Zeitenspiegel Reportagen

Kommt, Waldis, kommt!

Erschienen in natur 10/18

Von Autorin Sigrid Krügel

Eine Formation großer schwarzer Vögel und ein merkwürdiges Fluggerät: Am Himmel über Überlingen werden junge Waldrappe für ihren Zug über die Alpen trainiert. Exkursion zu einem der seltensten Vögel der Welt

Seit einer Viertelstunde starren wir jetzt schon durchs Fernglas. Ein Storch und ein Schwarzmilan haben unseren Kleinbus überflogen, sonst ist der strahlend blaue Himmel leergefegt. Endlich nähert sich ein Brummen, Sekunden später schwebt ein knallgelber Gleitschirm über das Wäldchen am Ende der Äcker, im Schlepptau eine Konstruktion aus zweisitziger Seifenkiste und Riesenpropeller. „Kommt, kommt Waldis, kommt, kommt“, lockt eine megafonverstärkte Stimme aus dem wunderlichen Gefährt. „Kommt, kommt, Waldis, kommt, kommt.“ Dann taucht die Gruppe kohlrabenschwarzer Vögel hinter den Wipfeln auf: drei Monate alte Waldrappe, einer der seltensten Vögel der Welt. Es ist ihre neunte Flugstunde. Als Pilot Johannes Fritz das Ultraleichtflugzeug auf der Wiese bei Überlingen landet, setzen auch sie zum Sinkflug an.

Zwei Stunden später im Waldrapp-Trainingscamp. Ein Pfad führt auf die große Wiese mit Wohnwagen und Campingbussen. Der rote Kleinbus gehört Corinna Esterer, Ziehmutter der Waldrappe, und ihrem Hund Smarac. Zwischen zwei Bäumen hat die 31-Jährige ihre Hängematte für die heißen Sommernächte aufgespannt. Eine schmale Leiter führt zu dem Hochsitz im Baum, von wo aus man in sternenklaren Nächten den Vollmond über dem Bodensee sieht. Ein paar Meter weiter hat die zweite Ziehmutter Anne Schmalstieg Quartier bezogen: fünf Quadratmeter, auf denen alles Platz hat, was sie braucht. Daneben parkt Johannes Fritz, Pilot, Verhaltensbiologe und Projektleiter, in seiner rollenden Arbeits- und Schlafstätte. 33 Waldrappe bewohnen in Sichtweite eine Voliere. Seit dem 25. Mai leben sie samt ihren beiden Ziehmüttern am Bodensee. Hier werden sie trainiert, einem Ultraleichtflugzeug über die Alpen in ihr Überwinterungsgebiet in der Toskana zu folgen. Denn der Waldrapp ist ein Zugvogel, aber mit der Ausrottung der europäischen Bestände im Mittelalter ging auch die Zugtradition verloren. Im Rahmen des Europäischen LIFE+-Projektes „Reason for Hope“ – Grund zur Hoffnung – soll er wieder angesiedelt werden und eine neue Zugroute lernen.

Schön ist er nicht, mit seiner Glatze, den abstehenden zauseligen Federn und dem roten Säbelschnabel. Aber lustig, sagt Corinna Esterer. Waldrappe besitzen ausgeprägte Eigenheiten. Mit Zwitschern und heftigem Kopfnicken begrüßen sie ihre vermeintlichen Eltern. Kuscheln mit ihnen und picken sie sanft in den Oberarm. Es gibt allerdings auch rabiate Exemplare. „Manche sind grob und hacken“, sagt Corinna Esterer. „Andere wollen immer unsere Aufmerksamkeit und sind lästig.“ Wieder andere sitzen nur bei Mama auf dem Arm. „Jeder hat Charakter.“ Und jeder einen Namen. Mowgli zum Beispiel ist sehr schüchtern und ruhig. Afra ist eine Liebe. Und Rambo ist halt Rambo.

Seit 2014 ziehen Corinna Esterer und ihre Kollegin Anne Schmalstieg Waldrappküken groß. Von Mitte April, wenn sie geschlüpft sind, bis Mitte September, wenn sie ausgewildert werden, sind die beiden von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang für sie da. Solange die Vögel klein sind, spucken die Frauen ihnen ins Essen, damit sie Schleimstoffe und Verdauungsenzyme bekommen, deshalb verzichten sie auf Kaffee, Alkohol und Nikotin. Sind die Tiere größer, werden sie dreimal täglich gefüttert: mit Heimchen und Mehlwürmern, gemahlenen Mäusen, Ratten, Eintagsküken und Rinderherz. Fürs Privatleben bleibt ein halber Tag pro Woche.

Anfangs werden die Küken jede Stunde gefüttert. Immer mit den selben Worten: „Kommt, kommt, Waldis, kommt , kommt.“ Es ist das Erkennungssignal, dass es Essen gibt. Immer wieder hören die Vögel diese fünf Wörter ihrer Ziehmütter im gelben Shirt – der Erkennungsfarbe. Abgesehen von eigenen Essenspausen sind die Ziehmütter ununterbrochen in der Voliere bei ihren Schützlingen. Das prägt. Die Vögel erkennen ihre Ersatzeltern ein Leben lang.

Dieses emotionale Band ist der Schlüssel für den Erfolg des Ansiedelungsprojektes, erklärt Johannes Fritz. Es ist der Grund, warum die Vögel im Herbst dem Ultraleichtflugzeug mit ihrer Ziehmutter folgen. „Wenn wir die Alpen überfliegen, folgen sie Hunderte von Kilometer dem Fluggerät mit den Ziehmüttern, weil diese enge soziale Bindung besteht.“ Für Fritz einer der faszinierendsten Aspekte in der Zusammenarbeit mit den jungen Waldrappen.

13 Jahre hat die Machbarkeitsstudie gedauert, die dem EU-Projekt voranging. Der promovierte Biologe hat an der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau mit Kolkraben und Graugänsen gearbeitet. Der Waldrapp kam Anfang der neunziger Jahre als dritte Tierart für die Grundlagenforschung dazu. Die aus Zoos stammenden und mit der Hand aufgezogenen Tiere konnten sich in Grünau frei bewegen. Doch im Spätsommer packte sie plötzlich das Fernweh. „Sie sind losgeflogen und haben sich über ganz Europa verteilt.“ Vollkommen orientierungslos. Einer konnte gerade noch in Russland vor dem Erfrieren gerettet werden. Im nächsten Jahr das selbe Spiel. „Uns war klar, dass es sich um ein genetisch fixiertes Zugverhalten handelt.“ Doch da der letzte Waldrapp als Zugvogel bereits vor 400 Jahren in Europa ausgestorben ist, gab es keinen Leitvogel mehr, der die Richtung weisen konnte.

Also wurde Johannes Fritz der Leitvogel. Im Kino lief damals der Spielfilm über einen kanadischen Erfinder, der Kanadagänse mit seinem Ultraleichtflugzeug in den Süden lotste: „Amy und die Wildgänse“. Die Forschungsstelle Grünau kaufte das erste Fluggerät, Fritz machte den Pilotenschein und gründete das Waldrapp-Team. In der Toskana wurde ein Überwinterungsgebiet gefunden. „Wir wissen nicht, wo Waldrappe früher überwintert haben“, sagt Fritz. „ Möglich, dass wie beim Weißstorch die östlichen Populationen über den Bosporus und die westlichen über Gibraltar nach Afrika gezogen ist. Vielleicht sind einige auch in Europa geblieben.“ Der Waldrapp ist genügsam. Als Kulturnachfolger benötigt er extensiv bewirtschaftete Wiesen und Felder, wo er sich mit seinem langen spitzen Schnabel Würmer und Larven aus der Erde pickt. So wie in der Lagune von Orbetello, einem WWF-Naturschutzgebiet.

2003 migrierten die ersten von Hand aufgezogenen Waldrappe von der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau nach Orbetello. „Wir waren damals ein kleiner Trupp von Leuten mit wenig Geld und Know-how.“ Inzwischen wird die Ansiedelung des Waldrapps von der EU in Rahmen des Umweltprogramms LIFE+ gefördert und beschäftigt zwölf festangestellte Mitarbeiter. Das Projekt „Reason für Hope“ läuft über sechs Jahre: von 2014 bis 2019. Gesamtbudget: 4,3 Millionen Euro. Die Hälfte trägt die EU, die andere Hälfte hat der Förderverein Waldrapp über Sponsoren besorgt.

„Unser Ziel ist es, an drei Brutkolonien insgesamt 120 wildlebende Tiere zu haben“, erzählt Johannes Fritz. Alle Standorte liegen im historischen Verbreitungsgebiet der Waldrappe: Burghausen in Bayern, Kuchl bei Salzburg und Überlingen am Bodensee. Nach Burghausen und Kuchl sind bereits die ersten geschlechtsreifen Tiere zurückgekehrt und brüten. In Überlingen wurden 2017 die ersten Küken großgezogen. Sie werden 2020 wieder an den Bodensee zurückkehren, um Nachwuchs zu bekommen. Genau hier werden sie in zwei Jahren landen, ist Fritz überzeugt. Im Trainingscamp neben dem Sportplatz von Hödingen, wo sie flügge geworden sind. Ihr eigentliches Brutgebiet liegt 800 Meter Luftlinie entfernt. In den urzeitlichen Molassewänden am Bodenseeufer befinden sich die Felsnischen, in denen die Waldrappe vor 400 Jahren Nester gebaut und Jungen großgezogen haben.

Mit einer List, die bereits in Kuchl funktioniert hat, gehen die Biologen um Johannes Fritz ans Werk. Auf einer Wiese zwischen Trainingscamp und Molassefelsen wird das Team eine Voliere mit Kunstfels-Nischen für die Waldrappe bauen. „Sie werden dort ihre Nester bauen und anfangen zu brüten“, ist Johannes Fritz überzeugt. „Sind die Küken geschlüpft transferieren wir Nester samt Eltern und Jungen mittels einer Hebebühne in die natürlichen Felsnischen.“ Die Jungen werden auf die Molassefelsen geprägt und später selber hier brüten.

Im Camp ist es inzwischen Abend geworden. Corinna Esterer und Anne Schmalstieg bereiten das Essen für ihre Schützlinge zu. Corinnas Hund Smarac hat den Tag verschlafen. Er ist nicht mehr der Jüngste und hört auch nicht mehr gut. Camp-Assistentin Zsofia Puskas verabschiedet die letzten Besucher. Eine Familie mit zwei Kindern, die hier Urlaub macht. „Sie haben sich nach den Vögeln vom vergangenen Jahr erkundigt“, erzählt sie. Im Grunde lief alles wie immer: Die Waldrappe folgten brav den Fluggeräten und ihren Ziehmüttern und wurden in der Toskana ausgewildert. Doch statt sich den andere Waldrappen in der Lagune anzuschließen, spaltete sich eine Gruppe ab und flog führerlos weiter gen Süden. „In Sizilien konnten wir noch einige von ihnen einfangen, doch der größte Teil gilt offiziell als vermisst.“ Vermutlich sind die Vögel im Mittelmeer ertrunken. Das Waldrapp-Team hat daraus gelernt: „Wir werden die Entwöhnungsphase diesmal bis Ende Oktober, Anfang November hinauszögern, damit der hormonell gesteuerte Zuginstinkt vorbei ist“, erklärt Zsofia Puskas.

Johannes Fritz lässt den Tag am Laptop in seinem Bus ausklingen. Die Waldrappe machen Fortschritte, er ist zufrieden. „Wir erreichen bereits dieses Jahr unser Projektziel: 120 wildlebende Waldrappe.“ Seine Mission ist damit nicht beendet. Auf der Festplatte des Computers schlummert bereits der Folgeantrag für das nächste EU-Projekt. „Wir brauchen 350 bis 400 Individuen, um von einer überlebensfähigen Population sprechen zu können.“ Eine weitere Brutkolonie in der Schweiz ist geplant.

Außerdem gilt es, die häufigsten Todesursachen der Vögel zu bekämpfen: illegale Jagd und Stromschlag. Durch Informationskampagnen und Zusammenarbeit mit italienischen Jagdverbänden wurden die Abschusszahlen zwar massiv gesenkt. Doch 20 bis 25 Prozent der Waldrappe verliert das Team immer noch durch illegale Abschüsse in Italien. Zum Glück setze langsam ein Umdenken ein, die illegale Jagd sei kein Kavaliersdelikt mehr, erzählt Johannes Fritz. 2016 wurde ein italienischer Jäger, der zwei Waldrappe in der Provinz Livorno abgeschossen hatte, zu einer Geldstrafe von 2.000 Euro verurteilt und musste seine Jagdlizenz abgeben. Anne Schmalstieg hatte die beiden, mit Sendern ausgerüsteten Tiere damals aufgespürt, konnte sie aber nicht mehr retten. Sie verbluteten, von Schrotkugeln durchsiebt. 2017 bestätigte der Oberste Gerichtshof das Urteil.

Das zweite Problem sind die Masten von Mittelspannungsleitungen, die zur tödlichen Gefahr für Groß- und Greifvögel werden können, die dort rasten. In Deutschland müssen sie durch sogenannte Vogelschutzhauben gesichert sein. In Italien und Österreich gibt es nicht einmal eine politische Initiative für solche Schutzmaßnahmen. Noch nicht.

„Kommt, kommt, Waldis, kommt, kommt.“ Während Johannes Fritz den Laptop zuklappt, ist aus der Voliere wieder der leise Singsang zu hören. Essenszeit! Wahrscheinlich war Rambo wieder die erste, die sich auf ihre Ziehmütter stürzte, um den größten Brocken zu ergattern. Mowgli jedenfalls war es nicht. Der hat schon beim Training am Morgen den Abflug verpasst …

Nachtrag: Von Mitte Juni bis Mitte August trainierten Corinna Esterer und Anne Schmalstieg mit den Vögeln. Am 15. August sind die beiden Ziehmütter und die Piloten in zwei Ultraleichtflugzeugen Richtung Toskana gestartet und am 28. August in der Lagune von Orbetello ange- kommen. Drei Winter werden die Waldrappe dort bleiben, um als erwachsene Vögel nach Überlingen zurückzukehren und ihren eigenen Nachwuchs in den Felsnischen am Bodensee großzuziehen.