Zeitenspiegel Reportagen

Sightseeing im Kampfgebiet

Erschienen in "Journalist", 07/2011

Von Autor Carsten Stormer

Wer als Journalist nach Afghanistan reist, um von dort über den Einsatz deutscher Soldaten zu berichten, wird enttäuscht sein. Denn die Bundeswehr arrangiert zwar gerne einen Moschee-Besuch, doch ansonsten wird viel dafür getan, die Berichterstatter aus der Kampfzone fernzuhalten.

Ein Schuss – Stille. Die Gespräche verstummen. Fragende Gesichter, angespanntes Horchen. “Da hat doch jemand geschossen”, sagt ein deutscher Hauptfeldwebel. Wieder knallt es, ganz nah. Maschinengewehrsalven. Leuchtspurmunition zieht in der mondlosen Nacht rote Schweife in den Himmel, als wären es Dutzende kleiner Kometen. Genau dort, wo die Polizeistation der Afghanen liegt. Deutsche Soldaten zwängen sich in den engen Panzerfahrzeugen in schusssichere Westen. Sie entsichern Sturmgewehre. Ein Feldwebel öffnet die Tür eines Dingos. „Bestätige, Herr Hauptmann, es wird geschossen“, meldet er ruhig. Im Infragrün der Wärmesuchgeräte tauchen drei Gestalten auf, sie tragen Turbane, rennen, stolpern. „Haben sie Gewehre? Panzerfäuste?“ „Nein, Herr Hauptmann.“ Es sind nur Bauern, die in der späten Abendstunde ihre Felder bearbeiten – und sich ebenso erschrocken haben wie die deutschen Soldaten der schnellen Eingreiftruppe, die hier auf Patrouille ist.

Eine Szene, die ich als Journalist bei einem Besuch der Bundeswehr in Afghanistan erlebte. Zusammen mit dem Fotografen Christoph Püschner, sollte ich über die von Deutschland gestellte schnelle Eingreifstruppe berichten. Doch es war ein harter Kampf, das sichere Lager in Masar-i-Scharif überhaupt verlassen zu dürfen. Als wir im Januar 2009 mit einer Bundeswehr-Transportmaschine in Masar-i-Scharif landen, schaut uns der Presseoffizier, ein ergrauter Hauptmann, erstaunt an. „Das Lager verlassen? Aber warum denn?“ Im Lager sei es doch ganz nett, man finde hier bestimmt auch viele nette Geschichten. Klar. Und viele nette Soldaten, die genau das erzählen, was die Presse hören soll. „Warum schauen Sie sich nicht die blaue Moschee an? Sehr beeindruckend!“ Blaue Moschee? Wenn ich Sightseeing machen möchte, fahre ich nach Italien. Es dauert Tage, bis wir den Hauptmann davon überzeugen können, eine Patrouille der Quick Reaction Force zu begleiten. Aber wir müssen ein Deal machen: Bevor wir mit auf Patrouille dürfen, begleiten wir eine dieser Bundeswehraktionen, bei denen die Soldaten die Herzen und Köpfe der Einheimischen gewinnen sollen. In diesem Fall handelt es sich um einen Besuch in einem Waisenhaus, in dem deutsche Soldaten Decken und Teddybären verteilen. Die Kinder freuen sich. Und der Fotograf macht Bilder von glücklichen Kindern, die deutsche Soldaten - samt Teddy - an ihre gepanzerte Brust drücken. Männer schütteln afghanische Hände, grinsen in die Kamera und betonen immer wieder, wie gut man sich mit den Afghanen verstehe. Ein schönes Andenken fürs Familienalbum. Und ein Zuckerguss über die Realität des Krieges. Zu diesem Zeitpunkt wird der Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan von Monat zu Monat gefährlicher. Wir sehen uns die blaue Moschee an, fütterten Tauben in Masar-i-Scharif - und warten, warten, warten. Wir wollen raus, sehen, was außerhalb des Lagers passiert, anders als die meisten der 2.000 in Camp Marmal stationierten Soldaten. Weshalb das Lager auch abfällig „Murmelland“ genannt wird. Auch wegen der vielen Betreuungseinrichtungen, etwa den drei Bars, in denen es deutsches Bier zu Weißwürsten gibt und Italo-Western-Filme mit Bud Spencer und Terence Hill laufen. Auch weil Beamte in Uniform hier ihre Zeit abdienen, um befördert zu werden oder um einfach nur die Auslandszulage von 110 Euro pro Tag mitzunehmen. Es hat mehr mit Kreisverwaltungsamt als mit Krieg zu tun. Die meiste Zeit verbringen wir im Murmelland, am Rande von Masar i Scharif. Wir reden mit Soldaten, die über lahme Vorgesetze lästern, und trinken deutsches Bier. Camp Marmal ist eine Festung aus Stacheldraht und Licht. Am Tor des Camps teilt sich die Welt in ein Innen und ein Außen. Draußen herrscht Krieg, drinnen meist Langeweile. Es ist 16.30 Uhr. Tägliche Routinepatrouille. Endlich kommen wir raus. Ein eiskalter Wind pfeift über die gefrorene afghanische Erde. Die Sonne verkriecht sich langsam hinter zackigen Bergen.

In ihrer ganzen Ausrüstung sehen die deutschen Soldaten aus wie Sturmtruppen aus dem Film Star Wars. Panzerglas und Stahlplatten schirmen sie ab vom afghanischen Alltag. Obwohl es nicht den Anschein macht, ist Masar-i-Scharif eine wohlhabende Stadt, nach Kabul die reichste in Afghanistan: Verlebte Häuser, Ruinen, stehen neben Bretterbuden und Neubauten. Hier findet man zumindest eine Ahnung, wovon der Rest des Landes träumt: Sicherheit, Bildung, Entwicklung, Infrastruktur, Landwirtschaft, Jobs und ein bisschen Wohlstand. Es ist ein Ausflug in Afghanistans Zukunft. Das letzte Selbstmordattentat ist lange her, die Basare sind voller Waren und Menschen. In den Straßen drängeln sich Passanten und Eselskarren, Männer mit langen Bärten tauschen leise Worte und Wangenküsse, Frauen mit und ohne Burka bestaunen Hochzeitskleider in Schaufenstern, Taxis hupen, Esel blöken. Ich komme mir wieder vor wie auf einer Kaffeefahrt. Am Abend Pfadfinderstimmung. Eine Nacht campieren wir mit den Soldaten, essen mit ihnen Schwarzbrot und Gulasch aus der Dose und schlafen in Eiseskälte auf einem Feldbett. Mich beschleicht das Gefühl, dass man diesen Aufwand nur für die beiden angereisten Journalisten betreibt. Mehr wollte man uns auch nicht bieten. Der Pressehauptmann ließ sich nicht mal erweichen, eine weitere Nacht draufzulegen. Zu gefährlich, die Vorschriften. Und ich schwor mir, nie wieder meine Zeit mit der Bundeswehr zu verplempern, wenn ich nicht ungeschönt, ungefiltert, unbeobachtet berichten darf. Nie wieder Bundeswehr - der Vorsatz hielt nicht lange. Ein Jahr später sind Christoph Püschner und ich zurück im Norden Afghanistans. Diesmal im Feldlager Kundus. Wir wollen raus ins Kampfgebiet und - Überraschung - dürfen es. Drei Tage in einem Außenposten werden uns genehmigt – der Pressemajor lächelt gönnerhaft, als er uns das mitteilt.

“Schön, dass ihr da seid”, begrüßt uns ein Hauptmann in der Polizeistation, die den Deutschen als Außenposten dient. Morgen wird es spannend werden. „Wir planen was Größeres.” Um was es genau geht? Später, später. Staub hängt über der Front, blockiert die Sicht wie ein brauner Schleier, setzt sich in den Haaren fest, verklebt die Augen und knirscht zwischen den Zähnen. Dazu diese verdammte Hitze! Schweiß mischt sich mit Staub, wird zu Schlamm, trocknet auf der Haut und macht die Menschen grau – auch hier auf dem Feldbett im Schatten einer Bauruine. Ein Soldat putzt sein G-36-Sturmgewehr. Er nagt an seiner Unterlippe, reinigt den Lauf seiner Waffe und befreit den Schaft vom Sand. Auf seine Uniform hat er seine Blutgruppe genäht: 0 positiv. Um ihn herum sitzen seine Kameraden, drücken Munition in Magazine, packen Verbandszeug in ihre Rucksäcke. Jemand summt die Melodie des Lieds Amazing Grace. Ein Oberstabsarzt bereitet seinen Krankentransportpanzer auf den Ernstfall vor, checkt die Koffer mit Medikamenten. Die Stimmung im Lager ist angespannt. Sie werden kämpfen, Taliban jagen. Manche von ihnen sagen: endlich. Morgen wird es Verluste geben, hat Hauptmann Thomas Wolle* gewarnt. Verwundete, mit Sicherheit. Vielleicht Gefallene, wer weiß. Die Mission ist gefährlich. Und wir sind dabei. Der Auftrag lautet, das Dorf Nahr-e Sufi einzunehmen, nur ein paar Kilometer vom Lager entfernt – eine sogenannte No-Go-Area: Talibanhochburg. Zwei deutsche Kompanien, eine amerikanische und eine afghanische Kompanie, dazu ein paar Belgier, insgesamt 500 Mann sollen in den frühen Morgenstunden in das Dorf marschieren und die Taliban vertreiben, festnehmen und zur Not töten, um Anschläge zu verhindern. Man nennt die Operation “Weißer Adler”. Ein Gefreiter teilt Pudding aus, mit Zitronengeschmack.

Wir sind eher durch Zufall in die Vorbereitungen geraten. Uns begleitet ein Pressefeldwebel, der selbst ein bisschen überrascht von dem Treiben im Lager ist. Ein Angriff? Das sei zwar nicht geplant gewesen - aber, na gut. Wenn man schon hier sei. „Aber ihr bleibt immer schön in meiner Nähe! Und kein Wort zum Major!“ Der hätte uns wohl sofort zurückgepfiffen – oder verboten, an dieser Operation teilzunehmen. Anspannung mischt sich mit Galgenhumor. Ein Soldat möchte, dass seine Asche in OB-Schachteln verteilt wird, falls er fällt, „weil ich noch mit ganz vielen Frauen schlafen möchte“. Seine Kameraden klopfen sich vor Lachen auf die Schenkel. „Morgen sollen wir mal wieder die Welt erobern“, sagt ein anderer. Ein paar Schritte weiter sitzen zwei Soldaten auf Benzinkanistern, halten sich an den Händen und versprechen sich gegenseitig ihre Laptops, falls einer von ihnen morgen stirbt. Den ganzen Tag über rollen Menschen und Material als Nachschub für die Schlacht in das Lager; eine weitere Kompanie kommt gerade als Verstärkung hinzu. Am Eingang hängt ein Schild an einer Mauer: Hier gilt die Straßenverkehrsordnung – ein ironischer Seitenhieb auf die Regulierungswut deutscher Beamter in Uniform. Feldbett klebt an Feldbett, Soldaten spielen Backgammon oder Karten. Wer den Kopf frei hat, liest ein Buch. Ein Soldat, der von allen nur “Shorty” gerufen wird, füttert die beiden Hunde „Blondie“ und „Krätze“ mit Dosenwurst. Ein Feldwebel verteilt Post und die gesammelten Bild-Zeitungen der vergangenen Woche: Ablenkung für einen kurzen Augenblick. Hirn ausschalten. Die ganze Aufregung war umsonst. Kurz vor Mitternacht geht ein Stöhnen durch das Lager, gefolgt von Flüchen. Männer wühlen sich aus ihren Schlafsäcken, schütteln ungläubig mit den Köpfen, und wenige Minuten später wissen alle: Die Aktion ist abgeblasen, weil sie ein afghanischer Kommandeur für zu gefährlich hielt. Ohne afghanische Soldaten läuft nichts, hat das deutsche Führungskommando entschieden, drei Stunden vor dem geplanten Angriff.

„Also, ich hätte Sie an dieser Mission nicht teilnehmen lassen“, sagt der Pressemajor, als wir zurück im Feldlager Kundus sind. Er staucht seinen Feldwebel zusammen. Unser Betteln, die Truppe weiterhin im Feld zu begleiten, wird freundlich ignoriert oder mit blumigen Ausreden abgelehnt. Wir hängen im Lager fest. Mal ist die Truppe schon auf Patrouille und man hat uns vergessen. Mal gab es Raketenbeschuss und die Anweisung, den Bunker nicht zu verlassen. Aber man könne doch auch eine tolle Reportage über die neue Feldküche schreiben, die gerade eingeweiht wurde und fünf Millionen Euro gekostet hat. Oder - auch sehr spannend - das medizinische Interieur des Lazaretts. Aber bitte ohne Patienten. Ein Porträt eines Sanitäters vielleicht? Das ginge auch beim Bierchen im Lager. Statt darüber zu berichten, was die Bundeswehr in Afghanistan treibt, entstand eine Reportage darüber, was alles nicht klappt. Das war weder in unserem noch im Interesse der Bundeswehr. Nur, das scheint den Presseoffizieren und dem Einsatzführungskommando nicht bewusst zu sein. Hauptsache, die Öffentlichkeit wird nicht mit der Realität des Einsatzes belästigt. Die Stimmung an der „Heimatfront“ sei ja ohnehin schon mies genug. Kämpfende deutsche Soldaten? Eventuell sogar Verletzte oder Tote? Das Ziel der Pressepolitik ist, die Wahrheit des Bundeswehreinsatzes zu verbergen. Keine harten Fakten. Am besten das Wort “Krieg” nicht erwähnen.

Zwei Tage später greifen amerikanische Spezialkräfte Nahr-e Sufi an. Neun Extremisten und ein amerikanischer Soldat sterben. Den Bundeswehrsoldaten bleibt die Rolle des Zuschauers. 52 sind inzwischen während ihres Afghanistan-Einsatzes getötet worden. Zuletzt wurde am 4. Juni dieses Jahres ein 23-Jähriger nach Deutschland zurückgeflogen. Er starb bei einem Sprengstoffanschlag südlich von Kundus.

*Name von der Redaktion geändert