Zeitenspiegel Reportagen

Landwirtschaft rot-grün

Erschienen in "natur" 04/15. Fotos: Katharina Hesse

Von Autor Markus Wanzeck

Chinas Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie stecken in der Vertrauenskrise. Die Biobewegung wächst. Gerade gut gebildete Städter sind es, die bewusster einkaufen, Gemüse selbst anbauen – oder gleich ein ganz neues Leben beginnen.

Der Fußweg von der U-Bahn-Station Sanyuanqiao führt vorbei an den Hochglanz- und Breitwandaltären der chinesischen Mittelschicht: Schaufenstern von Calvin Klein, Lacoste, Bose; vorbei an Hunderten Sonntagsausflüglern, die sich durchs Neonlicht der „Galleria Shopping Mall“ schieben; eine letzte Rolltreppe, hinauf in die gleißende Wintersonne, und man steht auf einer Hochhäuserlichtung: Verkaufsstände, Pappkartons, Körbe randvoll mit Kohl und reifen Tomaten, Pyramiden aus Rettichen, an denen braune Erdkrumen hängen. Der Pekinger Bio-Bauernmarkt könnte fast als Klischeemotiv für den Reiseführer herhalten: „Stadt der Kontraste – inmitten der modernen Mega-Metropole bietet noch immer einfaches Landvolk seiner Felder Früchte feil, um den kargen Lebensunterhalt zu bestreiten.“

Fast. Denn weder führen die Verkäufer ein karges Leben, noch sind sie Landvolk, noch einfach, im Sinn von bildungsfern. Sie sind nicht Überbleibsel einer verblichenen Ära, sondern das Zeichen einer neuen, selbstbewussten Gegenbewegung, die Chinas Wirtschaftswunderweg – Wachstum, Industrialisierung, Urbanisierung, husch, husch! – in Frage stellt. Obwohl oder gerade weil viele aus der Bewegung schon ein gutes Stück dieses Weges zurückgelegt haben.

Hier auf dem Bio-Bauernmarkt versammeln sich Menschen wie Yang Yifang, die in den Marketing-Abteilungen von europäischen und US-Technologiefirmen Karriere gemacht hat. 2014 kündigte Yang ihren Job und ihre Karriere. Mit 52 Jahren. „Ein Alter“, sagt sie, „in dem man vieles hinterfragt, auch grundlegende Dinge.“ Nun steht Yang auf dem Wochenmarkt, im Schatten der Hochhäuser. Über der gefütterten Jacke trägt sie eine grüne Schürze. Sie sagt, sie sei glücklich heute. Sie hat auf einer kleinen Öko-Farm angeheuert, wo sie „womöglich unser bester Kunde“ ist. Gewinn lässt sich auf diese Weise schwerlich erwirtschaften. Aber der Verlust der Farm, vor vier Jahren gegründet, wird immer geringer, erklärt Yang: „Ökologische Landwirtschaft ist im Kommen.“

Vor sechs Jahren fand der erste kleine Bio-Bauernmarkt in Peking statt, Monate vergingen bis zum zweiten. Inzwischen gibt es ihn zweimal wöchentlich an wechselnden Orten. Dutzende Biolandwirte haben sich dem Netzwerk angeschlossen. Ähnliche Märkte haben sich in anderen Großstädten etabliert, in Chengdu, Guangzhou, Xi‘an.

Noch ist die chinesische Biobewegung ein zartes Pflänzchen, das auf nur etwa 0,4 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche gedeiht. Zum Vergleich: In Deutschland beträgt der Anteil des Ökolandbaus das Sechzehnfache, in der Schweiz ist er 30 Mal, in Österreich sogar 50 Mal so groß. Doch die Zuwachsraten sind beeindruckend. Seit 2007 wuchs der chinesische Markt für Biolebensmittel um mehr als das Vierfache. Die größten Zuwächse gibt es in den Großstädten.

„Der Binnenmarkt für Biogemüse boomt“, so eine Studie zur weltweiten Biolandwirtschaft, die im Februar von der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen (IFOAM) und dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) veröffentlicht wurde. Die Studie enthält, zum ersten Mal, offizielle Daten für China. Demnach erreichte der chinesische Markt für Bioprodukte im Jahr 2013 ein Volumen von 2,4 Milliarden Euro. Im globalen Vergleich liegt er damit auf Anhieb auf dem vierten Platz, nach den USA (24,3 Milliarden), Deutschland (7,6 Milliarden) und Frankreich (4,4 Milliarden).

„Es gibt immer mehr Menschen, die bereit sind, für Obst und Gemüse mehr als das Doppelte des Supermarktpreises zu bezahlen“, sagt Yang Yifang. „Wenn sie dafür den Lebensmitteln vertrauen können.“ Zwar hat der technologische Fortschritt das Hungerproblem gelöst. Noch vor einer Generation war es den meisten Chinesen nur darum gegangen, irgendwie den Bauch voll zu bekommen. Auch Yang erinnert sich noch daran. „Das ist zum Glück vorbei. Doch heute haben wir ganz neue Probleme. Die Medien und das Internet sind voll von Lebensmittelskandalen.“

Als Greenpeace kürzlich auf Märkten und in Kaufhäusern der Metropole Guangzhou den Pestizidgehalt von Gemüse testete, lag jede dritte der 133 Proben über den nationalen Grenzwerten, in einem Fall um mehr als das Sechzigfache. Um den Jahreswechsel verhaftete die Polizei landesweit über hundert Personen, darunter geschmierte Staatsbedienstete, und konfiszierte Hunderte Tonnen Fleisch von Schweinen, die an Krankheiten verendet waren. Über Jahre hinweg sollen solche Kadaver zu Steaks, Wurst und Schmalz verarbeitet worden sein. Jeder in China kennt die unappetitlichen Geschichten, die unter Schlagworten wie „Gossen-Speiseöl“, „Kadmium-Reis“ oder „Fake-Fleisch“ seit Jahren die Runde machen. Die wohl folgenschwerste ist der Milchskandal von 2008, als Säuglingsnahrung, um einen höheren Eiweißgehalt vorzutäuschen, mit Melamin gepanscht wurde. Die Folge waren Hunderttausende Krankheits- und einige Todesfälle. Dieser Schock wirkt bis heute nach – und bis in die Supermärkte von Berlin, Hamburg, Stuttgart. Noch immer räumen hier chinesische Gaststudenten regelmäßig die Regale mit dem Milchpulver leer. In manchen Filialen hängen Hinweisschilder: „Verkauf nur in handelsüblichen Mengen.“

Die Verbraucher müssen Vertrauen fassen, dann, ist sich der 34-jährige Biolandwirt Sun Xiucai sicher, „ist alles andere ganz einfach, dann wächst alles wie von selbst.“ Sun, blaues Jackett über dem T-Shirt, hat Agrarwissenschaften studiert. Für die moderne chinesische Landwirtschaft hat er nicht viel übrig, auch weil er viele Jahre ein Teil davon war: „China verfügt über gerade einmal sieben Prozent der weltweiten Ackerflächen, aber verbraucht 30 Prozent allen Düngers. Das muss man sich mal vorstellen!“ Der Staat subventioniert die Düngerindustrie mit rund 15 Milliarden Euro im Jahr. Sun Xiucai kommt aus einer Bauernfamilie. Seine Eltern bestellen bis heute ihre Felder, doch wenig ist noch, wie es einmal war. Flurbereinigung, Automatisierung, synthetischer Dünger, Pestizide: „Ackerbau ist ein einfaches Geschäft geworden“, sagt Sun. „Aber keines mit Zukunft. Das wird auf Dauer furchtbar schief gehen.“

Vom Ökolandbau allein, sagt Sun, könne man freilich kaum leben. Das rechne sich nur, wenn man es schaffe, möglichst große Teile der Wertschöpfungskette zu kontrollieren, das Marketing, den Verkauf. Er plant, Anbauflächen im Pekinger Umland zu pachten und an Hobby-Biogärtner unterzuvermieten: „Das ist ein neuer Trend in Peking. An den Wochenenden fahren Familien aus der Stadt, um frische Luft zu schnappen und ihr Feld zu bestellen.“

Tong Jia, 39, war einer derjenigen, die diesen Trend mitbegründeten. 30 Autominuten nördlich von Peking, Beitai Highway, 13. Ausfahrt, liegt seine „Löwenzahn-Kommune“, drei Hektar groß. Katzen schlummern in der Sonne. Riesenschatten huschen im Minutenabstand über den Hof – der nahe Flughafen. Ein Huhn krakeelt. Die alte Frau, die es festhält, greift lächelnd nach seinem Hals und dreht ihn um. Dann macht sie sich ans Rupfen. Für 30 Jahre hat Tong Jia das Gut gepachtet. Um Bio-Obst und -Gemüse anzubauen, das er via Internet anpreist und per Kurierdienst an seine Kunden ausliefern lässt. Und um das Land, akkurat in 30-Quadratmeter-Parzellen unterteilt, an gesundheitsbewusste Stadtmenschen zu vermieten. Gutes Gemüse gegen gutes Geld. „Als ich 2010 mit der Farm begann, gab es vielleicht eine Handvoll solcher Do-it-yourself-Biobauernhöfe“, sagt Tong. „Heute sind es schon mehr als 100 rings um die Stadt.“

60 Untermieter hat Tong Jia bereits gefunden – wie den jungen Familienvater, der seit drei Jahren zweimal die Woche kommt, oft mit seinen Kindern, damit sie sehen, dass es Schweine wirklich gibt, nicht nur als leuchtend pinke Cartoon-Figuren. Inzwischen verlassen jede Woche um die 100 Fünf-Kilo-Pakete Tong Jias Hof, Obst, Gemüse, Fleisch von Schweinen und Hühnern in Bio-Qualität. Er möchte expandieren, sagt Tong, doppelt so groß könnte die Kommune bald sein oder fünffach, warum nicht? Denn langsam beginne es sich zu rechnen. Drei Jahre lang glich er die Anfangsverluste der Farm mit seinem gutdotierten Job als Kreativdirektor einer Werbeagentur aus. Als 2013 das rettende Ufer in Sicht war, kündigte er.

In der Provinz Hebei, 80 Kilometer südwestlich von Peking, leben mehr als 70 Männer und Frauen, die die Karrierewege des „Chinesischen Traums“ ebenfalls verlassen haben – die meisten von ihnen noch ein paar Etappen früher als Tong Jia: direkt nach dem Studium. Auch hier, auf dem „Hof des rechtschaffenen Pfades“ in Gaobeidian, versenden sie wöchentlich Kartons mit Bio-Rohkost an Abonnenten. Vor allem aber bauen sie auf gut zehn Hektar für sich selbst an, was sie zum Leben brauchen. Der 24-jährige Luo Shaoxuan, studierter Chinesischlehrer. Liu Bin, 25, der ein Bergbaustudium absolviert hat und aus der Zeitung von dem Hof erfuhr. Die 22-jährige Wang Fen aus Sichuan, die Physik studierte, aber nicht wusste, wofür. Nun hockt sie im Gewächshaus und reibt mit ihren Wollhandschuhen über die Blätter der Erdbeeren. Wofür? Um sie von Schädlingen zu befreien, ohne chemische Keule. „Mir gefällt es zu sehen, dass ich etwas Gutes bewirken kann“, sagt sie. „Und ich weiß, wir können alles guten Gewissens essen.“

Der „Hof des rechtschaffenen Pfades“, gegründet im Frühjahr 2013, ist die denkbar radikalste Abkehr von konventioneller Landwirtschaft und einem konventionellen Lebenslauf im modernen China, das in die Städte, Bürotürme, Wohnsilos strebt. Ohne viel Idealismus könnte ein solches Projekt nicht gedeihen. Die jungen Neu-Landwirte bekommen nur eine kleine Entlohnung, umgerechnet keine 200 Euro im Monat. Wer nur auf Zeit oder noch auf Probe arbeitet, tut das ehrenamtlich. Kost und Logis sind für alle frei.

Die Idee für den Hof hatte Han Deqiang, 47, einer der bekanntesten Maoisten Chinas. Vermögende Freunde halfen ihm, sie zu verwirklichen. Er sieht den Hof als real existierende Utopie im Sinne Maos, des „Großen Steuermanns“, der in den 60er Jahren Millionen gebildete Jugendliche aufs Land sandte, wo sie körperliche Arbeit zu verrichten hatten. An der rechten Seitenwand des Hauptgebäudes prangt ein riesiges Plakat mit dem Konterfei des Soldaten Lei Feng, der von Mao für seine Bescheidenheit, seine Selbstlosigkeit und seinen Fleiß einst zum Nationalhelden erkoren worden war. An der linken ein ebenso großes, das Han Deqiang zeigt, neben einem selbst verfassten Gedicht: „Dankt der Sonne, den warmen Strahlen, der großen Erde und den 1000 Pflanzen. Dankt den Menschen, die wissen, sie anzupflanzen.“ Die Zeilen werden von der Hofgemeinschaft vor jeder Mahlzeit rezitiert, morgens, mittags, abends.

Tagsüber lehrt Han Deqiang als Wirtschaftsprofessor an einer Pekinger Universität. Danach kommt er oft rausgefahren, nach Gaobeidian, auf seine kleine Mao-Farm. Auch heute, an einem klirrend kalten Novemberabend. Professor Han, filigrane Brille, schwarzes Sakko, bittet in das unbeheizte Hauptgebäude der Farm, nimmt auf einem Sofa Platz. Was man gerne wissen möchte, fragt er, freundlich lächelnd.

Was, Herr Han, hat Biolandwirtschaft mit Mao Zedong zu tun?

„Nun, alles hängt zusammen: Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt. Wenn es nur darum geht, schnell Geld zu machen, möglichst viel zu produzieren und zu ernten, zerstört das Gesellschaft und Umwelt gleichermaßen. Das ist nicht nachhaltig. Und damit das Gegenteil von Maos Losung ‚Dem Volke dienen!‘.“

Mao ist aber nicht gerade für einen grünen Daumen bekannt.

„Er hat sicherlich nicht alles richtig gemacht, ließ etwa Stauden zu nah beieinander pflanzen, sodass sie eingehen mussten. Viel wichtiger aber ist: Er hatte erkannt, dass eine Gesellschaft zerbricht, wenn die Schere zwischen Arm und Reich sich zu weit öffnet.“

Und darunter leidet die Umwelt?

„Eine Herausforderung wie die Umweltzerstörung ist nur zu meistern, wenn die Menschen sich füreinander verantwortlich fühlen.“

Später, beim Abendessen im Kantinenzelt, erzählt Han, manchmal würden besorgte Eltern auf dem Hof stehen, um ihren Sohn, ihre Tochter zurückzuholen vom „rechtschaffenen Pfad“, der weder Geld, noch Karriere, noch ein Familienleben verspricht. Manche der Jugendlichen kehrten später aber wieder auf den Hof zurück. Und einmal, darauf ist Professor Han stolz, war es so, dass die Eltern, anstatt dem Hof ihr Kind wegzunehmen, selbst geblieben sind.

Nächster Morgen, Viertel nach sechs. Die Sonne ist noch hinterm Horizont, das Thermometer noch unter null, als die jungen Öko-Maoisten sich zum Fahnenappell versammeln, zur Feier des Tages. Es ist der Winterbeginn des chinesischen Mondkalenders. Im Scheinwerferlicht stehen sie stramm, vier Reihen, und singen. Eine rote Flagge steigt in den schummrig grauen Himmel. Professor Han lächelt zufrieden.

Anschließend geht der Tag seinen üblichen Gang: Eine gemeinsame Tai-Chi-Einheit. Gemeinsames Frühstück. Gemeinsame Feldarbeit. In den Gewächshäusern wischen sie die Erdbeerblätter ab. Auf den Dächern legen sie Strohmatten aus, der Frost kann kommen. Im Lager zerteilen sie mit scharfen Beilen Wintermelonen, wickeln sie in Frischhaltefolie, packen sie in Versandkartons.

Vor dem Lagerhaus hockt eine junge Frau. Sie singt und schrubbt Ginsengwurzeln in einem Wasserbottich, die Wangen gerötet von der mühseligen Arbeit und der kalten Luft. Wu Koutian, so heißt sie, stammt aus der Millionenstadt Schenyiang im Nordosten der Volksrepublik, hat Chinesisch studiert. Seit einem halben Jahr lebt die 23-Jährige auf dem Hof, und hier, erzählt sie, habe sie so etwas wie ein Erweckungserlebnis gehabt: „Ich würde sagen, ich habe ein Umweltbewusstsein entwickelt. Davor hatte ich nur ein ganz oberflächliches Wissen um Chinas Umweltprobleme, aber richtig verstanden habe ich nichts davon.“

In ihr altes Leben zurückzukehren? Kann sich Wu nicht mehr vorstellen. Geld verdienen? „Geld?“, fragt sie. „Brauche ich nicht mehr.“ Hier seien alle füreinander da. Jeder bekomme gesundes Essen. Das, sagt Wu, sei doch mehr, als die meisten Menschen in China von sich sagen könnten. Man kann das so sehen: In einem Land, in dem gesundes Essen immer mehr zum Statussymbol wird, führen Wu Koutian und ihre Mitstreiter eine Art Luxusleben.