Zeitenspiegel Reportagen

Surfen für die Freiheit

Erschienen in "aHoi", Nr. 2, August/September 2011

Von Autor Carsten Stormer

Weil im Gazastreifen am Mittelmeer strenge Gesetze gelten, dürfen Mädchen nicht einfach so Sport machen. Einige tun es trotzdem: sie surfen. Eine Geschichte über das große Glück der kleinen Freiheiten

Diesmal ist die Kurve schuld. Eben stand Sharuq noch aufrecht auf dem Surfbrett, mit Blick auf den Strand von Gaza am Mittelmeer. Jetzt ist die 14jährige voll mit dem Bauch aufs Wasser geklatscht, weil ihr Vater mit dem Motorboot ein bisschen zu schnell in die Kurve gebrettert ist. Grimmig schüttelt sie den Kopf. ?Aufstehen! Steh auf. Noch eine Runde, du schaffst das!?, ruft ihr Vater Rajab. Sharuq prustet und strampelt. Noch ein paar Schwimmzüge, dann hat sie das Brett wieder erreicht. Sie schnappt sich das Seil, und ihr Vater fährt ganz langsam wieder mit dem Motorboot an, seine Tochter auf dem Surfbrett im Schlepptau.

Wenn im Gazastreifen endlich wieder die Sonne knallt, dann wollen alle nur noch eins: an den Strand. Für viele Familien wird der Strand mit den ersten Frühlingssonnenstrahlen zum zweiten Wohnzimmer. Denn sie haben nur sehr kleine Wohnungen, in denen sie mit vielen Kindern leben müssen. Draußen am Wasser machen es sich die Menschen dann gemütlich.

Es ist Freitag, islamisches Wochenende. Das bedeutet: Feiertag und beten in der Moschee. Pferde mit Reitern galoppieren am Strand entlang, Frauen im schwarzen, sackartigen Tschador, der sie verhüllt, sitzen im Sand am Strand und blicken durch Schlitze in die Welt. Mädchen mit Jeans und Stöckelschuhen unter den Mänteln stecken die Köpfe zusammen, kichern und zwinkern heimlich den Jungs zu. Ein paar Unerschrockene schwimmen, Männer sitzen da und rauchen Apfeltabak in der Wasserpfeife. Und sobald sich auf dem Meer etwas tut, drehen sich alle Köpfe neugierig hin.

Wenn Sharuq nach einem Bauchklatscher wieder auf ihr Surfbrett klettert, muss sie erst mal gucken, wo ihr Baseballkäppi diesmal hingeflogen ist. Und sie muss mit einer vollgesogenen Jeans zurück aufs Brett kommen, was echt schwer ist. Hast du schon einmal probiert, mit nasser Jeans zu schwimmen? Da musst du sehr gut schwimmen können. Zum Glück hat Sharuq schon mit drei Jahren schwimmen gelernt. Von ihrem Vater Rajab, der einer der ersten Surfer in Gaza gewesen ist und Meister im Langstreckenschwimmen. Beides bringt er jetzt Sharuq und ihrer kleineren Schwester Sabah bei.

Du fragst dich jetzt, wieso das Mädchen überhaupt mit Jeans und Baseballkäppi aufs Brett steigt? Du musst wissen: Im Gazastreifen am Mittelmeer gelten sehr strenge muslimische Gesetze. Und deshalb ist es für Mädchen verboten, nur leicht bekleidet mit einem Badeanzug am Strand herumzulaufen. Mädchen sollen eigentlich nicht mal Sport machen. Und schon gar nicht surfen. Sharug und ihre Schwester tun es trotzdem. Gemeinsam mit ihrer Cousine Rawand - ganz schön mutig ist das.

Der Gazastreifen ist ein winziges Gebiet am Mittelmeer, gerade mal so groß wie unsere Nordseeinsel Sylt. Er ist 42 Kilometer lang und zehn Kilometer breit. Während sich auf Sylt im Hochsommer rund 150 000 Menschen tummeln, was für unser Empfinden irre viel ist, müssen sich im Gazastreifen mehr als zehn Mal so viele Menschen drängeln: nämlich 1,7 Millionen. Kein Wunder also, dass die Menschen im Gazastreifen gerne einen großen Teil des Tages draußen verbringen.

Das Land, in dem Sharuq lebt, heißt Palästina. Palästina ist aufgeteilt in zwei Teile. Der eine Teil nennt sich Gaza, der andere Westjordanland. Sharuq lebt in Gaza. Zwischen den beiden Teilen liegt das Land Israel. Und jetzt kommt das Verrückte: Wer in dem einen Teil Palästinas lebt, darf den anderen Teil seines Landes nicht besuchen. Eine Mauer aus Beton trennt Israel und die beiden Hälften Palästinas, weil die Menschen sich gegenseitig das Land, in dem sie leben, nicht gönnen.

Palästina ist ein sehr armes Land. So arm, dass es nicht einmal den ganzen Tag Strom gibt. Stell dir vor, mitten im Film geht der Fernseher aus. So ist das dort. Meeranschauen ist auch aus diesem Grund eine beliebte Freizeitbeschäftigung.

Noch ein kräftiger Schwimmzug, dann packt Sharuq das Surfbrett, zieht sich schwer atmend hoch. Zehn Sekunden lang bleibt sie ausgestreckt darauf liegen. Im Gazastreifen sind Surfbretter etwas ganz Besonderes. Du kannst nicht einfach in ein Sportgeschäft gehen und eins kaufen. Es gibt keine. Neoprenanzüge gleich gar nicht. Die meisten Jungen am Strand von Gaza surfen in T-Shirt und Jeans.

Das Surfbrett, mit dem Sharug unterwegs ist, hat ihr Vater mal vor zwanzig Jahren im Nachbarland Israel gekauft. Mit geliehenem Geld von Freunden. Zwanzig Jahre, das ist ganz schön alt für ein Surfbrett. Bei uns auf Sylt würde sich wahrscheinlich niemand mit einem so abgenutzten Teil an den Strand trauen. In Gaza werden die wenigen alten Bretter wie Schätze gehütet und gepflegt. Das Allerschlimmste wäre, wenn eins zerbricht. Sharuqs altes Surfbrett ist sehr schwer und schon ziemlich geflickt, aber es funktioniert noch ? und nur das zählt.

Zum Glück hat es Sharuq mit ihrem schweren Brett nicht weit bis zum Meer. Sie wohnt zusammen mit den Eltern und ihren vier Geschwistern im ärmsten Haus Gazas in der Raschid-Straße, keine zwanzig Meter vom Strand entfernt. Eine Bruchbude aus Rohbeton mit Palmwedeln auf dem Dach. Ihr Vater ist Fischer oder repariert Bootsmotoren, aber dafür wird man nicht gut bezahlt. Und andere Jobs gibt es kaum, denn die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch.

Im Gaza zu leben ist ganz anders als bei uns in Deutschland. Gaza hat einen Hafen, in dem keine Schiffe mehr anlegen und einen Flughafen, in dem keine Flugzeuge mehr landen. Kaum jemand kommt heraus, fast nichts darf hinein. Also werden auch keine Surfbretter angeliefert. Die Grenzen sind dicht und werden streng bewacht. Dabei würde Sharuq so gerne mal raus aus diesem Gefängnis. Ihr Traum? ?Ich will die Welt bereisen.? Wohin genau? ?Egal. Einfach mal raus.? Sharuq würde gerne mal die Dinge erleben, die sie nur aus dem Fernsehen kennt. Sie und ihre Schwester haben noch nie ein anderes Land besucht, sie waren noch nie im Urlaub. Beide können davon nur träumen.

Zum Glück gibt es das Surfen. Für Sharuq bedeuten Wellen alles. Für eine Welle lang fühlt sich das Leben ganz frei an. Für Sharuq ist ein Tag am Strand ein bisschen so, als wäre sie für ein paar Stunden aus dem Gefängnis ausgebrochen, in dem sie durch die Mauer eingesperrt ist. Die Sommerferien sind die beste Zeit des Jahres: drei Monate Strand. Sich drei Monate lang frei fühlen. Drei Monate surfen, und das, obwohl es eigentlich verboten ist.

Wer eigentlich was dagegen hat, willst du wissen? Die strengen Männer von der Hamas. Sie sind die religiösen Aufpasser, die in Gaza an der Macht sind. Sie verbieten alles, was Spaß macht: Sport, Tanz und Musik. Weil sie glauben, dass es nach ihrer Religion, dem Islam, so sein muss.

So ist das eben in Gaza. Dort ist einfach alles anders für Mädchen. Wenn du dort leben würdest, könntest du nicht einfach so rausgehen und machen, was du möchtest. Deshalb gibt es auch nicht viele Mädchen, die in Gaza Wellenreiten. Wie Sharuq. Genau genommen nur ihre 13jährige Schwester Sabah und Rawand, 14, die Cousine, die gleich nebenan im Nachbarhaus lebt. Die drei sind momentan die einzigen surfenden Mädchen im Gazastreifen. Sonst surfen nur die Jungs aus der Nachbarschaft. ?Das ist schade?, sagt Sharuq. Denn es wäre toll, wenn sie mit ihren Freundinnen die Wellen reiten könnte. ?Die verstehen mich nicht. Surfen ist das Einzige, was mir richtig Spaß macht.?

Manchmal schauen Ausflügler Sharuq komisch an, weil sie als Mädchen auf dem Surfbrett steht. Das muss man aushalten können in Gaza. ?Es stört mich aber nicht wirklich. Eigentlich mag ich das?, sagt sie und rückt ihr Kopftuch zurecht. Dann fügt sie hinzu, dass eine Menge Leute sie bewundern würden. ?Und da bin ich schon froh, dass ich hier wenigstens surfen kann. So wie andere Mädchen auf der Welt auch.?

Sharuq und Sabah spazieren am Strand entlang. Sie halten sich an den Händen. ?Früher haben wir manchmal heimlich das Surfbrett des Vaters geklaut, um es auszuprobieren?, verrät Sharuq. Da wird Sabah ganz rot im Gesicht, boxt ihre große Schwester in die Seite und schimpft empört: ?Das darfst Du doch niemandem erzählen, das war doch unser Geheimnis!? Sharuq schmunzelt und umarmt die kleine Schwester.

Seit sich herumgesprochen hat, dass im Gazastreifen, diesem streng kontrollierten Landstrich, surfende Mädchen leben, kamen schon Dutzende Journalisten vorbei, um ihnen Fragen zu stellen und im Meer zu fotografieren. Inzwischen stehen sogar Fotos der Mädchen bei Google und Facebook. Und ihr könnte euch einen kurzen Film auf YouTube finden.

Das Surfen also: das große Glück der kurzen Freiheit. Für die Mädchen fühlt es sich aber nicht nur an wie eine Flucht aus dem Gefängnis, in dem sie wohnen müssen. Es lenkt sie auch noch davon ab, dass sie arm sind. Und dass sie in einem Land leben, in dem manchmal Krieg herrscht zwischen den Israelis und den Palästinensern. Wie im Dezember 2008. In dieser Zeit durften die beiden ihre winzige Wohnung nicht verlassen. Einfach zu gefährlich bei israelischem Dauerbeschuss. Bomben und Raketen fielen auf Ziele in der Nachbarschaft. Dort, wo Sharuq jetzt surft, lagen damals Kriegsschiffe. Und die Mädchen konnten nur davon träumen, im Meer zu schwimmen.