Zeitenspiegel Reportagen

Surfing the Palestinian Authority

Erschienen in "mare", 87/2011

Von Autor Carsten Stormer

Im Gazastreifen herrscht Gewalt, Blockade und Perspektivlosigkeit. Gut, dass es Surfbretter gibt. Für die Jugendlichen vom Gaza Surf Club bedeutet Wellenreiten Freiheit und Ausbruch aus der Realität. Dank eines Israeli.

Wie starr er auf dem gelben Sand verharrt, an der Schnittstelle von Asphalt und Strand. Die Füße geradeaus, den Blick aufs Meer gerichtet, schweigt Mahmud nun schon zehn Minuten lang. Glatt wie ein Laken spannt sich die See. Die Winterstürme sind längst vorüber. Nur eine israelische Drohne am wolkenlosen Horizont surrt leise, sonst steht alles still am Strand von Gaza. Zu still für Mahmud. Über seine Lippen gleitet ein stummer Fluch.

Jeden Tag kommt Mahmud, der Surfer, an diese Stelle an der Rashid-Straße, gleich hinter ihr beginnt der Strand. Mahmud zählt die Wellen, nach fünf kleinen kommt eine größere. „Mit solch einer könnte es klappen, vielleicht“, murmelt er und löst sich aus seiner Erstarrung, berührt nachdenklich mit den Fingerspitzen seine Frisur, ein Kunstwerk aus Gel und Haarspray.

Mahmud Alryashi, 21 Jahre alt, glattes Kinn, kneift die Augen zusammen, die Stirn kräuselt, er zählt. Fünf Mal nichts, dann Glanz in den Augen. Wie ein Metronom klopft das Meer den Rhythmus der Gezeiten. Mahmud zerrt sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, spricht schnell und kurz: „Wellen… ja … in einer halben Stunde … gut! … Bis gleich … In’schallah.“ Dann hetzt er über die Straße, hinüber zu dem Haus aus Rohbeton mit rostigen Satellitenschüsseln auf dem Dach und einem verbeulten Autowrack am Straßenrand, sprintet sieben Stockwerke nach oben, raus aus der Jeans, rein in den Wetsuit, eine Spende von einem amerikanischen Surfer, klemmt sich das Longboard, auch ein Geschenk, unter den Arm, rennt sieben Stockwerke wieder herunter. Nur keine Zeit verschwenden, wer weiß, vielleicht ändert das Meer seine Meinung bald schon wieder. Surfen! Endlich surfen. Nur das zählt.

Denn der Alltag in Gaza ist dröge und langweilig, geprägt von Arbeitslosigkeit, Stundenzählen und Naostkonflikt. Die Palästinafrage ist hier ein fettes Ausrufezeichen, täglich. Wenn er nicht surft, studiert Mahmud Multimedia an der al-Aqsa-Universität in Gaza-City, spielt mit Kumpels Fußball, chattet auf dem alten Computer eines Freundes auf Facebook mit der Welt, und jeden Tag von fünf Uhr früh bis mittags steht er mit seinem Bruder Ahmed am Familienstand auf dem al-Yarruk-Markt und verkauft aus China importierte Radkappen, Scheibenwischer oder Rückspiegel, die durch die illegalen Schmugglertunnel nach Gaza gelangt sind. Abends nimmt er jede Hochzeit mit, die in der Nachbarschaft gefeiert wird. Weil dort Musik gespielt wird und man tanzen, singen und mal ein bisschen die Sau raus lassen kann; allerdings nur mit Jungs, versteht sich. Und wenn er nicht arbeitet, tanzt, studiert oder surft, verfolgt er gebannt wie sein geliebter FC Barcelona die Gegner deklassiert. So vergeht die Zeit. Surfen und Messi. Hauptsache raus aus der engen Wohnung, die er sich mit seinen sechs Geschwistern und den Eltern teilt und wo das Longboard so deplaziert wirkt, wie ein Trabbi bei einem Formel-Eins-Rennen.

Mahmud ist als Erster am Scheich-Eylin-Strand. Ein paar Minuten später trudelt Ibrahim Arafat ein, sein bester Freund. Ein frommer junger Mann, der selten lacht, zwanzig Jahre alt. Sie umarmen sich, klopfen auf Schultern; As-Salamu Aleikum, Habibi. Das Trio komplettiert Yusuf Abu Ghanem, das Nesthäkchen, der manchmal die Schule schwänzt, wenn die Wellen gut sind. Yusuf ist ein Junge mit traurigem Blick. 17 Jahre alt und schon keine Träume mehr, weil sie ja ohnehin nicht in Erfüllung gehen, glaubt er. Jetzt stehen sie hier an der Schwelle zwischen Realität und Freiheit, vor ihnen Wellen, hinter ihnen der Alltag aus Einschränkungen, Verboten und Arbeitslosigkeit. Drei Freunde, halbe Kinder noch, drücken ihre Surfbretter in den Sand und schauen aufs Meer, Hoffnung im Blick. Sie warten, beobachten, angespannte Nervosität, die Füße kribbeln, aufgeregt scharren sie im Sand. Die Zehen türmen kleine Häufchen aus Sand auf. Ihre Blicke verlieren sich in der Ferne, saugen sich kurz fest am israelischen Patrouillenboot, das dort draußen auf und ab fährt, wie ein Kettenhund an einer Leine. Fünf Mädchen schlendern langsam vorbei, sie tragen Kopftücher und sind in schwarze Mäntel gehüllt, lächeln schüchtern und ein wenig kokett in Mahmuds Richtung. Verstohlene Blicke, wenn niemand hinsieht. Erst zarte Sehnsucht, dann Enttäuschung. Ihre Gesichter glätten sich, als sie merken, dass die Jungs durch sie hindurchblicken, beleidigt wenden sie sich ab und wandern zurück in den Schatten halbfertiger Hochhäuser aus Rohbeton.

Wellen bedeuten für die drei alles, vor allem Freiheit. Gaza hinter ihnen ist für sie ein Gefängnis mit Meerblick. Ein Ritt auf einer Welle ein Ausbruch. Es ist ihre Art, allen, die ihre Träume, ihre Jugend, ihre Zukunft einsperren, zu trotzen: den Israelis, die einen Zaun um ihre Städte im Gazastreifen gezogen, die Grenze vermint und dichtgemacht haben. Den religiösen Hardlinern von der Hamas, die Kassam-Raketen in israelische Wohngebiete abfeuern, die Frauen hinter Kopftücher verstecken und Kultur, Tanz, Musik und eigentlich alles, was Spaß macht, verbieten. Und schließlich den Vereinten Nationen, den Vereinigten Staaten und allen anderen, die zwar viel reden, aber selten handeln. Gaza ist ein Fliegenschiss von einem Landstrich, gerade mal so groß wie Sylt. 1,7 Millionen Insassen auf engstem Raum gepfercht, 42 trübselige Kilometer lang und zehn Kilometer breit, mit einem Hafen, in dem keine Schiffe mehr anlegen, und einem Flughafen, in dem keine Flugzeuge mehr landen. Abgeriegelt von der Außenwelt; kaum jemand kommt heraus, fast nichts hinein. Hier ist die Zukunft meistens nie weiter entfernt, als der nächste Tag. Aber diese dunklen Gedanken haben auf einem Surfbrett nichts zu suchen, der Ballast des Alltags fällt ab, sobald das Mittelmeer ihre Haut streichelt. Der Kopf muss frei sein. Surfen ist die Rückeroberung verschütteter Gefühle, für ein paar Augenblicke Spaß am Leben zu haben, die Unbeschwertheit genießen, sich unbeobachtet fühlen, stolz darauf zu sein, eine Welle zu besiegen, Unabhängigkeit. Es ist ein bisschen so, als hätte man Gaza für eine Weile verlassen; ein Kurztrip in eine bessere Welt und ein Triumph über den Status quo. „Los!“, brüllt Mahmud.

Die Jungs rennen über den Strand, Sand knirscht unter ihren Füßen. Mahmud tänzelt fast, das Surfbrett über seinem Kopf. Sie werfen sich in die Brandung, lachen, schreien, johlen vor Glück. Mahmud, Ibrahim und Yusuf durchpflügen das Wasser. Der Einflussbereich der Hamas endet mehr oder weniger am Strand. Drei Meilen weiter draußen beginnt israelisches Gebiet, dort lauern die Patrouillenboote. Es ist ein schmaler Korridor im Windschatten der Weltpolitik, der Mahmud und seinen Kumpels gehört. Mahmud hat schön öfter darüber nachgedacht, einfach mal hinaus aufs offene Meer zu paddeln, immer weiter. Einfach so. Aber das wäre Selbstmord. Es wurden schon Fischerboote beschossen, die hinaustuckerten, weil die Sardinenschwärme jenseits der Dreimeilen-Zone liegen. Überhaupt, Mahmud träumt schon lange davon, den Gazastreifen zu verlassen. Fremde Länder zu besuchen. Mit anderen Surfern in Hawaii abzuhängen oder in Kalifornien, Australien wäre auch nicht schlecht. Aber er hat Gaza noch nie verlassen, nie ein anderes Land besucht oder Urlaub gemacht. Einmal war er eingeladen, an einem Schwimmwettbewerb in Ägypten teilzunehmen, er sollte Gaza repräsentieren. Aber kurz vor der Abreise wurden die Grenzen dichtgemacht. Das war’s dann. Aber auch wenn reisen möglich wäre, wie sollte sich jemand ein Flugticket oder ein Hotel leisten, der jeden Tag von morgens um fünf bis mittags um zwölf Radkappen, Scheibenwischer und Schraubenschlüssel verkauft? In Gaza ist er eine lokale Berühmtheit, aber „im Ausland kennt mich niemand.“ Das würde er gerne ändern. Aber dazu müsse erst mal Frieden einkehren, die Grenzen offen sein, und, naja, ein bisschen mehr Geld würde auch helfen. In dieser Reihenfolge.

Es ist kalt, die Nässe und der aufkommende Wind lassen die Temperatur drinnen und draußen auf gefühlte zehn Grad sinken, aber für die Jungs beginnt die glücklichste Zeit des Tages. Sie paddeln auf ihren Brettern, um zu vergessen. Die erste Welle ist zu klein. Die zweite auch. Mit der dritten klappt es dann endlich; Adrenalin und Endorphine schießen durch die Venen, der Kopf wird leicht. Nur diese Welle, dieser Augenblick zählt, sonst nichts. Und dann der nächste Brecher. Yusuf fällt vom Brett, das er sich mit seinem Bruder teilen muss, er verschwindet in weißer Gischt, kommt wieder hoch und spuckt prustend einen Schwall Meerwasser aus, reckt den Daumen nach oben, alles okay, keine Sorge. Mahmud und Ibrahim gleiten mit der Welle, die Arme wie zum Sieg in die Luft gestreckt, Mittel und Zeigefinger formen das Victory-Zeichen.

Surfen also. Das Mittelmeer ist nicht gerade für hohe Wellen berühmt. Und wegen der Blockade sind Bretter Mangelware, wer eines besitzt, hütet es wie einen Schatz. 47 Surfbretter gibt es im gesamten Gazastreifen. Aber wesentlich mehr Neugierige, die es gerne mal ausprobieren würden. Aber das muss warten. Denn Israel hat Gaza abgeriegelt, nur die am dringendsten benötigten humanitären Güter dürfen die Grenze passieren; Strom, Medikamente, Lebensmittel. Surfbretter gehören nicht dazu. Nicht mal Beton darf eingeführt werden, denn die Extremisten könnten sich damit unterirdische Bunker bauen, aus denen sie ihre Raketen auf Israel abfeuern. Das erklärt die vielen Bauruinen in Gaza.

Eine überschaubare Szene hat sich in diesem chronischen Krisengebiet etabliert – und Mahmud ist ihr Star. Der König des Strandes, bester Surfer Gazas. Ein Schönling mit Waschbrettbauch, drahtig, muskulös, die Mädchen himmeln ihn an und hauchen verzückt „Ahhhh…“, wenn er aus dem Meer steigt. Die Männer respektieren den Athleten und suchen seine Nähe. Wenn er surft, versammeln sich die Bewunderer am Strand, zeigen mit dem Finger auf ihn, wenn er die Wellen bezwingt, klatschen, wenn er einen Handstand auf dem Brett vorführt. Stolz sind sie auf ihn, eine lokale Berühmtheit.

Nach einer Stunde kommen die Jungs aus dem Wasser, bibbernd, klappernde Zähne, blaue Lippen, verklärter Blick; aufgepeitscht wie im Rausch. Anschließend hocken sie noch ein Weilchen auf einem verlassenen Bademeisterturm. Sie quatschen, knabbern Nüsse, tauschen Tipps aus, wie man die Wellen besser nehmen könnte. „Niemand kontrolliert das Meer. Niemand kann mir dort etwas vorschreiben; nicht die Hamas, nicht Israel. Es ist der einzige Ort, an dem ich frei sein darf“, sagt Ibrahim. Das Meer schwemmt die Probleme aus seinem Kopf, die Enge der Wohnung, in der er mit seinen acht Geschwistern und den Eltern wohnt. Das Studium, das ihm sinnlos erscheint, weil es anschließend wahrscheinlich ohnehin keinen Job gibt. Die israelische Blockade, die stockenden Friedensgespräche zwischen Israel und den palästinensischen Führern und die Hoffnungslosigkeit, jemals ein eigenes Land zu haben, weil die Menschen sich gegenseitig das Land, in dem sie leben, nicht gönnen.

Es ist Freitag, islamischer Ruhetag. Am Turm traben Kamele vorbei, Teenager galoppieren auf Pferden am Strand entlang, Frauen im schwarzen, sackartigen Tschador sitzen im Sand und blicken durch schmale Schlitze in die Welt, die Jungs nennen sie wegen ihrer Bekleidung Ninjas. Mädchen mit Kopftuch, Jeans und Stöckelschuhen unter den Mänteln stecken die Köpfe zusammen, kichern, lassen Zigaretten kreisen und zwinkern heimlich den Jungs zu. Andere Strandbesucher tauchen ihre Füße ins kalte Wasser. Die Menschen haben sich mit den strengen Regeln der Hamas arrangiert, und dehnen sie, wenn die Religionswächter nicht hinsehen. Frauen arrangieren keck ihre Kopftücher, tragen schicke Sonnenbrillen und zeigen lackierte Fußnägel. Junges schicken verliebte SMS an die Angebetete oder rappen gemeinsam. Männer und Frauen schlendern am Strand entlang und tauschen heimlich Blicke, ein Lächeln, ein Kopfnicken. Kinder toben in der Brandung. Und in einigen Strandrestaurants sitzen ein paar mutige Mädchen, rauchen aufmüpfig Wasserpfeife und tragen dazu nicht einmal Kopftuch. Skandal. Surfen bleibt allerdings fast ganz in Männerhand. Nur die beiden Töchter des Fischers Abu Ghanem und Yusufs Schwester Rawand reiten auf den Wellen, Kinder noch, die es nicht stört, was andere Leute über sie denken und durch das Netz der Hamas fallen.

Plötzlich verrutschen Yusuf die Gesichtszüge, Panik in den Augen, der Mund zu einem schmalen Strich gepresst, blutleere Lippen. Sein Brett hat eine Delle und saugt Wasser an. „Muschkillah“, flüstert Yusuf benommen – Problem. Die nassen Shorts und ein Trikot des FC Barcelona kleben ihm am Körper, er friert, schlägt die Arme gegen seine Brust. Wie konnte das passieren? Muschkillah , Muschkllah, wiederholt Yusuf fassungslos. „No problem“, antwortet Mahmud, streicht dem jüngeren durchs nasse Haar und lächelt ihn an. „Das richten wir wieder.“ Yusuf blickt skeptisch.

Denn das Schlimmste seien nicht die israelischen Bomben, nicht die Drohnen, nicht die Blockaden, die fehlenden Jobs oder die Männer von der Hamas, sagt Yusuf. Auch nicht gebrochene Knochen. Jeder hier hat sich schon mal eine Hand gebrochen, ist mit dem Kopf auf das Brett oder einen Stein im Wasser geknallt. Das gehört dazu. „Wir haben keine Angst uns zu verletzen“, sagt Yusuf empört. Natürlich nicht. Nein, das Schlimmste wäre, wenn ein Brett zerbricht. „Ein gebrochenes Bein heilt wieder“, sagt Mahmud. „Wenn ein Brett bricht, ist alles vorbei.“ Denn Surfbretter kann man in Gaza nicht kaufen, Neoprenanzüge gleich gar nicht. Die meisten Jungs surfen in T-Shirts und Jeans, zu jeder Jahreszeit, werfen die Realität ab wie einen Sack Müll. Wer braucht schon einen Neoprenanzug?

Kurz darauf klettert Aschur al-Hindi, der Rettungsschwimmer, auf den Turm, Hindi rufen ihn alle nur. Er ist das Idol der Surfer, ihr Freund, Vaterfigur, Mentor, Vorbild, eine Legende und einer der ersten Surfer Gazas. Hindi hat ihrem Leben eine Richtung gegeben und ihrer Gruppe einen Namen: Sie nennen sich Gaza Surf Club, der aber, genau genommen, gar kein Club ist. Es gibt weder ein richtiges Clubhaus, das ist der Rettungsschwimmerturm am Strand, noch Aufnahmegebühren, die könnte sich ohnehin niemand leisten. Aber Club hört sich schön an, klingt nach Zusammenhalt. Mitmachen kann jeder, der ein Surfboard besitzt. Das sind nicht viele. Nach und nach kommen weitere Surfer auf den Turm, jemand bringt seine Schwester mit. Ein paar Jungs fangen an zu kichern, boxen sich in die Seite und Hindi ermahnt sie, dass sie sich nicht so albern benehmen sollen, nur weil ein Mädchen anwesend ist. Sie alle haben arg gebeutelte Bretter, verbeult und geflickt. Manche haben Löcher, einem fehlt die Nase, einem anderen eine Finne. Egal, ein kaputtes Brett ist besser als keines.

Mit seinen 39 Jahren ist Hindi die graue Eminenz des Gaza Surf Clubs. Früher war er einmal Schwimmmeister Gazas, heute bringt er Kindern das Schwimmen bei oder fährt Ausflügler für ein paar Schekel in seinem Motorboot spazieren. Er surft kaum noch, weil ihm während der ersten Intifada ein israelischer Gewehrkolben am Hinterkopf getroffen hat; seitdem peinigt ihn ein schmerzhafter Druck hinter dem linken Auge, kann darauf fast nichts sehen. „Na, wir waren jung und haben Steine auf Soldaten geworfen“, sagt er und grinst dabei wie ein Schuljunge, den man beim Abschreiben erwischt hat. Fast allen Jugendlichen hier am Scheich Eylin hat er das Schwimmen beigebracht.

Der Strand ist das Rückzugsgebiet für die Leute in Gaza. Doch die Sittenwächter der Hamas sind überall, überwachen, kontrollieren, patrouillieren am Strand, prüfen, ob sich jeder islamisch benimmt; kein Händchenhalten, Männer und Frauen getrennt. Nach einer Weile kommt ein schwarz gekleideter Polizist auf den Turm geklettert, eine Pistole steckt in seinem Hosenbund, unablässig bewegt er die Gebetskette in der Hand, fragt, was das Mädchen dort zwischen all den Jungs zu suchen hat und verschwindet dann wieder. Die Stimmung ist erst mal futsch.

Wer verstehen will, wie der Surfsport und dessen Lebensgefühl nach Gaza gelangt ist, muss nach Israel reisen, nach Tel Aviv. Nur sechzig Kilometer von Gaza entfernt, aber Kilometer messen die Distanz nicht annähernd. Gaza und Tel Aviv trennen Welten. Drüben Bauruinen, verschleierte Frauen, Kriegsschrott, Trümmer, leere Regale, Rückständigkeit, Kleingeistigkeit – und Aufbegehren. Eine Autostunde weiter tanzen Bikinimädchen und muskelbepackte Beachboys zu Technomusik am Strand, knutschende Pärchen liegen im Sand, in den Straßencafés sitzen junge Menschen mit Sonnenbrillen an ihren Laptops und trinken Cocktails. Es ist Freitagnachmittag, vier Uhr, das Wochenende hat begonnen. Ein paar Schritte vom Strand entfernt, in einer schmalen Seitengasse hinter dem Hotel Maritim, wohnt Arthur Rashkovan, Surfguru, Skateboard-Champion, Vater einer kleinen Tochter und gerade aufgewacht. Aus müden Augen blickt er die Besucher an, er trägt Boardshorts und Flip Flops, schulterlange, von Sonne und Salzwasser gebleichte Haare, auf seinem Knie zuckt eine tätowierte Teufelsfratze, an der Wand lehnen ein Dutzend Surfbretter in verschiedenen Längen, auf dem Wohnzimmertisch eine Schachtel Marlboro Lights. Er sieht so aus, wie man sich einen Surfer eben vorstellt. Er entschuldigt sich für das Chaos in seiner Wohnung und versucht vergeblich seine Bettfrisur unter Kontrolle zu bringen. Auf seinem T-Shirt steht: „People who surf together can live together.“

Der 32-Jährige ist einer der Mitgründer von „Surfing4Peace“, eine Organisation, die palästinensischen Jugendlichen das Surfen beibringt und Surfbretter nach Gaza schickt. Ohne „Surfing4Peace“ würde der „Gaza Surf Club“ nicht existieren. Alles fing damit an, erzählt er, dass er einen Anruf von der Surflegende Dorian „Doc“ Paskowitz erhielt, ein amerikanischer Jude. Arthur, sagte der fast 90-jährige Paskowitz, in Gaza wohnen zwei Jungs, die dringend unsere Hilfe benötigen. Und kurz darauf waren die ersten dreizehn gespendeten Surfbretter im Gazastreifen. Das war im Jahr 2007, die Hamas schnürte Gaza noch nicht die Luft ab, die Grenzen waren offen, die verfeindeten Nachbarn beäugten sich nur mit zorniger Zurückhaltung.

„Das ist doch Schwachsinn, was bei uns abgeht“, sagt Rashkovan und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Man bade im gleichen Meer, lebe an der gleichen Küste und reite die gleichen Wellen. Gaza, Libanon, Israel, und die besten Wellen am Mittelmeer gebe es übrigens in Libyen – und als Israeli darf er die Wellen in diesen Ländern nicht reiten. Der Friedensprozess bringe ja nichts, die redeten seit Jahrzehnten nur, „und was hat es bisher gebracht? Ich mache hier meine eigene kleine Revolution.“ Heißt: So viele Surfbretter wie möglich nach Gaza bringen. Unterstützung bekommt er dabei von Kelly Slater, dem weltbesten Surfer. Zuletzt haben es 23 Bretter über zig verschiedene Umwege durch die Blockade geschafft, und wenn er das erzählt, huscht ein stolzes Lächeln über sein Gesicht. Wie genau, will er nicht verraten. Als Israeli darf er nach Gaza nicht einreisen. „Ist doch egal. Menschen, die surfen, feuern keine Raketen ab. So einfach ist das.“ Und deswegen kann er nicht verstehen, dass seine Regierung die Einfuhr von Surfbrettern in den Gazastreifen verbietet. „Surfen bedeutet Freiheit. Die Kids in Gaza wollen nicht in diesem Gefängnis leben.“ Sein Traum ist, eines Tages gemeinsam mit Palästinensern und Juden in Hawaii zu surfen. Aber warum bringt ein israelischer Jude Surfbretter nach Gaza? „Weil es unfair ist, dass die Jungen unter der Politik der Alten leiden.“ Aber eigentlich mache er das ohnehin aus rein egoistischen Gründen. „Wir brauchen den Frieden! Damit ich endlich ungestört überall surfen kann. Besonders mit den Jungs in Gaza“, sagt er und grinst.

Mit den Brettern kehrte ein bisschen Lässigkeit zurück nach Gaza. Und dass diese ausgerechnet vom Erzfeind Israel stammen, stört die Gaza-Surfer eigentlich nicht. Im Gegenteil. Im Fahrwasser einer gemeinsamen Leidenschaft verfranst die Weltpolitik und führt junge Menschen zusammen, denen eingeredet wird, dass sie Feinde sein sollen. Mahmoud, Yusuf und Ibrahim zumindest können es kaum erwarten, endlich mit Arthur Rashkovan gemeinsam zu surfen – und sich bei ihm persönlich für die Unterstützung zu bedanken. Politik? „Interessiert mich eigentlich nicht. Ich halte mich da raus. Ich will surfen, sonst nichts“, sagt Mahmud. Obwohl auch er, wie die meisten Menschen im Gazastreifen, die israelische Regierung für den Nahostkonflikt und die Belagerung verantwortlich macht, denn die Juden „haben schließlich unser Land besetzt.“

Vor zwanzig Jahren muss es in Gaza mal so zugegangen sein wie heute in Tel Aviv. Hindi erzählt, dass damals Frauen in Bikinis im Meer schwammen. Bikinis! Und wenn mal eine im schwarzen Tschador vorbeischlenderte, drehten sich die Leute kopfschüttelnd nach ihr um. Bikinis sind heute aus Gaza verschwunden, unislamisch. Nachdem sich die so genannten Rechtsgläubigen vorerst durchgesetzt haben, gingen in Gaza die Lichter aus. Inzwischen hat die Hamas selbst Tanz und Musik verboten, und am Strand gehen sich die Geschlechter aus dem Weg – zumindest, solange die Hams hinsieht. Eigentlich schade, findet Mahmud, denn er mag es, wenn die Mädchen ihm beim Wellenreiten zusehen und ihn mit ihren Mobiltelefonen fotografieren. „Das spornt mich an, noch ein bisschen besser zu surfen.“

Mahmuds Leben ähnelt den Gezeiten des Meeres, der Pegel des Glücks hebt sich, wenn die Wellen kommen, und senkt sich schnell wieder, wenn er aus dem Meer steigt. Mahmud hat früh gelernt, dass er nicht Steuermann seines Lebens ist, sondern nur Passagier. Sein größter Wunsch: An Surfwettbewerben im Ausland teilzunehmen, sich mit anderen Surfern zu messen. In Australien, in Kalifornien, in Hawaii, sagt er und zieht das I in die Länge. Surfen bedeutet alles für ihn. Es hat ihm gezeigt, dass das Leben Flügel hat und keine Ketten. Dass es für einen jungen Menschen in Gaza doch Möglichkeiten gibt. Wenn es Surfbretter nach Gaza schaffen, dann ist vielleicht noch mehr drin. Immer, wenn er meint, dass er das Leben nicht mehr aushält, träumt er sich in die Welt, die er nur aus dem Fernsehen kennt; Waikiki, Gold Coast, Malibu – oder steigt ins Wasser vor seiner Haustüre. Überhaupt, die meisten Menschen im Gazastreifen verbringen ihre Freizeit am oder im Meer, hier können sie Mensch sein, trotzdem Spaß haben, Freude schenken. Und das Beste daran: Es ist kostenlos. Ein Tag am Strand macht Gaza für eine Weile erträglich.

Am Tag, als Osama bin Laden stirbt, sitzt Mahmud in Hindis Wohnung und nippt an einem Kaffee. An der Wand hängen Hindis Medaillen, Erinnerungen an bessere Zeiten. Mahmud erzählt vom Krieg, von den Bomben, die in der Nachbarschaft fielen, von den Druckwellen, die die Fensterscheiben bersten ließen. Sein Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht und seine Stimme wird ganz leise. Am Morgen des 27. Dezember 2008 begann Israel die Operation „Gegossenes Blei“, dreiundzwanzig Tage dauerte der Krieg, und anschließend waren dreizehn israelische Soldaten und 1400 Palästinenser tot. In dieser Zeit wagte sich die Familie Riaschi kaum aus dem Haus, nur in den von Israel verkündeten Feuerpausen hasteten sie auf den Markt. Den Rest der Zeit hockten Mamud, die Eltern und die acht Geschwister auf engsten Raum und beteten, dass der Krieg bald vorbeigehen möge. Vor der Küste lagen Kriegsschiffe und U-Boote. Es gab keinen Strom, und das Telefon funktionierte nicht. Und jeden Tag stellte er sich die gleiche Frage: Werde ich diesen Krieg überleben? Ein Freund starb, als ein Mörser das Auto traf, in dem er saß. In diesen Wochen träumte er sich nach Hawaii und Kalifornien, sah sich Surffilme an und blätterte in ausgefransten alten Surfmagazinen. Hindi legt ihm den Arm auf die Schulter, Mahmud wischt sich mit der Hand über sein Gesicht, als wolle er seine Gedanken wie einen Schmutzfleck wegwischen. Hoffnung? Hindi schlürft einen Schluck Kaffee und schüttelt langsam den Kopf, die sei ihm irgendwo verlorengegangen. Mahmud zuckt mit den Schultern. Mit Politik kenne er sich nicht so gut aus. Aber genug vom Krieg. „Lass uns an den Strand gehen und nachsehen, wie die Wellen sind“, sagt Hindi.

Aber das Meer glänzt wie ein Spiegel. Surfen wird heute nichts mehr. Auch seine besten Freunde haben keine Zeit. Ibrahim muss für sein Medizinstudium büffeln, Yusuf ist mit seinem Vater aufs Meer gefahren. Keine Wellen? Egal, was nicht passt, wird passend gemacht. Die beiden beschließen, ein bisschen anzugeben. Mahmud holt sein Surfbrett und springt in Hindis Boot, das Brett mutiert kurzerhand zum Wakeboard. Stundenlang düsen sie im Hafenbecken herum, in dem schon lange kein Schiff mehr anlegt, Mahmud an einem Seil im Schlepptau. An der Mole versammeln sich die Ausflügler und Schaulustigen, Familien sitzen beisammen, Fischer flicken Netze, Jugendliche rauchen Wasserpfeife, Kinder toben herum. Sie genießen das unerwartete Spektakel, knipsen Fotos, applaudieren. Und Mahmud macht sein Victory-Zeichen, grinst den verschleierten Mädchen zu und weicht Fischerbooten aus. In einem verbeulten blauen Fiat quetschen sich fünf bärtige Sittenwächter der Hamas und beobachten das Treiben. Sie drehen ihre Gebetsketten, kraulen sich die Köpfe, blicken grimmig und wissen nicht so recht, was sie von dieser seltsamen Show halten sollen. Aber sie lassen es geschehen. Mahmoud dreht unterdessen unbeirrt Runde um Runde, das Meer ist seine Bühne, Gaza nur Kulisse. Mahmoud liebt die Show, die Aufmerksamkeit, den Beifall – und er weiß, was die Leute wollen. Irgendwann zieht er eine palästinensische Flagge, die auf keinem Fest, keiner Hochzeit oder Versammlung fehlen darf, aus seinem Neoprenanzug, hält sie in den Fahrtwind und das Publikum beginnt zu tosen.