Zeitenspiegel Reportagen

Pompeji II.

Appeared in "Baumeister" 11/2011

Von Autor Jan Rübel

Vor zweieinhalb Jahren bebte in L’Aquila die Erde. Doch der Wiederaufbau verwandelt die einst pulsierende Barockstadt in einen seelenlosen Nicht-Ort, in dem sich die Menschen nicht mehr zurechtfinden. Chronik eines Niedergangs

Man übersieht sie nahezu. Wie angenagelt hängen sieben dünne Leiber in den mächtigen Fauteuils. Im Fernseher vor ihnen im Foyer läuft eine Quizshow, aber niemand schaut hin. So also beginnt der Morgen im Hotel San Michele: Die Gestrandeten von L’Aquila schweigen sich an, Neuigkeiten fallen ihnen einfach nicht ein, nach so vielen Monaten im Hotel. Diese Gäste hängen ihren Erinnerungen nach.

Wenn sie träumt, dann steht Antonietta Ferrara in ihrer Küche und brutzelt Bohnen zur Pasta. Sie rückt sich im roten Leder gerade, ein Blick zur Rezeption, doch erwidert wird er nicht. Nicht los komme sie von diesem Traum, sagt sie. „Hier kann ich halt nicht kochen“, sagt die 84-Jährige, „hier bin ich nur Gast in meinem Leben.“ Plötzlich zucken alle zusammen und blicken auf die Drehtür am Eingang: Ein Windstoß lässt sie heftig rotieren und heult herein. Ein Ruck, dann schauen alle auf den Fernseher.

In den wenigen Sekunden vor 3.32 Uhr am 6. April 2009 war auch ein starker Wind aufgekommen, hatte gepfiffen und an den Fensterläden gerüttelt. Dann bebten die Abruzzen, und in der Stadt L’Aquila krümmten sich die Häuser. „Eine halbe Minute lang rutschte ich mit dem Bett von einer Ecke des Schlafzimmers in die andere“, erinnert sich Antonietta Ferrara. Ihr Haus blieb stehen. 308 Men-schen aber starben in Trümmern, 1600 wurden verletzt; südwestlich vom Stadtzentrum L’Aquilas hatten sich Bodenplatten in einer Erdtiefe von 8,8 Kilometern verkeilt und ein Beben mit dem Wert 5,8 auf der Richterskala ausgelöst. Seitdem macht der Wind den Leuten von L’Aquila Angst. Über Nacht hatte sich L’Aquila durch den Erdstoß in eine Geisterstadt verwandelt. Der Zivilschutz evakuierte am nächsten Tag die Bevölkerung. Rund 70.000 Menschen kamen unter in Zelten oder, wie Antonietta Ferrara, in einem Hotel. Doch wer erwartet, dass die Menschen heute, zweieinhalb Jahre nach dem Beben, ihre Stadt wieder in Besitz nehmen, der wird enttäuscht: Noch immer legt sich über das Zentrum eine unwirkliche Ruhe. Keine Baustelle lärmt, alles steht still. Selbst die Tauben haben sich davon gemacht. L’Aquila, wegen seiner barocken Bauten, seiner 1400 unter Denkmalschutz stehenden Häuser als sechstwichtigste Stadt Italiens gefeiert, erstarrt. Das Beben hatte es erschüttert. Doch den Garaus macht ihm nun der Mensch.

Touristen zieht L’Aquila freilich noch heute an. Zwei Steinwürfe vom San Michele entfernt laufen Urlauber in Kleingruppen über den Cardo. Vorbei am Zentralkino, das seit zwei Jahren für den gleichen Film „Die Freunde von der Bar Margerita“ wirbt; entlang spanplattenbewehrten Hauseingängen und eingezäunten Villen. „Wo ist denn nun der Schutt?“, fragt ein Herr mit Cowboyhut und Feldstecher etwas enttäuscht. Frau und Töchter posieren fürs Foto vor einem Radpanzer der hier patrouillierenden italienischen Gebirgsjäger. Sie sehen nicht den Schutt, der sich in den abgesperrten Nebenstraßen versteckt. Sie sehen auch nicht das weiße Blatt Papier am Gitterzaun vor einem halb eingestürzten Wohnhaus: „Achtung! Dies ist keine Touristen-Attraktion“, steht dort in Handschrift. „Dies ist nicht Pompeji.“

In die Stille hinein brechen plötzlich Sprechchöre. Ein Trupp Studenten taucht auf, Fäuste hoch gestreckt. „Nieder mit der Spar-Politik“, rufen sie. Die Touristen blicken verdutzt drein, und die Soldaten schauen weg, als drei Dutzend Demonstranten die Absperrgitter beiseite räumen und in die verbotene „rote Zone“ laufen, hin zu ihrer Philosophischen Fakultät an der Piazza Santa Margherita. Eigentlich sollen die Soldaten unbefugten Eintritt in die rote Zone verhindern, das ist ihr Job – wegen vermuteter Einsturzgefahr. Und eigentlich protestieren die Studenten gegen die Hochschulreform der Regierung in Rom und ihre Ausgabenkürzungen. Nun aber rufen sie: „Wir wollen hier rein!“ Dem Unterricht folgen sie derzeit in einer stillgelegten Fabrik für Elektrokleinteile im Industriegelände östlich von L’Aquila; mit Büchern per Fernleihe aus ganz Italien. „Warum passiert hier nichts?“, schreit ein Mädchen. Nach fünf Minuten löst sich die Demonstration auf, schlucken die Gassen ihre Teilnehmer.

Warum passiert hier nichts? Eine Woche nach dem Erdbeben hatte Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi den Aquilanern versprochen: „Wir bringen euch bald aus den Zelten heraus.“ Er hielt Wort. Baufirmen errichteten Mehrfamilienhäuser auf erdbebensicheren Pfeilern in der Peripherie für 15.000 Einwohner, die so genannten „Newtowns“. Dazu kamen 2300 Holzhäuser. Pünktlich zu seinem 73. Geburtstag überreichte Berlusconi die Schlüssel zum ersten Newtown am 29. September 2009, samt Grußkarte und einer Flasche Sekt im Kühlschrank; als hätte er allein die Häuser entworfen, gebaut und bezahlt. Viele Zeitungen feierten die Newtowns als „Le case di Berlusconi“, seitdem ist es still geworden in der vom Regierungschef und Megaunternehmer dominierten Medienlandschaft Italiens: die Probleme L’Aquilas erschienen als gelöst. Heute leben nur noch 2000 Menschen in Hotels auf Staatskosten. „Der Zustand in L’Aquila wird von den Medien und vielen Italienern schön geredet“, sagt Aldo Benedetti und rührt Zucker in seinen Espresso. Der Professor für Architektur an der Uni L’Aquilas lässt den Arbeitstag ausklingen im Centro Storico, „zum Luftholen“. „Frei nach Nietzsche gibt es keine Tatsachen, sondern nur Interpretationen.“ Ja, viele der 70.000 Einwohner hätten mittlerweile ein Dach überm Kopf, irgendwo. „Aber wir haben unsere Bezugspunkte verloren.“ Nicht ganz: Die „Bar Florida“ ist heute Nachmittag gerammelt voll. Seit die Eisdiele wieder am Domplatz unweit der Philosophischen Fakultät geöffnet hat, die einzige in der ganzen Geisterstadt, schlecken die Aquilaner selbst bei Niedrigtemperaturen deren elf Milchspeiseeissorten. „Wir klammern uns an jedes kleine Stück Normalität“, sagt Aldo Benedetti. Er hält inne. „Alles andere ist verrückt.“

Eine Autofahrt mit Aldo Benedetti zu einem Freund erklärt, was er meint. Zuerst fällt nichts auf. Nach fünf Minuten entlang der Hauptstraße gen Bazzano im Osten indes schleicht sich ein ungutes Gefühl ein: Da stimmt etwas nicht, aber was? Dann erst rückt die Dunkelheit der Häuser ins Augenmerk; kein einziges Licht scheint aus den Fenstern. Alles steht leer. Dabei gibt das Grell der Straßenlaternen nirgends Risse im Mauerwerk frei, schiefe Dächer oder Schutt. Die Häuser stehen da wie geleckt. Auf der Straße dagegen ächzt sich eine einzige Autoschlange langsam voran. „Seit dem Beben sind wir mehr unterwegs“, sagt Aldo Benedetti. Die Wege zur Arbeit seien länger, manche Straßen immer noch nicht befahrbar – ein nicht endender Stau. Und die neuen Wohnanlagen verbindet kein Stadtplan, „sie wurden auf die Wiesen gekackt“.

Wie vergessenes Riesenspielzeug taucht plötzlich ein Newtown auf. 2700 Euro pro Quadratmeter hat es gekostet, das doppelte eines durchschnittlichen Baupreises. „Mehr ‚new’ als ‚town’“, scherzt Romolo Continenza bei der Begrüßung in der Wohnungstür. „Die nächste Zeitung finde ich zehn Kilometer von hier entfernt.“ Jede Wohnung hier gleicht von der Kloschüssel bis zur Position des Kühlschranks der anderen. Aber kein Weg verbindet die einzelnen Häuser der Newtown-Anlage. Kein Laden, keine Parkbank. Überhaupt gibt es für die Aquilaner in der ganzen Umgebung kaum Restaurants, Bars oder andere öffentliche Plätze. „Ich schlafe hier, lese oder schaue Fernsehen“, sagt Romolo Continenza, wie Benedetti Professor für Architektur. „Schlafen und Arbeiten – dazwischen atomisiert sich L’Aquila selbst.“ Es bleibe eine innere Leere. Vor dem Beben konzentrierte sich sämtliches Sozialleben auf die Altstadt. Das bieten die Newtowns nicht.

Eine Antwort auf das Warum für das immer noch brache Centro Storico wird der Bürgermeister haben. Die Autofahrt am nächsten Morgen zum Rathaus an den Stadtrand schlägt erstmal fehl. Die Satellitennavigation versagt, empfiehlt Straßen, die es nicht mehr gibt. Schließlich ein Anruf, und ein Streifenwagen der Polizei eskortiert. „Unsere Arbeit ist leichter geworden“, sagt Maggiore Lucio di Beradino während der Fahrt, „es gibt weniger Kriminalität“. Der Kommissar grinst. „Die Diebe sind wie wir alle eingeschlossen. In den Newtowns lebt es sich wie in einer Kaserne. Und überhaupt, wie will man bei die-sen Autostaus im Notfall flie-hen?“

Weniger zufrieden mit seinem Job zeigt sich Massimo Cialente. „Ich arbeite jeden Tag 18 Stunden“, entschuldigt er die dunklen Augenringe. „Aber wir kommen einfach nicht voran.“ Langsam spricht er, kaut dabei an einem Lakritzholz. Alle vier Tage hört L’Aquilas Bürgermeister Massimo Cialente mit dem Rauchen auf. Heute ist wohl solch ein vierter Tag. Er springt auf. Zieht aus einer Schublade seines schweren Eichentischs einen dicken Aktenordner. „Das hier ist mein Plan“, sagt er laut, „wir könnten sofort mit dem Aufbau des Centro Storico beginnen. Aber wir erhalten einfach kein Geld.“ Formell zuständig für den Aufbau der Stadt ist die Kommune. Die Finanzierung aber kommt vom Kommissariat, welches Berlusconi ernannt hat: vom Regionalpräsidenten der Abruzzen Gianni Chiodi. Cialente haut mit der Faust auf den Heizkörper am Fenster, die Worte sprudeln jetzt. „Die Regierung hat einen geheimen Plan. L’Aquila soll im Provisorium verharren. Der Wiederaufbau ist Berlusconi einfach zu mühselig und zu teuer, eine Sondersteuer zum Beispiel scheut er. Und was könnte er dabei gewinnen? Durch die Newtowns und den G-8-Gipfel in L’Aquila im Juli 2009 hat er sich bereits als vermeintlicher Retter der Stadt feiern lassen. Mehr Lorbeeren erkennt er nicht für sich.“ Draußen im Flur warten Bittsteller in einer Schlange, ständig reicht sein Assistent ein Handy rein. Beim Abschied sagt Cialente müde: „Ich komme mir vor wie der Kapitän auf einem sinkenden Schiff.“ Ein Griff zur leeren Brusttasche. „Viel Zeit haben wir nicht. Ein Zentrum, das über Jahre leer steht, stirbt.“ Bisher hätten 600 Familien L’Aquila wohl für immer verlassen.

Wie agil und drahtig dagegen wirkt Gaetano Fontana. Seine Augen blitzen hinter der schwarzen Hornbrille. „Welcher Plan?“, fragt er. „Ich habe keinen Plan erhalten.“ Der Architekt Fontana koordiniert für Regionalpräsident Chiodi den Wiederaufbau. „Die Kommune arbeitet langsam, da kann man nichts machen.“ Fontana schaut aus dem Fenster seines Büros im achten Stock eines Verwaltungshochhauses am Rande der Stadt. Wann beginnt nun der Wiederaufbau im Centro Storico? „In einem halben Jahr, vielleicht“, sagt Fontana, blinzelt in die Mittagssonne. Und wie lange wird es dauern? „Das ist eine abstrak-te Frage, Berlin zum Beispiel ist ja auch noch nicht fertig.“

Fontana und Chiodi sind Männer Berlusconis. Cialente dagegen ist Sozialdemokrat. Das politische Klima scheint vergiftet, Aussage steht gegen Aussage und so viel fest: Miteinander reden tun Kom-mune und Kommissariat kaum. Cialente unterstützt eine Volksinitiative, die per Unterschriften-kampagne ein Sondergesetz fordert. So sollen eine Garantie für den Wiederaufbau und Transparenz für diesen Prozess her. Fontana dagegen sieht kein Problem. Der Architekt schaut auf seine Uhr. „Wir tun, was wir können“, sagt er unvermittelt und steht auf. „Die Alten aber werden nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren. Das werden sie nie erleben.“

Einer indes ist nie weggegangen. Raffaele Colapietra, 80, schüttelt über den Kompetenzstreit der Behörden den Kopf. In seiner Wohnung am Südrand der Altstadt räumt er das Sofa voller Zeitschriften frei. „Die Bevölkerung in L’Aquila ist für Berlusconi ideal“, sagt der emeritierte Professor für Zeitgeschichte. „Sie lebt still, meckert kaum. Öffentlichkeit findet nicht mehr statt. Und die Leute schauen viel Fernsehen und konsumieren in den Einkaufszentren. Sie machen keine Probleme.“ Colapietra ist der einzige Bewohner im ganzen Centro Storico. Nach dem Beben blieb er. Ließ sich für 3200 Euro Eisenträger in die Wohnung bauen. Der Zivilschutz schickte zuerst die Feuerwehr, dann eine Psychologin, die sollte ihn zum Auszug bewegen. „Der größte Fehler war, dass alle sofort nach dem Beben weggingen“, sagt er. Ein Freund sei geflohen, bloß weil Bücher aus dem Regal fielen. „Dabei hat die Stadt doch Erfahrung mit Erdbeben.“ Das vom April 2009 war das vierzehnte in der Stadtgeschich-te. Eines der letzteren, im Jahr 1703, hatte L’Aquila stark zerstört und ein Drittel aller Einwohner getötet. „Aber die Leute gaben damals die Stadt nicht auf. Sie zimmerten Holzhütten neben den Trümmern zusammen und begannen sofort mit dem Wiederaufbau ihrer Stadt. So hätte es auch diesmal sein müssen.“ Viele Häuser in L’Aquila sind heute nicht so zerstört, dass man dort nicht leben könnte. „Die Evakuierung am 7. April 2009 war eine Massenhysterie, staatlich gelenkt vom Zi-vilschutz.“ Vier Katzen schlüpfen durch ein Loch in der Tür von draußen herein, sie klettern auf die Fensterbank und rekeln sich im Sonnenlicht. Colapietra lächelt. „Hier kommen meine Nachbarn.“ Die Stille mache ihm keine Angst, sagt er. Furcht beschleiche ihn nur beim Gedanken, dass die Stadt sich um ihre Zukunft bringe.

Gleich nach dem Erdbeben reagierte der Staat. Schickte Soldaten und den Zivilschutz. In den Zelt-lagern herrschte rigide Disziplin, Kaffee, Cola und Alkohol waren für Monate untersagt. Doch seit der Zivilschutz die Lager aufgelöst hat, sich aus L’Aquila zurückgezogen und Kommissariat wie Kommune den Stab übergeben hat, ist vom Staat nicht mehr viel zu sehen. In den Newtowns nur Übergangsbauten zu sehen, fällt angesichts der hohen Baukosten schwer. Günstiger wäre es gewesen, von billigen Ausweichquartieren aus sich zumindest sofort an die Restaurierung der vielen nur kaum beschädigten Gebäude zu machen. Aber das Geld scheint mit den Newtowns bereits ausgegeben zu sein. L’Aquila soll zur Tagesordnung übergehen.

„Unmittelbar nach dem Beben hatten wir zuviel Staat, und jetzt zu wenig“, sagt Alessandro Sirolli. Es ist Nachmittag. Er flaniert über die vanillefarbenen Kacheln des Einkaufszentrums „L’Aquilone“ im Westen der Stadt. Wie ein Donut legen sich neben den Newtowns Einkaufszentren rund um L’Aquila. Allein zehn neue sind seit April 2009 gebaut worden. „Sie sind die einzigen öffentlichen Plätze.“ An den Tresen der beiden Bars im „L’Aquilone“ drängeln sich die Besucher. Sirolli findet einen freien Platz in der Mitte, ringsum lautes Geschwätz; in den Fluren des L’Aquilone dagegen wandeln die Leute schweigsam, als träfen sie aufeinander, ohne sich zu begegnen. Die Gesprächsfetzen am Tresen drehen sich ums Erdbeben. „Wir reden ständig davon, man kommt davon nicht los.“ Sirolli leitet in L’Aquila das psychiatrische Tageszentrum. „Die posttraumatischen Störungen nach dem Beben waren nicht so stark und zahlreich, wie wir zunächst angenommen hatten“, sagt er und streicht sich über den schwarz-weißen Vollbart. „Das Leiden aber nimmt jetzt neue Formen an.“ Bis heute würden die Apotheken der Region eine Zunahme von 120 Pro-zent mehr Antipsychotika und 36 Prozent mehr Antidepressiva im Vergleich zum Konsum vor dem Erdbeben im April 2009 registrieren. „Aber wir behandeln nicht mehr Patienten als vorher. Schon in den Zeltlagern wurden diese Medikamente von allgemeinen Ärzten verschrieben. Die Leute schlucken bis heute Tranquilizer ohne professionelle Hilfe.“ Die Folgen davon, sagt er, wolle er sich gar nicht vorstellen. „L’Aquila sitzt auf einer Zeitbombe für die Psyche.“ Schon jetzt reagierten viele Einwohner schnell gereizt, entzünde sich öfter Streit. Stra-ßenunfälle nehmen dramatisch zu.

Die Stadt verwandelt sich in einen doppelten Nicht-Ort. Das Centro Storico verkommt zu einem Freiluftmuseum für Touristen und Soldaten. Die neuen Quartiere: Stätten der späten Moderne, reine Funktionsbauten. Der Anthropologe Marc Augé warnte vor 20 Jahren vor den Raum greifenden Hotelketten, Flughafenterminals, Autobahnen und Shoppingmalls. Diesen Nicht-Orten würden Geschichte und Identität fehlen, menetekelte er, in ihnen würde die Kommunikation verwahrlosen. L’Aquila mutiert zum Paradebeispiel für seine These: Die Leute wohnen in neuen Häusern, sie bewegen sich auf neuen Wegen. Und dennoch kommt alles ihnen abgenutzt und ausgetrampelt vor. Begrenzt. Und die Hoffnung schwindet, dass sich dies noch einmal ändern wird.

Sirolli zieht an seinem weißen Rollkragenpulli. „In L’Aquila zeigen sich die Probleme ganz Italiens wie unter einem Brennglas: Die Kultur degeneriert. Ein gesichtsloses Newtown soll Palazzi aus dem Mittelalter ersetzen, wo bleibt denn da die Wertschätzung?“ Er trinkt seinen Espresso in einem Schluck. „Und im Schatten eines chronischen Geldmangels fehlt zunehmend das Gespür für Öffentlichkeit. Es weicht den persönlichen Interessen. Den Italienern wird immer unklarer, welche Rolle der Staat spielen soll.“ Auf dem Tresen liegt eine aufgeschlagene Zeitung. Eine Meldung berichtet, dass Berlusconi die Restaurierung zweier Marmorstatuen vor seinem Regierungssitz Palazzo Chigi in Rom aus eigener Tasche bezahlt; neben einem neuen Penis für den Kriegsgott Mars ein Styling für Schönheitsgöttin Ve-nus, die Kosten lägen bei 70.000 Euro. Nebenan am Tresen sitzen drei alte Männer. Über ihnen blinken Leucht-buchstaben auf einer Tafel, „Happy Day“ in Pink.

Es gibt einen Ort in L’Aquila, an dem alles so geblieben ist, wie es war. In der steinernen Arena von „L’Aquila Calcio“ sprinten Mittzwanziger in blauen Trainingsanzügen über den Rasen, umkurven mit Bällen an den Füßen rote Plastikhüte. Oben, im Fanblock, lehnt sich Marco Villa ans Geländer. „Fußball haben wir nach dem Beben mit einer kleinen Unterbrechung weitergespielt“, sagt er. „Die Spieler waren fast alle obdachlos geworden, aber das Stadion hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen – obwohl es schon vorher baufällig war.“ Halt ein massiver Bau aus der Zeit des Faschismus. Auch die Aquilaner strebten sofort wieder ins Stadion, „draußen leben sie zerstreut, aber auf den Rängen sind sie wieder Nachbarn“. Mit seinem Kapitän Marco Villa stieg der Verein nach dem Beben zweimal hintereinander auf, spielt nun in der untersten Profiliga „Pro Due“. Villa ist herumgekommen. Er stürmte beim KFC Uerdingen 05, war mit 18 jüngster Torschütze für Borussia Mönchengladbach. Spielte bei Panathinaikos Athen und dem 1. FC Nürnberg. „In keiner Mannschaft habe ich einen derart starken Teamgeist gespürt wie hier“, sagt der Deutsch-Italiener. Der Tod, das Leiden, die Ungewissheit überhaupt ringsum – „da hat der Fußball zusammengeschweißt in diesem verdammten Jahr 2009.“ Marco Villa steigt die Treppen herunter zum Spielfeld. Er sagt nicht, dass er dem Tod in jenem Jahr auch woanders begegnete. Im November hatte er die Witwe seines besten Freundes Robert Enke ins Stadion von Hannover 96 geführt, sie bei der Trauerfeier gestützt.

Seit vorletztem Sommer spielt Villa nicht mehr für L’Aquila. Der 32-Jährige lässt seine Karriere bei einem kleineren Verein ausklingen, absolviert eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. „Es war Zeit für einen Neuanfang.“ Das Stadion von L’Aquila Calcio und seine ehemaligen Klubkameraden aber besucht er hin und wieder. „Dieser Platz zieht mich an. Eine heile Welt ist er für mich.“ Ein Ort mit Erinnerungen. Unten umarmen ihn Spieler. Einer nimmt einen Ball in beide Hände und hämmert ihn in den Himmel. Die Sonne senkt sich über den Hügeln und taucht die oberen Ränge im rossbraun gestrichenen Stadion in sattes Gold. Das Spielfeld unten dagegen liegt finster da. Der Ball fliegt hoch ins Licht, verwandelt sich in eine goldene Kugel. Der verdammte April liegt seit Monaten hinter L’Aquila. Das zweite Jahr, das auf der Stadt gelegen hat wie ein Stein, ist längst vorüber. Das erste war ein Trauerjahr, das zweite voller Enttäuschung. Das dritte nun entscheidet über seine Zukunft. Die goldene Kugel senkt sich. Und taucht ab ins dunkle Grau.