Zeitenspiegel Reportagen

Ingo

Erschienen in FR7, Magazin der "Frankfurter Rundschau", 13. April 2024

Von Fotograf Sascha Montag und Autor Jan Rübel

Zuerst lehrt ihm die DDR das Fürchten. Der politische Häftling Ingo Bauer entkommt ihr 1984 mit 22 in den Westen – in ein jahrzehntelanges Leben mit Einbrüchen und Alkohol, wieder Gefängnis und schließlich Obdachlosigkeit. Dann bietet man ihm ein solidarisches Grundeinkommen, und ein Tiny House. Von einem, der auszieht die Freiheit zu lernen. Und darin umkommt.

Als Ingo Bauer vor fünf Jahren an die Rummelsburger Bucht zog, pries man ihre Lage als Ort der unbegrenzten Möglichkeiten. „Wer hier wohnt, kann alles haben“, beschreibt die Website eines Immobilienentwicklers noch heute das Areal. Ingo hatte seitdem vieles, und nun ein prunkvolles Wandgrab, an dem ihn seine Freunde im vergangenen Mai auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor in Berlin verabschiedeten. Nur einen Namen auf dem wuchtigen Granit unterm stilisierten Dach hat Ingo nicht; die Inschrift kommt noch, alle acht Tote haut ein Steinmetz ihre Buchstaben im Sammelpack in den Stein und malt sie aus in Gold. Ingo ist gerade der siebte, im spendenfinanzierten „Grab der vielen Namen“ der Heilig-Kreuz-Gemeinde für Menschen ohne Obdach oder ohne Angehörige oder ohne beides. Für 45 hat es Platz. Die Kirche hatte die besitzlose Stätte übernommen und restauriert.

Minze, Rosmarin und Salbei trotzen im Beet dem Winter – kein Vergleich zum Gestrüpp und Baupfeilerbeton hier bei der Bucht, sechs Kilometer in gerader Linie östlich entfernt, seine Stümpfe ragen knapp aus dem Boden wie Pickel in einem Gesicht. „Eine Idylle abseits des Trubels und doch mitten in der Stadt“, heißt es auf der Makler-Website. Ein schwarzer Reiher putzt im Wasser sein Federkleid. Dass hier vor drei Jahren Deutschlands größtes Obdachlosencamp stand, erzählt nur noch ein Stapel Brennholz im Gesträuch. Damals setzte sich Ingo eines Abends ans Lagerfeuer, dessen Rauch vermengte sich mit dem von züngelnden Flammen aus gerußten Tonnen und Drahtkörben zwischen Zelten und Hütten aus Span.

Er war damals 58. Es ist Oktober 2020, Herbstwolken tragen Regen heran, in kleinen Äderchen rinnt er durch spärliches Gras und einen metallenen Zaun hinab zur Rummelsburger Bucht. Am Feuer rückt ein Dutzend Bewohner zusammen. Manche haben die Kapuzen ihrer Hoodys ins Gesicht gezogen, andere teilen sich eine Decke, nur Ingo trägt bloß ein Shirt. „Zwei Tage war ich weg“, sagt ein Mitzwanziger zu ihm, er sieht aus wie 40. „Zwei!“ Ingo nickt. Zwei Wanderarbeiter aus Rumänien hatten das Zelt des Jungen belegt. „Das ist gegen die Regel!“ Die beiden murren. Hatten sie doch nicht gewusst, dass erst ab dem dritten Tag ein unbetretenes Zelt als aufgegeben gilt – sofern der Besitzer seine Abwesenheit nicht extra vernehmen ließ. Dies ist Gesetz Nummer Eins in der Bucht. 2018 war das Lager auf der Brache entstanden, langsam angewachsen auf 160 Bewohner, es kamen Aussteiger und Verlierer des Berliner Immobilienmarktes, Roma und Gestrandete aus den Ländern Europas.

Bürgerlich sieht das Camp kaum aus. Aber Regeln hat es schon. Gesetz Nummer Zwei: „Frauen sind mit Respekt zu behandeln“, sagt Ingo, „kein Sexismus, kein blöd Anlabern oder Anfassen“, gerade hat er zwischen dem Punk und den beiden Wanderarbeitern vermittelt, jetzt kreist eine Friedensflasche Bier. Drittes Bucht-Gesetz: Nicht klauen. Viertes: Streit klären die Konfliktparteien, „sonst klärt das die Gemeinschaft.“ Und das fünfte? Er grinst. „Nicht Schulden machen. Oder besser keine Schulden machen.“ Der Punk stupst ihn an. Ingo habe gut reden, mit dem vielen Geld in seiner Tasche. „Solidarisches Grundeinkommen“, korrigiert ihn Ingo. Eines, das er größtenteils auf der Straße verschenkt.

Ingo, braune kurze Haare über wachem Blick, ist Teil eines bundesweit einmaligen Experiments. Seit 2008 lebt er auf der Straße, seit Anfang dieses Jahres aber im Modellprojekt „Solidarisches Grundeinkommen“; bei der Sozialgenossenschaft Karuna arbeitet Ingo in einem Umsonst-Kiosk, dort können sich Menschen in Armut kostenlos mit gespendeten Lebensmitteln eindecken. Und Karuna gab ihm ein Tiny House, eine Art größere Röhre, in der er nun auf dem Hinterhof des Berliner Ensembles, Bertolt-Brecht-Platz 1, nächtigt. „Mein Ferienobjekt.“ Beim „Zuhause“ dagegen an der Bucht, wo er Campmitgründer der ersten Stunde war, schaut Ingo jeden Tag nach Betriebsschluss vorbei. Sein vom Land Berlin gefördertes Gehalt: 1640 Euro netto im Monat.

Am Anfang dieser Recherche steht der Plan einer Geschichte über Obdachlosigkeit, über den Weg hinaus. Ingo soll auf seiner Reise begleitet werden. Kommt er in der „bürgerlichen Gesellschaft von denen da oben“, wie er etwas spöttisch sagt, an? Doch in den folgenden zwei Jahren schält sich diese Geschichte wie eine Zwiebel, erzählt immer mehr: Von einem, dem die „da oben“ in dem einen Deutschland übel mitspielten. Und der im anderen Deutschland mit der neuen Freiheit mehr anfing, als gut war. Nach Jahren der Gefängnishaft hüben und drüben heute einen dritten Pfad ansteuert, Freiheit neu zu deklinieren sucht; jenseits von erlittener Gewalt und eigener Kriminalität, bürgerlicher Ordnung und Anarchie, oder wie es Ingo formuliert: „zwischen Asis und Spießern“. In der vor ihm liegenden Zeit wird er einmal den Jakobsweg gehen, zweimal in die Alkoholentgiftung, und bei der dritten sterben.

„Jaoo“, sagt Ingo am Buchtfeuer sächsisch gedehnt. Es klingt nach Schalk. Frag los, sagt er, du kannst alles fragen.

November 2020

Als er 2008 auf der Straße landete, sagt er, habe er Ehrlichkeit gelernt. „Nur so überlebst du, Obdachlose müssen zusammenhalten. Sie teilen miteinander, das braucht Vertrauen.“ Im Umsonst-Laden, ein ehemaliges Umspannwerk in Berlin-Kreuzberg, schneidet kalter Wind entlang der Regale. Wegen Corona hält Ingo die Tür meist offen. Sein Alkoholpegel liegt bei 2 bis 2,5 Promille, „die hab ich immer“. Das Geld, das er nun verdiene, sei eine Herausforderung, er trinke jetzt mehr. „Und an diese Strukturen muss ich mich noch gewöhnen.“ Dabei ist Ingo hier der Chef. „Du machst jetzt Schluss“, sagt er bestimmt, aber nicht unfreundlich, zu einer Romni, die zu viel in den Warenkorb legt. In der Ecke drückt sich Thomas an ein Regal, Ingo kennt ihn von der Bucht. „Er wurde vor drei Wochen ausgestoßen, wegen Gesetz Nummer Zwei, er hat gegrapscht“. Ingo bedient ihn, schaut auch ihm freundlich, aber lange in die Augen. „Ich muss all mein Geld für eine Drogentherapie ausgeben“, sagt einen Moment später eine Frau, „kann ich mehr kriegen?“ Ingo grummelt, packt ihr zwei weitere Dosen Bohnen ein. „Für deine Therapie bist du jetzt selbst verantwortlich“, sagt er. Der Herbst ist hart. In der Pandemie sind die Straßen leer, den Flaschensammlern bricht das Einkommen ein. Und auch der Umsonst-Laden kämpft, es kommen immer weniger Naturalspenden rein. In einer Ecke sitzt Jörg Richert, er ist Gründer von Karuna. „Ingo kann die Leute am besten einschätzen, mit ihrem Dauerstress auf der Straße.“ Da müsse man mal Regeln Regeln sein lassen. Ingo hinterm Tresen, Ingo bei den Regalen, Ingo beim Eingangscheck: „Ich bin hyperaktiv, brauch schon was zu tun“, sagt er. „Gehen wir später noch zur Bucht?“ Dort, am Gelände, steht mittlerweile mehr Wachschutz, Drohnen surren über das Areal. Der Privateigentümer will bauen, ein Riesenaquarium mit Hotel, „wer braucht denn sowas“, spottet Ingo. Das komme eh nie. Fürchten die Leute im Camp eine Räumung? „Sowas wird dauern.“

Februar 2021

Kleine Schneeflocken tänzeln im Wind, als wollten sie nicht auf dem Boden landen. Ingo kommt aus der Station 4 der Bodelschwingh-Klinik in Berlin-Wilmersdorf, sein Gesicht ist schmaler, der Gang schwankt. Es war mal wieder soweit. Zehn Tage blieb er hier zur Alkoholentgiftung. Es ist seine vierte. „Nix zu tun?“, sagt er zur Begrüßung und lächelt. Es sei am Ende zu viel gewesen, sagt er, durch das Trinken sei ihm der Job immer schwerer gefallen. Mit jedem Schritt im Weiß wirkt er fester. Der Alkohol ist aus seinem Körper raus, aber noch im Kopf. „Ich will das Bier lieber in Schach halten, weniger trinken. Außerdem bräuchte ich erstmal eine Psychotherapie.“ Da gebe es ein paar Dinge in ihm zu klären. „Aber ich weiß nicht.“ Er steuert sein Tiny House im Ostteil der Stadt an, „da muss ich aufräumen“. Eine Luftmassegrenze über ihm teilt kalte Luft im Norden Deutschlands vom milden Süden, sie beschert Berlin Minusgrade. Am Hinterhof des Berliner Ensembles hängen Eiszapfen. In Ingos Abwesenheit hat jemand drei Mülltonnen neben seine Röhre gestellt. Er grummelt. „Das beleidigt mich schon ein bisschen.“ Sein Atem stößt kleine Wolken aus.

Drei Tage später ist das Obdachlosen-Camp plötzlich Vergangenheit. Am Abend rücken Hundertschaften der Polizei an, ein Hubschrauber kreist. Eine Evakuierung, heißt es, kurzfristig anberaumt, wegen der Wettervorhersage von noch mehr Kälte, es bestehe Lebensgefahr. Doch am nächsten Tag ist das Lager geräumt, die Habseligkeiten von Bulldozern beiseitegeräumt. Zwischen Eigentum und Müll wollen die Bauarbeiter des Eigentümers wohl nicht unterscheiden. Den Bewohnern werden Plätze in einem Hostel angeboten, auch Ingo. Später wird herauskommen, dass die Coral World Berlin GmbH, die das Aquarium bauen will, vorher vom Bezirk die Räumung verlangt hatte. Im Umsonst-Laden schafft Ingo wie nie, eine Wut treibe ihn an, sagt er. „Es ist einfach alles an der Bucht weg.“ Seine Leber drückt weniger, das Kurzzeitgedächtnis läuft mehr, der rechte hochgekrempelte Hemdsärmel offenbart ein Sensenmann-Tattoo. „Nimm dir noch ne Suppe“, sagt er zu einem jungen Mann. „Ja, nee“, antwortet der, „ich muss erstmal mit meiner Lebenssituation klarkommen.“ Erstmal, dieses Wort hört man auf der Straße oft. Ingo steckt ihm wortlos eine Büchse Kartoffelsuppe in den Beutel. „Habt ihr Decken?“, fragt ihn der Mittzwanziger. Eine Stunde später schließt Ingo den Laden ab, öffnet draußen eine Flasche Bier. Er stellt sich an den Landwehrkanal, jeden Wochentag um 18 Uhr. Ein Schwanenpaar schwimmt vorbei, gefolgt von zwei Enten, „die kommen immer zu dieser Uhrzeit, sie wünschen mir einen schönen Feierabend.“ Ins Hostel drängt es ihn nicht. „Zu eng.“ Und das Tiny House, ist das nicht enger?

„Das ist mehr Straße. Aber gut, fürne Zeitlang Heizung und Dusche ist ne feine Sache. Also Hostel. Erstmal.“

Ingo könnte sofort in eine Wohnung ziehen, die Sozialgenossenschaft Karuna bot ihm eine an. „Was soll ich zuhause auf die Glotze schauen, die Straße ist besser als Kino.“

Dort ist auch anderes.

„Klar. Mit einer Wohnung kommt aber Verantwortung. Und die scheue ich.“

Vielleicht, sagt er, habe er auch ein Problem mit geschlossenen Wohnräumen, nach den Jahren in Haft.

Mit 17 kam er zum ersten Mal rein, das war 1979. Mit einem Freund war er in Richtung Grenze unterwegs, „wir wollten eigentlich nur mal sehen, wie weit wir kommen, das war eher unüberlegt.“ Die gezückte Maschinenpistole eines DDR-Grenzschützers stoppte sie bei Saalfeld, 22 Monate Jugendhaft. Gerade raus, saß er 1981 wieder ein, wegen geplanter Republikflucht; „die hatten meine Wohnung gefilzt und eine Karte mit eingezeichneter Grenze gefunden, die hatte ich nicht wirklich ernsthaft draufgemalt“. 16 Monate Gefängnis. 1983 dann stellte er einen Antrag auf legale Ausreise, „nun wollte ich wirklich weg, in der DDR hatten alle Angst. Es reichte mir.“ Es wurde ihm als „Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Organe“ ausgelegt, 22 Monate Gefängnis. Im Osten, sagt er, habe er seine Strafen immer voll abgesessen.

Mai 2021

Als er die Augen öffnet, ist die Welt seine Kammer. Ingo setzt sich auf, blinzelt. Es ist später Nachmittag, an der Weltzeituhr am Alexanderplatz hatte er sich in der Menge auf den Boden gelegt, ein Nickerchen gehalten. „Ich vertraue einfach darauf, dass nichts passiert“. Überhaupt fühle er sich überall wohl. „Jetzt besonders, ich bin wieder im freien Flug.“ Das Trinken hat zugenommen. Der Umsonst-Laden hat mangels Spenden geschlossen; mittlerweile haben andere Hilfseinrichtungen, die ihre Armenversorgung wegen der Pandemie unterbrochen hatten, diese wieder hochgefahren. Der Laden hatte für die Stadt eine Ausputzerrolle, nun arbeitet Ingo dort im Empfang für die darüber liegenden Büros, „aber ich fühle mich unterfordert. Ist ja kaum jemand da.“ Die Zeit im Hostel liegt hinter ihm, „dort war ich angebunden“. Wände, Strukturen, alles Ballast. „Ich kann einfach gehen. Das kannst du nicht“. Er ist wieder in sein Tiny House am Berliner Ensemble gezogen, sein Rückzugsraum, in den er jeden Abend vor neun Uhr steigt, dort träumt, kifft und trinkt, Hardrock und Indianermusik hört, wieder träumt. Morgens um fünf aufsteht, beim Supermarkt einen Kaffee und die Zeitung kauft, sie sogfältig liest; nur Meldungen mit Gewalt gegen Kinder meidet er, die regen ihn zu sehr auf. Die Mülltonnen neben seinem Tiny House riechen jetzt.

Binnen weniger Minuten verwandelt sich Ingos Schlafzimmer an der Weltzeituhr in einen Salon. Hotte schaut vorbei, er arbeitet hundert Meter weiter unter der S-Bahn-Brücke, mit Brotkrumen lockt er Stare und Spatzen, und Spenden. Kaum ist Hotte weg, tanzt Kiwi heran, mit einem Gettoblaster über der Schulter. „Du magst nicht Süßes, oder?“ Ein Passant hatte Kiwi eine Box frischer Donuts zugesteckt; Herzhaftes wäre den beiden lieber. Bierflaschen ploppen. Hotte, 59, hatte jahrelang in der Dekontaminierung von stillgelegten Kernkraftwerken gearbeitet, Krebs gekriegt und seine bayerische Heimat gen Berlin verlassen. Kiwi, Anfang 20, sagt über sich nichts. Er lacht lieber. Verdient ein bisschen Geld durchs Rappen eigener Songs in der U-Bahn, es ist später Nachmittag, für Kiwi lief der Tag gut; Berlin ist auch die Hauptstadt der Menschen ohne Obdach, ihre Anzahl wird auf über 10.000 geschätzt. „Was macht denn der für’n Katzenjammer“, kommentiert Kiwi einen Straßengeiger, der sein Glück mit Mozart versucht, und zu ihm laut: „Is ja nicht auszuhalten.“ Der Mann setzt den Bogen ab. Schaut rüber. Fängt neu an. „Och nee, Mann“, ruft Kiwi. Der Mann, lange schwarze Haare, schwingt nun seinen Bogen wie eine Peitsche, „komm her, wenn du ein Mann bist!“, schreit er plötzlich; als habe er darauf gewartet. Kiwi, schlaksig, wildes Haar unters Basecap gedrückt, springt auf und rennt die 20 Meter hin. „Ja komm her, lass uns battlen, aber Rap.“ Beide stehen zwei Armlängen auseinander, der Bogen surrt in der Luft, Polizisten kommen angelaufen, schauen. Kiwi schimpft am lautesten, da nehmen sie ihn in Schulterhebel und führen ihn ab. Sein Rucksack bleibt auf dem Boden liegen, Ingo steht auf und nimmt ihn. „Geb ich ihm wieder, der ist bestimmt die Tage beim Ostbahnhof.“ Nehme zu viel, und zu viel durcheinander. „Und er nimmt sich nicht zurück, das kann bös enden.“

Und bei ihm selbst?

„Entgiftungen und Entzüge habe ich gemacht, aber sie dringen irgendwie nicht an mich heran. Nun lasse ich das auf mich zukommen.“ Er sagt, er wisse, dass er Schaden nehme. Einmal, vor 15 Jahren, habe er drei Jahre lang alkohollos gelebt, bei der Suchtselbsthilfe gewohnt. Eine Viertelstunde nach seinem Auszug, als er dachte, er sei übern Berg, habe es Klick gemacht, da war er dann an einer Tanke und kaufte Bier. Was lässt er auf sich zukommen? „Trinken ist ein Tod auf Raten. Klar, ich fliehe vor etwas.“

Am 7. November 1984 kam er frei und sofort in den Westen. Die Bundesrepublik hatte ihn als politischen Gefangenen freigekauft. Ingo, mittlerweile 22, zog nach Bayern. Er begann viel zu lesen, machte 1986 seinen Realschulabschluss, wurde Mitglied der Grünen, Ortsverband München-Schwabing. Das ist die eine Geschichte. Die andere erzählt, wie er seitdem seine Familie nicht wiedersah: Die meist alleinerziehende Mutter und vier Geschwister, sie hart arbeitend, raues Klima, herzlich, aber „mit mir oft überfordert“. Häufige Clashs zwischen beiden, „ich galt als Zappelphilipp, aber es gab keine Hilfe, nicht in dem System“. Mit dem Gefängnis gabeln sich ihre Wege.

Juni 2021

Warmer Frühabendregen streichelt den Berliner Ostbahnhof, Ingo bleibt vorm Parkdeck stehen und streckt die Arme aus. Er schließt die Augen. „Komm schon“, rufen die anderen rüber, Herbert, Alt-Ösi und „der Thüringer“, ein Mittfünfziger in Streifenanzug an einem Einkaufswagen voller Tüten. Ingos Alkoholkonsum hat noch einmal zugelegt, „ich bin frustriert, brauche einen echten Job“. Bei Karuna wurde er ausfällig gegenüber zwei Mitarbeiterinnen, „das wurmt mich sehr. Muss meine Nerven besser zusammenhalten“. In der Sozialgenossenschaft würden sie auf eine erneute Entgiftung drängen, man hat noch etwas mit ihm vor: Ingo soll eine Art Quartiermeister in einem Projekt werden, manche nennen es Safe Places, andere Common Places. Neben dem Ringcenter in der Frankfurter Allee will Karuna auf einer Brache rund 50 Tiny Houses aufstellen, der Obdachlosigkeit ein Gesicht geben, einen Anschluss an die Gesellschaft. Sozialarbeit soll so verortet besser greifen. Ein Gemeinschaftsgarten ist geplant, und ein Repaircafé. Es geht um einen Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenpolitik. „Für mich existieren keine Obdachlose“, sagt Ingo, „ich nenne uns Flüchtlinge. Wir brauchen einen Platz.“ Klappe es mit dem Projekt, werde er sofort nüchtern. Gerade isst er ein halbes Brötchen am Tag, die restlichen Nährstoffe kommen vom Bier.

Juli 2021

Die Nachricht vom Aus für die Tiny-House-Siedlung erreicht Ingo auf dem Weg ins Krankenhaus. Im Bezirksrathaus will man eigentlich die Fläche zur Verfügung stellen, das Land hat auch Gelder dafür bewilligt – aber in der Bezirksverordnetenversammlung stellen sich meisten Lokalpolitiker plötzlich quer. „Die Menschen wären hier zur Schau gestellt worden“, heißt es etwa aus der Linksfraktion. „Hätt mich nicht gestört“, sagt Ingo am Telefon. „Wir sollen wohl unsichtbar bleiben.“ Die Entgiftung aber ziehe er durch, sein Körper verlange es. „Alleine kalt entziehen kann ich nicht mehr. Wenn ich einen Krampfanfall kriege, muss einer bei mir sein.“ Drei Pillen wird er im Krankenhaus kriegen: Die erste fürs Trockenkotzen, die zweite gegen die körperlichen Suchterscheinungen, und die dritte zum Runterkommen, „um nicht trinken zu müssen“; geplante Dauer des Aufenthalts: 14 Tage. Vor einer kompletten Nüchternheit danach habe er Angst, sagt er. „Alle meine Freunde trinken, das ist meine Familie.“ Jetzt, mit 59, müsste er für ein alkoholfreies Leben „ein neues Umfeld kennenlernen, dazu fehlt mir die Zeit. Ich wünschte, ich wäre Highlander“- wie der unsterbliche Connor MacLeod im Film. Bleibt eine Frage, die nicht gehen will. Okay, Ingo, das klingt jetzt banal, aber warum trinkst du?

„Damit ich nicht kämpfen muss. Dazu fehlt mir was. Habe vielleicht zu viel Ballast aus der Vergangenheit. Es gibt da Bilder, die kriege ich nicht weggepackt.“

In der Jugendhaft in Dessau waren sie 24 Jungen in einem Schlafraum, alle in Nachthemden ohne Unterwäsche. Wer die Wärter falsch anschaute: Kloputzen. Wer dies verweigerte: in den Käfig, die Hände oben angekettet. Oder Arrest im Keller, zuweilen bei Minusgraden. Von draußen habe dann ein Plattenspieler gedrungen, mit dem Sound von Gewehrschusssalven oder dem Start und der Landung von Flugzeugen, zehn Stunden lang. „Leute kuschelten nachts im Saal miteinander, um ihrer Seele Gutes zu tun. Es ging nicht um Sex.“ Manche gingen weiter. „Ich kannte die. Hatte keine Chance. Sie haben sich an mir befriedigt.“ Als Ingo mit 22 Jahren seine 60 Gefängnismonate hinter sich gen Westen ließ, war er übervorsichtig, auf der Hut. Einerseits im Turbo gealtert, andererseits von der Mama und den vier Geschwistern getrennt – eine abgebrochene Adoleszenz. In Bayern angekommen, meldete er sich nicht bei ihnen. Sie meldeten sich nicht. „Sie hatten bestimmt andere Erwartungen. Die hatte ich auch.“ So blieb es.

September 2021

Wie energisch er durchs Lager stapft, Windeln aus den Regalen nimmt, drei Tuben Wundsalbe obendrauf und im linken Arm ein Sixpack Wasserflaschen. Ingo durchpflügt den Raum auf dem Weg zu einem der drei weißen Kleinbusse vor der Tür. Dass hier einmal eine Bankfiliale war, verrät nur der grauschwarze Allzweckteppich. Den bräuchten sie nicht, bei der „Taskforce“ von Karuna, bei Ingos neuem Arbeitsfeld: Mit den Fahrzeugen leistet die Sozialgenossenschaft mobile Hilfe für obdachlose Menschen. Der Umsonstladen hat geschlossen, das Projekt am Ringcenter ist geplatzt, aber Ingo kennt die Orte in Berlin, wo Menschen ohne festes Dach überm Kopf wohnen. „Ich pack noch ein paar Handys ein“, ruft Ingo Ayhan zu, der Fahrer nickt kurz.

Die Nutzung der leerstehenden Filiale hat das Land Berlin Karuna finanziert. Deutschland hat einen Zielbeschluss: Bis 2030 sollen Wohnungs- und Obdachlosigkeit überwunden sein. An der Bucht steht immer noch kein Bauschild. Doch die Baugenehmigung für die Coral World ist erteilt; nicht nur ein Aquarium soll entstehen, sondern ein siebenstöckiges Hotel samt vier Gastronomien. Öffentliche Fördergelder in Millionenhöhe sind beantragt. Coral World kooperiert mit der „Business Network Marketing und Verlagsgesellschaft mbH“. Auf ihrer Website schreibt die Firma: „Als Part des inneren Kreises haben wir Zugang zu politischen Entscheidungsträgern auf allen parlamentarischen Ebenen und adressieren Ihre Botschaft genau dort, wo sie gehört werden muss.“

Die Entgiftung hat bei Ingo Kräfte freigesetzt. „Ich kann mit mir sonst nichts anfangen“, erklärt er seinen Arbeitsdrang. „Diese Aufgabe ist wichtig.“ Der Van fährt in Richtung Ostbahnhof. Unter einer Eisenbahnbrücke steigt Ingo aus, bringt einer Frau Windeln und Salbe. „Brauchst du noch was?“, fragt er. Manu lächelt. „Dich.“ Beide kennen sich von der Bucht, die Mittfünfzigerin lebt seit 18 Jahren auf der Straße, nun hier auf einer palettenbewehrten Matratze zwischen zwei Einkaufswagen. „Vor zwei Wochen kamen Beamte und sagten, ich soll hier weg. Aber wohin?“, fragt Manu. Laufen kann sie kaum mehr. Sitzt und liegt unter der Brücke, isst wenig. Ingo kratzt sich am Kopf. „Sehr mobil biste ja nicht“, denkt er laut. In einem meterhohen Holzregal auf dem Bürgersteig, neben Kerzen, einem Teepott und Kuscheltieren lehnt ein Buch. Es heißt „Abenteuer Menschheit“. Unter der Brücke zieht scharfer Wind. Es ist kälter als auf dem Platz vorm Ostbahnhof, wo Ingo mehr Glück hat: Alt-Ösi, ein Mittfünfziger aus Wien, überredet er, sich ein Angebot zum Betreuten Wohnen in der Wiener Straße anzuschauen. „Ich muss aber noch zum Sozialamt, allein schaff ich das nicht“, sagt der. Ingo hat die Hände gefaltet, der rechte Daumen aber wandert auf und ab. „Wenn es so weit ist, holen wir dich ab und fahren dich hin.“ Hilfe für Andere organisiert er rasch. Und für sich selbst? „Ich muss es wollen“, weicht er aus. Ingo trinkt wieder, aber nur vier halbe Bier am Tag, er wolle diesen Kampf nicht mehr führen, weil er ihn immer verliere. „Ich halte es in Schach.“ Als wäre das Leben eine Abfolge von Spielzügen.

Noch ein paar Winkelzüge mit dem Van rund um den Bahnhof, dann rüber zum Alexanderplatz, wo Ingo Hotte und Heinz „Zickenschulze“ mit Wasser versorgt, der 68-Jährige setzt die Halbliterflasche an und trinkt sie ohne abzusetzen aus. Ein paar Straßenkinder kommen auch angelaufen. Schließlich steuert der Wagen die ehemalige Bankfiliale an. Müsliriegel wollte keiner haben, Ingo bringt sie runter in den Keller. Mit seinem ganzen Gewicht stemmt Ingo die Tür zum Tresorraum auf; dutzende geöffnete Schließfächer machen den Raum tiefer. Der Boden ist mit Schlüsseln übersät. Er tätschelt die Tür. „Nee, nee, an sowas hab ich mich nie rangetraut.“

Was Einbrüche angeht, war Ingo vom Fach. Kaum im Westen, ging es los. Da war zwar die Schule, dann die Arbeit als Bauschlosser. „Ich war aber allein, wollte jemand sein. Lernte falsche Leute kennen, rutschte in eine gewisse Szene rein.“ Er bückt sich, hebt ein paar Schlüssel auf. Okay, sagt er, er sei jung gewesen, dumm. „Ich wusste noch gar nicht, was Fakt ist im Leben.“ Dann ging alles ganz schnell. Bis 1994 machte er um die 60 Einbrüche, ein, zwei Jahre Gefängnis sammelten sich an, war auf Bewährung, raubte weiter und wanderte schließlich für zehn Jahre ein. Seine Zelle war acht Quadratmeter groß. „In der ersten Nacht weinte ich. Dann sagte ich mir: Das ziehst du jetzt durch. Hier wirst du nicht sterben.“ 2004 kam er raus, setzte die Einbrüche fort, bis 2015. „Ich fand es geil. Wenn du in einem fremden Haus stehst, dann gehört es für einen Moment dir.“ Der Körper voller Adrenalin, keine Droge sei besser gewesen. Merkte er, dass jemand da war, ging er, er wollte keine Angst einjagen. Angst mochte er nicht. Einen einzigen Raubüberfall habe er gemacht, in den Achtzigern, eine Galerie in Stuttgart. „Als ich die Augen voller Furcht sah, den Blick auf meine Pistole – da wusste ich, dass ich sowas nie wieder machen werde.“ Die Einbrüche ohne Kontakt mit Menschen lohnten sich eh, damals gab es noch mehr Bargeld. Ingo hatte Hunderttausende Mark, gab sie aus. Tagsüber arbeitete er als Bauschlosser, nachts zog er los, hatte sich die nötigen Schlüssel von einer Firma besorgt, bei der er sich als Schlüsseldienst ausgegeben hatte. Investierte einmal drei Stunden an einem Tresor, um darin eine leere Brotdose vorzufinden. Oder stolperte in einer Firma nach einer halben Nacht der Suche über das im Papierkorb versteckte Geld. Der Alkohol war immer da gewesen in Ingos Leben, aber mit den Brüchen, dem Abhängen im Milieu, wurde er mehr. Anfang der Neunziger hatte Ingo erste Aussetzer, bei der Arbeit und bei seinen Beutezügen. „Ich bin kein guter Krimineller“, sagt er, „die guten werden nicht erwischt“. Ihm habe es an Umsicht gemangelt, an guter Organisation. Er legt die Schlüssel in seiner Hand in ein offenes Fach.

Dezember 2021

Ingo hat einen Plan. In drei Wochen will er den Jakobsweg gehen, erstmal mit der Bahn nach Frankreich und dann 1700 Kilometer zu Fuß, bis Santiago de Compostela. „Ich muss den Kopf freikriegen“, sagt er. So viel los in ihm. Der Job in der Gegenwart, die Lasten der Vergangenheit. Dann die Sucht und die Frage nach vier Wänden für sich allein. Wie viel Ordnung er heranlässt. „Inneren Frieden kriege ich nicht mit Geld.“ Er sitzt an einem Lagerfeuer vor einer aus Spanplatten zusammengebauten Küche, irgendwo im Buschwerk einer Brache der Berliner Innenstadt. Sechs Freunde haben hier ihre Zelte aufgeschlagen, sich wohnlich eingerichtet. Thommy, schlanker Ex-Koch eines Luxushotels, hat den Propangasflaschenherd angeworfen und rührt ein Chili sin Carne an. Das Grünflächenamt toleriert die kleine Siedlung. „Das sollen so wenige Leute wie möglich mitkriegen“, sagt er, „so lässt man uns in Ruhe“. Ingo zeichnet mit einem Bleisteift die Wanderroute auf einer Karte nach, sie ist 25 Male so lang wie die 70 Kilometer zur innerdeutschen Grenze auf jener bekritzelten Karte, für die er 1981 ins Gefängnis kam. Karuna hat ihn für den Wanderweg beurlaubt. Er sagt, er wolle sein Leben überdenken, so gehe es nicht weiter. „Wir Alten ziehen uns zurück.“ Das Leben draußen werde schwerer, „die allgemeine Aggressivität nimmt zu“. Eine Frau kommt aus ihrem Zelt und setzt sich zum Feuer. „Wir alle haben mehr Angst vor Überfällen in der Nacht“, sagt Eni. Vor dem PVC, das auf der Haut klebt, wenn das Zelt abfackelt.

März 2022

Nach drei Monaten Wanderschaft ist Ingo wieder zurück in Berlin. „Schwer entzüglich“ sei er losgelaufen, aber mit jedem Schritt verflüchtigte sich das Bedürfnis nach Alkohol. Gar keinen mehr habe er getrunken. „Und kaum war ich wieder hier bei den Jungs, ging es natürlich wieder los“, sagt er im Starbucks-Café am Alexanderplatz. Das Trinken sei ihm eine Last. „Jedes Mal, nachdem ich clean war, wird es schlimmer.“ Ingo hatte auf dem Jakobsweg Selfies per WhatsApp geschickt, sie zeigten ihn inmitten steiniger Hügel unter blauem Himmel. In der Zwischenzeit ist Manu gestorben, und Heinz Zickenschulze. Alt-Ösi musste ins Krankenhaus, kam von dort in eine Wohnung. Sein Tiny House muss Ingo demnächst verschieben, es soll in einen Seitengang des Ensemble-Hofes, neben einem Nobelfranzosen. „Dort riecht es bestimmt besser“, sagt er. „Is ja mal ne Aussicht.“ Werde er gleich morgen machen, denn eigentlich wolle er schon wieder los. „Ich geh in die Ukraine. Sandsäcke schleppen, Essen austeilen, was weiß ich. Meine Arbeit hier ist nutzlos im Vergleich zu dem, was die Leute dort im Krieg alles brauchen.“ Am Nebentisch sitzt eine alte Frau. Sie redet halblaut mit sich. Wenn er eine sinnvolle Aufgabe habe, werde er weniger trinken, sagt er. Und was ist mit dem Job bei Karuna? „Ich fühle mich nicht verstanden“ Und es sei dort so normal, geregelt. Jeden Tag stoße er an unsichtbare Wände. Er steht auf. „Lass uns an die frische Luft.“ Was ihn an seiner Arbeit genau stört, versteht man nicht ganz, etwas Ungesagtes bleibt im Café.

Draußen spricht ihn ein junger Mann an, beide kennen sich vom Ostbahnhof. „Das hier ist für dich, weil du mir immer geholfen hast“, sagt er zu Ingo, drückt ihm ein paar Geldscheine in die Hand und wendet sich ab. „Sag bitte den anderen, dass ich kein Schnorrer bin.“ Vor einer Bankfiliale sitzt ein Mann, er lallt und wirft eine leere Bierflasche nach einem Kumpel. Ingo trottet zu den Scherben, schiebt sie mit dem Fuß zusammen, er sagt zum Russen: „Hör auf. Das geht nicht.“ Der Mann schaut ihn mit großen Augen, nickt stumm. Es ist halb fünf, Ingo will zum Tiny House, sich ausruhen. Er sage es ungern, räuspert er sich. „Aber die vielen Osteuropäer machen uns die Straße kaputt, weil sie es nicht verstehen.“ Unter denen eskaliere der Alkohol, die Hoffnungslosigkeit. „Ich mache ihnen keinen Vorwurf. Keiner hilft, macht ihnen klar, was ethisch geht und was nicht. Sie bleiben total allein.“ Unter den Obdachlosen werde mehr geklaut als früher. „Allein gestern haben sie der Cindy am Ostbahnhof den Rucksack gestohlen.“ Leute würden verschwinden, sagt er. „Keiner weiß, wohin.“ Das Leben auf der Straße gerate schneller, atemloser, „selbst untereinander wird es loser“. Ingo, hast du etwas vom Jakobsweg mitgenommen? „Ich mach mir keine Gedanken mehr. Bin freier. Es hat keinen Sinn, nach einem Sinn zu suchen.“ Er vergesse nichts, sagt er. „Das war schon mein Beitrag. Habe auf niemanden Groll.“

Als Ingo 2004 nach zehn Jahren Gefängnis freikam, drohte ihm der bayerische Freistaat mit Sicherheitsverwahrung. Da zog er nach Berlin. Mietete sich eine Wohnung, wurde wieder kriminell („ein bisschen“), zog bei Alkohol an. Irgendwann zahlte er keine Miete mehr, „mir wurde alles egal“. 2008 machte er die Tür hinter seiner Wohnung zu und trat auf die Straße. Er wurde obdachlos. Vier Jahre und neun Monate Haft hatte er noch offen, wegen einer gerade laufenden Alkoholtherapie wurde die Strafe nicht vollstreckt – dann aber landete er 2015 wegen kleinerer Brüche und Diebstahls vor einer Richterin. „‘Sie können sich heute entscheiden.‘, erinnert er sich an ihre Worte. „‘Entweder hören Sie auf, oder Sie verbringen den Rest Ihrer Tage im Gefängnis.‘“ Seitdem habe er nichts mehr gemacht, „außer Schwarzfahren“. In Bayern, sagt er, hätte er diese Chance nicht gekriegt. An diesem Frühlingstag fliegen die Schwalben tief.

August 2022

Ingos neue Bleibe zwischen einem Restaurant und den Kostümbildnern des Ensembles steht wie seine alte – neben Mülltonnen. Einmal klopfen, ein zweites, in seinem Tiny House rührt sich nichts. Nach dem dritten Mal steckt er seinen Kopf aus der Röhre. Das Gesicht ist schmaler, das Haar länger. „Ich habe keine klare Linie mehr“, sagt er. „Ich weiß nicht, wo ich stehe“. Zur Ukraine hatte er sich nicht aufgemacht, „dort würde ich doch nur im Weg stehen“. Er trinke wieder mehr, dabei mag er das Zeug nicht. Nach den ersten drei Schlucken am frühen Morgen muss er absetzen. Die kommen zurück. Er steigt aus, reckt seine Glieder. Die Milz meldet sich, seine Leber schmerzt seit zwei Wochen. Bei Karuna ist Ingo unregelmäßig. „Wegen der Hitze machten die einen Pressetermin, weil wir Wasser verteilten. Mich hat beschämt, dass man für Elementares wie Wasser Werbung macht. Ich glaube, ich höre auf. Will mich vom Geld befreien.“ Warum? „Es wiegt so schwer.“ An einer dünnen Metallkette hängt seine Lederbrieftasche die Jeans herab. Vielleicht werde er noch einmal den Jakobsweg gehen, sagt er, wenn es kälter wird. Von Berlin aus losgehen. Vielleicht einen Schlenker über Sachsen machen, wo Mutter und Geschwister wohnen. „Ich würde sie gern nochmal sehen. Weiß aber nicht, ob wir bereit sind, aufeinander zuzugehen. Ich habe Angst davor.“ Jedes Jahr habe er zum Geburtstag seiner Mutter angerufen, und jedes Mal, wenn sie abnahm, legte er auf. Seit vergangenem Jahr habe sie nicht mehr abgenommen.

Der Antrag der Coral World auf Fördermittel in Höhe von 7,3 Millionen Euro wird vom Senatsprogramm abgelehnt. Das Unternehmen sei verschuldet, heißt es. Eine Klage wird eingereicht. An der Rummelsburger Bucht geschieht nichts.

September 2022

Ingo benutzt nicht mehr sein Smartphone. Liest keine Meldungen, beantwortet keine Anrufe. Er bleibt meist in seinem Tiny House. Als er die Luke öffnet, fröstelt ihm. „Mit mir passiert was innerlich.“ Bei Karuna hat er gekündigt. „Ich bin ihnen sehr verbunden. Aber es ging für mich nicht mehr, es war zu begrenzt. Keine freie Entscheidung.“ Vielleicht, sagt er, hätte man ihn anders schulen sollen. „Ich weiß es nicht.“ Er werde aber nicht aufgeben, wieder aufstehen, den Jakobsweg gehen, vorher das Bier reduzieren, „ich brauche bloß den Punkt, bei dem es losgeht“.

Oktober 2022

Ingo lehnt an seiner Röhre, er dreht sich eine Zigarette. Raucht. Als wartete er auf jemanden. Gestern kam die Nachricht, dass er hier wegsoll. Dies sei eine Feuerwehreinfahrt, woanders werde an den Belüftungsrohren gebaut. Er sagt: „Das hat mich schon getroffen.“ Arbeitslos hat er sich noch nicht gemeldet. „Es wird dann so offiziell. Und überhaupt, Ämter.“

Am nächsten Vormittag fährt er mit der Bahn zur Agentur für Arbeit in der Charlottenstraße, ihr Eingang ist 250 Meter südlich des Denkmals für Peter Fechter; der 18-Jährige wurde dort 1962 beim Fluchtversuch über die Mauer erschossen. „Haben Sie einen Termin?“, fragt der Pförtner. „Brauch ich einen?“, fragt Ingo.

„Wohnadresse?“

„Ich bin obdachlos.“

Im fünften Stock empfängt ihn eine Mitarbeiterin, sie lächelt ihn an, fragt nach seinem Ausweis. Aus Versehen gibt er ihr den Führerschein. An der Wand hängen Strandfotos. „Sind Sie arbeitsfähig, gesundheitsmäßig?“ Er macht den Rücken gerade. „Eine gute Frage. Aber erstmal muss ich was gegen den Alkohol tun.“ Er schaut nach links. Am leeren Nebentisch sitzt eine Frau, sie telefoniert. „Ich bin alleinerziehend, mit zwei Kindern. Oh Bingo. Mmh. Cool.“ Sie lacht. „Natürlich. Ich auch. Ich finde Boddinstraße super. Bis dann!“ Als sie das Handy einsteckt, streicht sie sich übers Haar. Ingo schaut wieder weg.

November 2022

Ingo hat eine neue Bleibe gefunden, er zieht zur kleinen Siedlung mit der Spanplattenküche in der Buschwerkbrache. Mitarbeiter von Karuna fahren ihm sein Tiny House dorthin. Die ersten Schneeflocken fallen. Zeit für den Aufbruch. Im Winter noch will er auf den Jakobsweg. Es ist der 29. November. Ingo hat einen kalten Entzug beschlossen. Ohne Tabletten, ohne Krankenhaus. Hat er früher schon mal gemacht, und im Zweifelsfall passen die Freunde in der Siedlung auf ihn auf. Der erste Tag ist hart. Am zweiten isst er kurz vor zwölf am Mittag etwas Obst, raucht eine Zigarette. Er steht auf, will aufs Klo. Nach ein paar Schritten fällt er um. Seine Freunde rufen den Rettungswagen, Sanitäter kommen, ziehen ihn aus, legen Sauerstoff an. Ingo erleidet ein Multiorganversagen, der Körper rebelliert, spielt verrückt. Er fällt ins Koma. Im Vivantes-Klinikum Friedrichshain stellen die Ärzte fest, dass das Gehirn Schaden genommen hat, sie überlegen, ob sie die lebenserhaltenden Apparate ausschalten; ein Anwalt sucht nach Verwandten. Aber dann, am 3. Dezember, geht Ingo selbst.

Der Leichnam wird nach Sachsen überführt. Seine Familie übernimmt die Kosten der Einäscherung.

Mai 2023

Im fünften Monat nach seinem Tod wird Ingos Urne nach Berlin gebracht. Zur Trauerfeier auf dem Friedhof vor dem Halleschen Tor füllt sich die Kapelle. Rund 70 Freunde und Bekannte laufen im Gänsemarsch zum Wandgrab. „Ich schuldete ihm noch fünf Euro“, weint einer.

September 2023

Coral World hat im April vorm Berliner Verwaltungsgericht den Prozess um die Fördermittel verloren. Für das geplante Ocean Berlin-Aquarium setzt kein Arbeiter einen Stich.

Dezember 2023

Am letzten Mittag des Jahres steht der menschenleere Friedhof vor dem Halleschen Tor unter blauem Himmelslicht. Auf eine schriftliche Anfrage zur Zukunft des Aquariumprojekts antwortet Coral World, im Januar sollen die Betonarbeiten beginnen. Und die Obdachlosenprojekte der Stadt kämpfen um ihre eigene; die Haushaltskrise in der Bundesregierung droht weitergereicht zu werden, über Länder und Kommunen hin zu einem Kahlschlag ganz unten. Auf dem Bodes des Grabs mit den goldenen Inschriften, an den Marmor gelehnt, steht ein aufgeschlagenes Taschenbuch. Verwittert und gebräunt, ist E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ verwachsen mit dem Stein. Die linke Seite beginnt mit: „…so dass man dem vorhin noch ganz Unbemerkten jetzt teilnehmend nachsah.“