paulus streicht ihm durchs Haar, nickt nur ab und zu mit dem Kopf, hört zu und sagt kein Wort. „Ich wollte nicht, dass sie stirbt“, jammert Uve Loko und legt sein Gesicht in die schmutzigen Pranken. „Wir wollten ihr doch nur eine Lektion erteilen, damit sie mit Saguma aufhört.“ Ein paar Schritte von ihm entfernt buddeln zwei junge Männer das Grab für Waja Loko aus. „Die beiden waren dabei, als Tante ermordet wurde“, sagt Uve Loko in Pidgin und zeigt auf die Männer. „Der da hinten auch, der auch, und der auch“, er zeigt auf Männer, die am Sarg und zwischen den Trauernden stehen; es sind Familienangehörige, Freunde, Nachbarn, sie rauchen selbstgedrehte Zigaretten aus Zeitungspapier und lachen. „Woher weißt Du das, Uve“, fragt Monica Paulus. Und dann erzählt Uve sein Geheimnis, das an ihm nagt: Er war derjenige gewesen, der seine Tante der Hexerei beschuldigte und dem Mob die Erlaubnis gab, sie in der Mordnacht zu verhören. „Ich war mir sicher, dass sie eine Hexe ist! Sie hatte keine Kinder, ihr Mann starb an einer Krankheit, die niemand kannte, ihr Bruder auch. Wer sollte sonst dafür verantwortlich sein?“ Uve Loko hat die Männer in der Mordnacht zu seiner Tante geführt und schlief anschließend seinen Rausch zu Hause aus. Er bittet Monica Paulus, sein Geheimnis nicht der Mutter zu verraten. Sie verspricht es, unter einer Bedingung: Dass er andere Frauen, die man als Hexe verdächtigt, beschützt. Nur so könne er seine Schuld wieder gut machen. Uve Loko nickt heftig und umarmt Monica Paulus. Dann springt er auf, schnappt sich eine Schaufel und stellt sich zu den Jugendlichen, die seine Tante ermordet haben, um mit ihnen gemeinsam das Grab auszuheben. Als sie den Sarg in die Erde lassen, blickt Uve Loko so lange in die Grube, bis sie zugeschüttet ist. Dann legt er eine Plastikblume auf das Kopfende des Grabhügels. Neben ihm steht seine Mutter und beweint ihre Schwester.

Zwei Tage nach der Beerdigung wird eine junge Frau in der Gegend wegen Saguma ermordet.