Zeitenspiegel Reportagen

Megafaktor Demografie

Erschienen in "akzente", 01/2013

Von Autor Jan Rübel

Über Jahrzehnte fristete die Demografie als Wissenschaft ein Nischendasein. Heute kommt niemand an der Bevölkerungswissenschaft vorbei. Aus ihren Befunden und Prognosen lassen sich Erkenntnisse und Empfehlungen an die Politik ableiten, die über sozialen und wirtschaftlichen Erfolg entscheiden.

In Meseberg im ostdeutschen Brandenburg waren schon viele Staatenlenker zu Gast: Das Barockschloss ist Gästehaus der Bundesregierung. Hubschrauberlärm und Fahrzeugkolonnen repräsentativer Limousinen kennt man hier. Der Alltag der Dorfbewohner aber sieht anders aus.

Vor dem Schloss steigt Uwe Krause, 68, in einen grauen Kleinbus und knurrt: „Meine Zündapp macht es wohl nicht mehr lange. Die Zündkerzen sind oll.“ Er setzt sich auf die Rückbank neben Christa Stenzel, die mit einem Griff ins braun gefärbte Haar die Spannung ihrer Frisur überprüft; sie lächelt ihn an. „Meine Vespa ist auch kaputt“, sagt die 79-Jährige. „Mein Sohn hat sie mir nun weggenommen. Reparieren lohnt nicht, sagt er.“ Im 150-Seelen-Örtchen Meseberg ist der von Ehrenamtlichen gefahrene Bürgerbus ein wichtiges Verkehrsmittel, schlechthin der Anschluss an die Außenwelt. Öffentliche Einrichtungen gibt es nicht, das letzte Geschäft hat vor 15 Jahren geschlossen.

Meseberg hat ein demographisches Problem. Die Jungen sind weg, weil es keine Arbeit und Zukunftsperspektiven für sie gibt. Um den Wegzug und noch dazu die Sterbefälle in Brandenburg auszugleichen, müssten laut Statistischem Bundesamt in jedem Familienhaushalt 2,13 Kinder in jedem Familienhaushalt geboren werden. Tatsächlich sind es nur 1,4. In der Region um Meseberg entvölkern sich die Dörfer, die Natur erobert Terrain zurück.

9000 Kilometer südlich von Meseberg, im Umkhanyadue-Distrikt von Kwazulu-Natal, Südafrika, steigt ein Mann aus einem grünen Landrover. Am Anhänger klappen beide Seitentüren hoch zu einem Dach, im Nu baut er einen Tisch mit Computer auf – und ist ebenso schnell umringt von Jugendlichen. „Nicht so hastig“, lacht er. Mpilonhle heißt seine Organisation auf Zulu, „Gutes Leben“. Die Jugendlichen üben sich am Computer, werden über Aids-Prävention aufgeklärt und sprechen mit dem Sozialarbeiter über ihre Probleme. Dessen Landrover ist eine Art Lernmobil. „Wir sind eine Anlaufstation“, sagt er, „damit sich die Kids klar über ihre Situation werden – und sich fortbilden“. Eigentlich hätten die Jugendlichen Anlass zur Hoffnung: Das robuste Wirtschaftswachstum sollte ihnen genügend Jobs bescheren, doch es gibt ein Problem: Das wirtschaftliche Wachstum und der Wohlstand sind ungleich verteilt – und kommen bei der Jugend im ländlichen Umkhanyadue nicht an. Daher setzt Mpilonhle die Bildung auf Räder. „Nur wer lernt, kann der Armut entkommen.“

Brandenburg und Kwazulu-Natal haben eine Gemeinsamkeit. Wollen sie die Abwanderung stoppen, müssen sie reagieren und gerade den jungen Menschen eine lebenswerte Zukunftsperspektive verschaffen. Dazu müssen sie mit Gewohnheiten brechen und sich, ganz wörtlich, in Bewegung setzen. Was in Meseberg die „Bürgerbusse“ sind, heißt in Umkhanyadue „Mobile Units“. Wer Bevölkerungstrends gewahr wird und sich ihnen stellt, wahrt Zukunftschancen.

Die Demographie liefert hierfür die Fakten. Diese Wissenschaft untersucht an Hand der drei Teilgebiete Geburtenrate, Sterberate und Migration die Entwicklungen innerhalb einer Bevölkerung. Somit ergeben sich Stellschrauben zum Eingreifen wie Familienplanung, Altersvorsorge, berufliche Bildung und Gesundheitsdienste. Länder können voneinander lernen, wobei es aber keine Patenrezepte gibt; jedes Land braucht eine maßgeschneiderte Lösung.

Das Kind hat einen Namen

Mit der Wahrnehmung demographischer Trends verhält es sich wie mit einer Fieberkurve. Nicht immer stand Demographie hoch im Kurs. Als der Biologe Paul Ehrlich 1968 das Buch „Die Bevölkerungsbombe“ veröffentlichte, schreckte er die Weltöffentlichkeit mit seinen Warnungen vor Hungerkatastrophen auf. Diese seien unausweichlich, menetekelte er, weil die materiellen Ressourcen für die Überbevölkerung nicht ausreichten. „Überbevölkerung“ geriet zum „Reizwort“, wurde als Ursache für viele Probleme ausgemacht – und Staaten legten Programme zur Familienplanung auf; China gar verordnete seiner Bevölkerung die Ein-Kind-Politik. Doch auch weil Ehrlich in Teilen seiner Voraussagen irrte, prägte Demographie seit den Achtzigern immer weniger öffentliche Debatten. Der Glaube an die Macht des Wirtschaftswachstums wurde wieder en Vogue: Durch eine erfolgreiche wirtschaftliche und soziale Entwicklung, so glaubte man lange Zeit, würde zum Beispiel in den Ländern Afrikas südlich der Sahara die Überbevölkerung von allein zurückgehen. Tat sie aber nicht. Noch die Millenniumsentwicklungsziele (MDG) der Vereinten Nationen von 2001 nannten den Begriff der Demographie nicht beim Namen. Doch mit der Jahrtausendwende feiert die Demographie ein Comeback. Zum einen haben der Klimawandel und gestiegene Lebensmittelpreise für eine Sensibilisierung breiter Bevölkerungsteile gesorgt. Und zum anderen haben Demographen ihren Blick geschärft: Nicht nur die bloße Größe von Bevölkerungen haben sie im Blick, sondern zunehmend ihre Zusammensetzung, die Beziehungen der verschiedenen Altersgruppen zueinander, die regionale Verteilung innerhalb eines Landes sowie zunehmend auch die internationale Migration und Demographie als globales Thema. Sie fordern von der Politik mehr Gehör: Die Stiftung Weltbevölkerung in Berlin schätzt, für Familienplanung müssten weltweit jährlich 6,7 Milliarden Dollar investiert werden; doppelt so viel wie derzeit – dabei wäre das Geld zur Vermeidung noch viel höherer Kosten gut angelegt.

Und die Zeit drängt. Vier demographische Megatrends hat der Soziologe Jack Goldstone ausgemacht, welche die Geschicke der Menschheit maßgeblich bestimmen werden. Erstens wird die Weltbevölkerung bis 2050 auf 9,2 Milliarden Menschen anwachsen. Zweitens wird bis 2050 die Zahl der über 60-Jährigen von heute 780 Millionen auf zwei Milliarden Menschen steigen. 80 Prozent dieser älteren Menschen werden in Entwicklungs- und Schwellenländern leben. Drittens wächst genau dort die größte Gruppe junger Menschen heran, die es jemals gab. Da es zunehmend schwieriger für sie wird, ihre Zukunftserwartungen zu erfüllen, erhöhen sich Frust und Gewalt; sie wandern dorthin, wo sie für sich mehr Zukunft sehen. Der vierte Megatrend schließlich ist die Urbanisierung. Bis 2050 wird die Menschheit zu über zwei Dritteln in Städten leben, ein großer Teil davon in Megacities in Schwellen- oder Entwicklungsländern

Diese Megatrends erscheinen alternativlos. Und dennoch kann kluge Politik viel unternehmen, um sei zu beeinflussen oder um ihre Folgen zu meistern. Das Wissen der Demographen hilft ihr dabei.

Bonus und Dividende: Eine Tour d’horizon

Einen guten Ausgangspunkt für materiellen Wohlstand schafft sich eine Gesellschaft, wenn die Erwerbsfähigen zahlreicher sind als die „Abhängigen“, also Kinder und Alte. Eine solche Gesellschaft hat einen so genannten „demographischen Bonus“. Dieser Bonus entsteht zumeist, wenn eine Gesellschaft ihre hohe Geburtenrate senkt, mehr Kinder überleben oder gesund aufwachsen und die Sterblichkeit unter den Erwachsenen sinkt. Dieser demographische Bonus hat freilich ein Zeitfenster: Sinken die Geburten, wird in ferner Zukunft der Anteil alter Menschen steigen, sich der Bonus also seinem Ende neigen – denn die Erwerbsfähigen werden irgendwann zur Gruppe der „abhängigen“ Alten gehören, während durch den Geburtenrückgang weniger Erwerbsfähige nachrücken.

Die so genannte demographische Dividende ist dabei der volkswirtschaftliche Gewinn, den ein Land durch den Bonus währenddessen einstreichen kann. Doch was bedeutet dies konkret für ein Land? Warum wird dieser Bonus an einer Stelle der Welt gewinnbringend in eine volkswirtschaftliche Dividende umgemünzt und an anderer Stelle nicht?

Eine Reise zu einigen Staaten soll veranschaulichen, wie es sich dort jeweils mit dem demographischen Bonus verhält und wie unterschiedlich die daraus erwachsenden Chancen auf eine demographische Dividende genutzt werden: Nach Südkorea als die Dividende einstreichendes Land, dann nach Nordafrika und in den Nahen Osten als Beispielen für einen nicht genutzten Bonus. Weiter geht es nach Subsahara-Afrika mit seiner von einem Bonus noch weit entfernten Bevölkerungsstruktur – und schließlich nach Deutschland sowie China als Akteuren in der Periode der Post-Dividende.

Noch vor 50 Jahren war das erste Etappenland, Südkorea, ein isoliertes und armes Agrarland. Fünf Kinder pro Familie bildeten den Durchschnitt. Dann entwickelten Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einen umfassenden Ansatz, um das Land voran zu bringen: Es wurde in Bildung und Familienplanung investiert, durch breiten Zugang zu Verhütungsmitteln und einer verbesserten Gesundheitsversorgung von Müttern und Kindern sanken Geburten- und Sterberate – das Land schuf sich einen demographischen Bonus. Und man erkannte etwas zeitversetzt, wie wichtig die Erwerbsbeteiligung von Frauen für den wirtschaftlichen Fortschritt ist. Das generierte Vermögen wurde erneut in Bildung investiert. Heute zählt Südkorea zu den reichen Staaten der Welt. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat in einer Untersuchung von 103 heutigen und ehemaligen Entwicklungsländern nachgewiesen, dass sich kein einziges Land sozioökonomisch entwickelt hat, ohne dass dazu parallel die Geburtenrate zurückgegangen ist.

Doch der demographische Bonus kann sich auch in eine Last verwandeln – und in Gewalt. Im März 2011 sprühten Teenager in der syrischen Stadt Daraa regimekritische Slogans an die Schulmauer. Als die Sicherheitskräfte 15 von ihnen verhafteten, erahnten sie sicherlich nicht den Bürgerkrieg, den sie damit entzündeten. Wenige Tage zuvor waren es ebenfalls Jugendliche, diesmal aus den Slums rund um Kairo, die den Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz gegen die Diktatur Macht verliehen. In beiden Fällen richtete sich jugendlicher Zorn vom Rand der Gesellschaft gegen das Zentrum der Macht. Die arabischen Revolten, die daraus erwuchsen, haben viele überrascht, nicht aber die Demographen. Sie sahen voraus, dass der angestiegene Jugendanteil der arabischen Gesellschaften - eigentlich ein demographischer Bonus - vor allem Frust erzeugen würde, wenn die Politik nichts für die jungen Leute tut. Die Machthaber erhielten nämlich von den jungen Erwerbsfähigen die Quittung für ihre Politik der Vernachlässigung: für die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die nicht erfüllten Hoffnungen vieler Hochschulabsolventen. Und für die fehlende politische Freiheit samt grassierender Korruption. Gerade weil immer mehr Jugendliche in diesen Ländern eine gute Bildung genossen und auf dem Arbeitsmarkt wegen stagnierender Entwicklung der Privatwirtschaft zu wenige Jobs gefunden hatten, entlud sich ihr Zorn.

Damit entwickeln sich Nordafrika und der Nahe Osten zu Blaupausen für unsere dritte Etappenstation, die Region südlich der Sahara, die in einigen Jahren ein ähnliches Unruhepotenzial aufweisen könnte wie die Länder Nordafrikas heute. Doch noch liegen die meisten afrikanischen Staaten zurück, erspähen den möglichen demographischen Bonus nur am Horizont.

Die Region zählt zu den ärmsten weltweit. 73 Prozent der Menschen in Ländern südlich der Sahara leben nach Schätzungen der Weltbank von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Die Geburtenrate liegt bei fast fünf Kindern pro Frau. Der Bevölkerungspyramide fehlt der „Bauch“ der Erwerbsfähigen und Ernährer. Dies hemmt den Aufbau von Wohlstand und das Wirtschaftswachstum.

Die Gründe für den Kinderboom sind vielschichtig. Zwei Faktoren erscheinen aber besonders bedeutsam und bieten eine gute Gelegenheit zur Reaktion: Einer Studie der Beratungsfirma Futures Group zufolge verhüteten 2005 nur 22 Prozent der Frauen – ein stark ausbaubarer Wert. Zum anderen sterben wegen der schlechten Gesundheitssituation viele Kinder. Wenn aber Eltern sich nicht über die Überlebenschancen ihrer Kinder gewiss sein können, führt dies zu mehr Geburten; fehlen doch funktionierende Sozialsysteme. Kinder sind oft die einzige „Versicherung“. Eine aufklärende Familienplanung, Gesundheitsvorsorge und breiter Zugang zu Verhütung würden also helfen. Denn sinkende Geburts- und Sterberaten würden die Region an jenen demographischen Bonus heranbringen, welcher das Wirtschaftswachstum ankurbeln könnte. Ein UN-Bericht stellt dazu fest, dass die internationale Gebergemeinschaft ihre Mittel für Familienplanung zwischen 1997 und 2006 stark heruntergefahren hat.

Weltweit machen Demographen dieselbe Erfahrung: Je gebildeter die Frauen, je autonomer sie in ihren Entscheidungen sind, umso weniger Kinder gebären sie. Eine erfolgreiche Bevölkerungspolitik also, besonders in Staaten mit hohen Geburtenraten wie der Subsahara-Region, ist Bildungspolitik – und vor allem: Eine Politik der Stärkung von Frauen auf allen Ebenen.

Wenn ein Land altert

Andere Regionen haben Prozesse, wie sie zum Beispiel in Afrika anstehen, bereits hinter sich. Vorletzte Etappe unserer Rundreise ist Westeuropa: Früher starkem Bevölkerungswachstum und hohem Kindersterben ausgesetzt, verbesserte sich die Situation seit Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge des medizinischen Fortschritts. Der Industrialisierung folgte ein höherer Bildungsstand, der wiederum das Wirtschaftswachstum unterstützte und den Aufbau von Sozialversicherungen nach sich zog. Schließlich, auf diesem Wohlstandsniveau angekommen, sanken die Fertilitätsraten. Denn Industrialisierung und Verstädterung sorgten mit den höheren Bildungsgraden in der breiten Bevölkerung für einen gesellschaftlichen Wandel. Kinderreiche Bauernfamilien prägten immer weniger die Realität, Kinderreichtum wurde weniger notwendig und weniger gewünscht. So eröffnete sich für Westeuropa ein demographischer Bonus, indem die Geburts- und Sterberaten sanken. Das Deutschland von heute hat sich nun anderen demographischen Trends zu stellen: Laut Statistischem Jahrbuch 2012 sind 2,3 Millionen Deutsche pflegebedürftig. 2030 werden es eine Million mehr sein, und das bei einem Rückgang der Bevölkerung um 17 Millionen bis 2060. So macht der Slogan „Krieg der Generationen“ die Runde. Eine unangebrachte Überspitzung: Die Gemengelage ist zu vielschichtig, als dass sich eine Konfrontationsstellung „alt gegen jung“ herauslesen ließe. Aber es gibt aufgrund der demographischen Trends große Herausforderungen für Deutschland: starker Bevölkerungsrückgang im Osten, Fachkräftemangel, dringend notwendige Reformen bei Renten, in der Pflege und im Gesundheitssystem. Wie können wir ältere Menschen weiter im Berufsleben einbinden und von ihren Erfahrungen profitieren? Womit wir wieder in Brandenburg wären: Im 3600-Einwohner-Städtchen Dahme quetschen sich zwischen die gedrungenen, pastellfarbenen Einfamilienhäuser zwei riesige neue Pflegeheime aus Klinker und Glas. Betreutes und altersgerechtes Wohnen bieten sie an, mit insgesamt 400 Plätzen – und sichern damit die Zukunft Dahmes, auch mit neuen Jobs. „Wir leben hier in der Provinz“, sagt Amtsdirektor Frank Pätzig. „Wir sind heilfroh über die Entwicklung hin zum Dienstleister.“

Mit Blick auf Deutschland bieten sich im Rahmen des erweiterten Gesellschaftszwecks für die GIZ interessante neue Aufgabengebiete. So kann die GIZ deutsche Institutionen dabei unterstützen, durch gezielte Anwerbung von Pflegefachkräften aus anderen Ländern, in denen es eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, den Mangel an Fachkräften hier bei uns zu lindern. Gleichzeitig kann die GIZ mit ihrer breiten, weltweiten Aufstellung Erfahrungen aus anderen Ländern in Debatten und Reformbemühungen in Deutschland einspeisen. Letzte Etappe: Vor ähnlichen, aber noch dramatischeren Problemen als Deutschland steht China. Der demographische Bonus wird bald aufgebraucht sein, die Dividende läuft in einigen Jahren aus. Vorbei die Zeiten, in denen junge Arbeitskräfte zuhauf das Wirtschaftswachstum ankurbelten. China vergreist. 2050 wird das Land, das sich über mehr als drei Jahrzehnte hinweg bis heute eine Ein-Kind-Politik verordnete, von Indien als bevölkerungsreichstes Land überholt werden. Und bis dahin sich auf Formen emotionaler Einsamkeit einstellen: Neben den Alten sind es die Kinder ohne Geschwister, die Männer ohne Frauen – weil viele Mädchen abgetrieben, Jungen als wertvoller erachtet werden.

„Das Reformtempo in China ist beeindruckend“, sagt Günther Taube, bei der GIZ Abteilungsleiter für Bildung, Gesundheit und Soziale Sicherung. „In wenigen Jahren wurden Renten- und Krankenversicherungen für viele Millionen Menschen eingeführt.“ Mit Deutschland teilt China eine Reihe von Ambitionen für die Zukunft: wie Altenpflegedienste gut organisiert werden, wie sich ihr Qualitätsmanagement verbessern und wie sich Gesundheit als ganzheitliches Thema in Betrieben ausbauen lässt.

Eine besondere Herausforderung für alternde Länder ist die „fiskalische Zeitbombe“: Mit der Alterung steigen die Gesundheitskosten, sehen sich Staatshaushalte mehr Belastungen ausgesetzt. Gerade China sieht Grenzen seines staatlichen Handelns entgegen. Der US-Thinktank Brookings hat errechnet, dass in China die Steuern für jeden Beschäftigten binnen der kommenden 20 Jahre um 150 Prozent steigen müssten, um die Alten genauso gut zu versorgen wie heute. Der Austausch zwischen China und Deutschland zu diesen Zukunftsthemen ist in regem Gange. Die GIZ organisiert dafür Plattformen und Dialoge, lädt Experten ein, hat Weiterbildungsangebote für Führungskräfte angeschoben.

Was zu tun ist

Am Ende dieser Tour d’horizon zwischen Bonus und Dividende steht fest: Versäumnisse werden bitter bestraft. Es reicht nicht, dass Demographie, vom Dornröschenschlaf erweckt, nun zum Modewort avanciert. Die Stellschrauben müssen heute gedreht werden. Aber wie?

Demographische Trends wirken sich auf alle wesentlichen Bereiche der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung aus, sei es auf die Themen Gesundheit, Wasser, Klima, Beschäftigung oder Soziale Sicherung, Governance, Ländliche Entwicklung. Demographie ist somit ein wichtiges Querschnittsthema. „Neben die bilaterale Sichtweise tritt dazu verstärkt, wie auch auch bei anderen Themen, in der Demographie die globale Perspektive,“ sagt Günther Taube. Folgerichtig ist die GIZ daher auch gerade vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) mit einem neuen globalen Programm beauftragt worden, das den Auftraggeber dabei unterstützen soll, Demographie stärker in die Post-MDG-Debatte einzubringen. Ein gutes bilaterales Beispiel ist das Vorhaben „Sexuelle Gesundheit und Menschenrechte“, das die GIZ im Auftrag des BMZ in Burkina Faso realisiert. In einem Dorf im Südwesten des westafrikanischen Landes wirft ein „Animateur“ einen Dieselgenerator an. Dessen Kabel führt zu einem DVD-Player – die Show beginnt. Gezeigt wird auf einer kleinen Leinwand ein Film über Verhütung, eine Frau erklärt im Interview, warum sie die Pille nimmt. Später bittet der Animateur zur Diskussion im Dorf. Ein Mann sagt: „Das gehört sich nicht für eine Frau!“ Eine Frau entgegnet: „Wir haben doch schon so viele Kinder!“

Diese aufsuchende Sozialarbeit soll helfen, die Gleichstellung der Geschlechter voranzubringen an, in einer Gesellschaft, wo der Mann das Wort führt. Die Beraterinnen und Berater informieren über sexuelle und reproduktive Gesundheit, klären Kinder und Jugendliche über ihre Rechte auf, laden zum Beispiel Mädchen zum Schulbesuch ein.

Rund 4500 Kilometer entfernt, in Ostafrika, beugt sich Roland Werchota über die Tastatur seines Bildschirms. Er überprüft die aktuellen Nachrichtenströme auf seinem Computer. Die Datenbank „Majidata“ sammelt jegliche Information zur Wasserversorgung in den „informellen“ Regionen Kenias, mitunter den 200 riesigen, zu einem Moloch anwachsenden Slums der Hauptstadt. „Die großen Städte ziehen immer mehr Bauern an“, sagt GIZ-Mitarbeiter Roland Werchota, Leiter eines BMZ-finanzierten Wasserprogramms in Nairobi. Dieser demographische Trend verlangt Antworten. Denn je mehr Menschen wegen mangelnder Hygiene in den von Infrastruktur kaum erschlossenen Slums erkranken, je mehr Zeit sie für die Suche nach Wasser investieren - desto weniger kommt die ganze Gesellschaft voran. Die GIZ setzt daher auf „Majidata“. Die Daten dienen den Wasserversorgern als Planungsgrundlage, um sauberes Wasser in die Slums zu bringen. Nebenher arbeitet das Team von Roland Werchota an Gesetzestexten und Qualitätsstandards für die Versorgung. „Hunderttausende Menschen wurden schon mit frischem Wasser erreicht“, sagt er. Bei den kenianischen Behörden stößt er auf offene Ohren. „Der Ehrgeiz der Regierung ist enorm“, sagt Roland Werchota. „Manche Umweltgesetze werden binnen 15 Monaten entworfen und ratifiziert. Davon könnte Deutschland lernen.“ Überhaupt durchlaufe Nairobi den Übergang von informeller zu formeller Wasserversorgung viel schneller als zum Beispiel Paris mit seinen Slums vor 150 Jahren.

Doch bei Demographie geht es nicht nur um Rechte oder Güter wie Wasser. Die besten Antworten auf durch Bevölkerungsentwicklungen aufgeworfene Fragen entstehen im Dialog, zum Beispiel zwischen Generationen. Übung darin haben die Jugendlichen von Balykchy, einer Stadt im Norden Kirgisistans, die schon bessere Tage gesehen hat. Viele Betriebe haben geschlossen, auf die zahlreichen Jugendlichen warten kaum Jobs. Vom Sozial- und Kulturleben sind sie weitgehend ausgeschlossen – und ziehen sich zurück in Kriminalität und Drogen. Im Gesundheitsprogramm Zentralasien, das in Kirgisistan, Tadschikistan, Usbekistan aktiv ist und ebenfalls vom BMZ finanziert wird, beschreitet man einen ungewöhnlichen Weg: den Diskurs zwischen Jung und Alt. Man schickte Jugendliche mit Bilderrätseln durch die Stadt, ließ sie alte Einwohner über Vergangenes befragen. „Nun können wir der Generation nach uns die Geschichte der Stadt erzählen“, bilanziert Bayastan, 13. Das Projekt half den Jugendlichen, sich mit der Umgebung, die ihnen so vertraut und unbekannt zugleich war, emotional zu verknüpfen; ähnlich einer Rückeroberung des Raumes. Aus dieser Rückkopplung entstehen zahlreiche Ideen. So wollen die Jugendlichen nun mit dem Bürgermeister ein Tourismuskonzept erarbeiten, jetzt, wo sie erfahren haben, wie schön ihre Stadt einst war. Und sich in altem Kunsthandwerk üben, vielleicht ergibt sich ein Verdienst? Der demographischen Entwicklung auf dieser mentalen Ebene zu begegnen, damit hat die GIZ mit ähnlichen Generationendialogen in Argentinien, Russland und Guatemala gute Erfahrungen gemacht.

Achtung, fertig, los!

„Bevölkerungsentwicklungen sind Prozesse von großer Trägheit, die auf Jahrzehnte hinaus kaum mehr umgekehrt werden können, wenn sie erstmal eine bestimmte Richtung eingeschlagen haben“, sagt Herwig Birg, der ehemalige Geschäftsführende Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik in Bielefeld. Eine vielleicht allzu pessimistische Sichtweise, zeigen doch Länder wie Südkorea und Singapur, dass es immer möglich ist, aus dem Teufelskreislauf von Armut und hohen Kinderzahlen auszubrechen und sich gut für die daraus folgende Alterung aufzustellen. Dazu bedarf es vor allem eines klaren politischen Willens und guter Regierungsführung. Doch Demographen verfügen nicht gerade über die beste Lobby. Politik denkt häufig in kurzen Zeiträumen, von Wahl zu Wahl. Und wenn Politiker bei den Bevölkerungsentwicklungen Weichen stellen, werden sie tatsächlich kurzfristig kaum eine Dividende einfahren – sondern ihre Nachfolger. Änderungen sind, da hat Birg recht, nur langfristig sichtbar. Und doch tut sich etwas. Im Mai 2013 will ein UN-Gremium dem Generalsekretariat Vorschläge für die Post-MDG-Agenda übergeben; in Wappnung für das Jahr 2015, wenn die Frist für die gesetzten UN-Milleniumziele von 2001 ausläuft. Noch wird weltweit hinter verschlossenen Türen verhandelt, aber schon jetzt dringt nach außen: Demographie wird eine deutlich prominentere Rolle einnehmen. Schließlich machen die Bürger von Meseberg und Umkhanyadue vor, dass es voran gehen kann. Wann also, wenn nicht jetzt?