Zeitenspiegel Reportagen

Tanz auf dem Vulkan

Erschienen in "Cicero", September 2013

Von Autor Jan Rübel

Beirut boomt, tanzt - und protestiert. Gleichzeitig wächst die Angst, der Bürgerkrieg in Syrien könnte sich wie ein Flächenbrand auch im eigenen Land ausbreiten

Manchmal, wenn der Südwind Fetzen sorglosen Plauderns vom Café gegenüber herweht, frage sie sich schon, was das ist: Heimat. Wenn es dunkelt, der Juwelier Mawla seine Jalousien herunterlässt und sie den Treppenabsatz davor bezieht. Wenn sie Hanans und Ranas Köpfe auf ihrem Schoß bettet, die rechte Hand mit der kleinen Kaugummischachtel zum Verkauf ausstreckt und den Blick im Pflasterstein der Hamra-Straße versenkt. „Ich schalte den Verstand meist aus, das ist das Beste“, sagt sie.

Vor drei Monaten ist Najma Sleiman*, 28, aus Damaskus geflohen. Der Krieg hatte schon längst ihr Südstadtviertel erreicht, doch die Familie harrte aus, nur kam eines Abends Najmas Ehemann nicht zurück. Die Ersparnisse waren nahezu aufgebraucht, seit Monaten hatte er als Schreiner kaum mehr gearbeitet. Da packte sie zwei Taschen und schloss sich einem Treck an, fuhr mit Hana, 4, und Rana, 2, über die grüne Grenze zwischen Syrien und dem Libanon. Ein Lastwagen spuckte sie in Dahiya, einem Vorort Beiruts, aus und irgendwann erreichte sie den Einkaufsboulevard Hamra.

Inmitten von Neonreklamen für Armani und Gucci atmet sie den Duft der Bars von Wasserpfeife und Whiskey ein, hört das Rauschen der SUV von BMW und Porsche – auf Mawlas Treppenstufen mit Glasvitrinen voller Schmuck im Rücken. „Diesen Platz habe ich gesehen und gedacht, das ist jetzt meine ‚Heimat‘“, sagt Najma und lacht heiser über dieses Wort. Nun wachen die Taxifahrer von ihrem Stand neben dem Bürgersteig über ihr Wohl, stecken ihr Brot und Cola zu, immer wieder beugen sich Passanten, kaufen Kaugummi, reichen aus mitgebrachten Kochtöpfen Essen. Es ist 22 Uhr, Hana und Rana schlafen. Erst wenn die Vergnügungsmeile gegen zwei Uhr schließt, wird sich die Familie aufmachen nach Dahiya. „Dort habe ich ein Zimmer gemietet, für 300 Dollar im Monat“, sagt sie. „Die kriege ich schon zusammen, die Leute helfen.“

Beirut ist eine Stadt voller Schatten. Sie drücken sich an Häuserwände, stromern bettelnd durch die City und schlafen auf der Straße. Sie leben in Beirut, aber sie nehmen am Leben nicht teil. Der Krieg im Nachbarland hat sie in den vergangenen Monaten in den Libanon vertrieben, bisher sind es über eine Million Syrer, die der vier Millionen Einwohner zählende Zedernstaat aufgenommen hat. Keine Zeltlager nehmen sie auf, keine Barackensiedlungen. Sie tauchen ab. Werden von libanesischen Familien privat aufgenommen oder sie schlagen sich allein durch, irgendwie. „Natürlich will ich wieder zurück“, sagt Najma. „Sobald ich wüsste, dass ich dort leben könnte.“

Die Flüchtlinge kommen in ein Land, das mit sich selbst nicht im Reinen ist. Auch 23 Jahre nach dem verheerenden Bürgerkrieg leisten sich die Libanesen ein politisches System, das genau zu jenen Waffengängen zwischen 1975 und 1990 geführt hat: Klientelismus und Korruption haben die Oberhand gewonnen, mit dem „Staat“ oder einer „Nation“ identifiziert sich kaum jemand. Stattdessen setzt jeder auf seine Konfession als Staat im Staate; Politik reduziert sich aufs Dirigieren von Geldströmen. In diesem Land erscheinen die neuen Flüchtlinge wie Gäste, die, so unscheinbar sie auch sind, am Zaun dieses schwachen Systems rütteln. Der Krieg um Syrien greift auf den Libanon über.

Riad Isaa, 44, steuert seinen Nissan Sonic durch die verschlafenen Straßen von Tripoli, es ist 8:30 Uhr am Samstagmorgen. Nur langsam reckt sich die Stadt im Nordlibanon aus dem Schlaf, in der vergangenen Nacht gab es hier wieder Kämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern des syrischen Regimes von Baschar al Assad. Der Nissan passiert einen Panzer der libanesischen Armee, vom Heck bis zum Bug mit einem Graffito besprüht: „Es gibt keinen Gott außer Gott.“ Riad Issa schaut auf die Uhr. „Heute werden kaum Schüler kommen. Die Eltern lassen sie nicht auf die Straße.“

Issa ist Handlungsreisender in Sachen Frieden. Eigentlich arbeitet er als Elektrotechniker in einer staatlichen Telekommunikationsfirma. Die meiste Zeit aber verbringt er in Nichtregierungsorganisationen, für die Gruppe „Permanent Peace Movement“ will er gleich einen Workshop abhalten, es geht um Gewaltprävention. Zwei Schulklassen haben ihr Kommen zugesagt.

An den Tischen im Saal eines Kulturzentrums nehmen schließlich 20 Schüler Platz. „Ab 18 Uhr darf ich nicht mehr auf die Straße“, sagt Omar, 13. „Jede Nacht gibt es Schießereien.“ Najib, 14, pflichtet ihm bei. „Da braucht man selbst eine Waffe. Ich mag sie nicht, aber eine Pistole macht mich stark, und verteidigen muss ich mich doch.“ Issa, ein ehemaliger Milizenkämpfer der Kommunistischen Partei, sagt: „Kugeln lösen kein Problem, sie vergrößern es nur“, sagt er. Es klingt weise und hilflos zugleich. Dann spricht er eine Stunde, über Grundlagen von Kommunikation und wie schnell man sich missversteht. „Hört nie auf Dritte“, appelliert er an die Jugendlichen. „Hört nur darauf, was der Nächste sagt. Haltet Ausschau nach gemeinsamen Interessen.“ Er schaut die Jugendlichen an, als wollte er sie hypnotisieren.

Sein Job ist hart. Tief sitzen Angst und Stolz, die alten Bindungen an Familie, Clan und Konfession. Keine der 17 Religionsgemeinschaften im Libanon ist stark genug, alle anderen vollends zu dominieren. Das schafft Druck. Charles Harb, Professor für Psychologie an der Amerikanischen Universität von Beirut, machte 2010 erschreckende Entdeckungen über die libanesische Jugend: Ein Drittel bekennt sich offen zu feindlichen Vorurteilen gegenüber anderen Konfessionen, zwei Drittel würden niemals interkonfessionell heiraten. Diese Tendenzen haben sich in den vergangenen Jahren sogar verstärkt. Die zumeist sunnitischen Flüchtlinge aus Syrien wirbeln nun die konfessionellen Größenverhältnisse durcheinander. Zu den vielen Schismen im Libanon gesellt sich ein weiterer Riss: Er verläuft zwischen Gegnern und Unterstützern des Assad-Regimes.

Auf der Rückfahrt nach Beirut hält Isaa für einen Snack. Bei „Halab & Sons“ löffelt er eine Halawiya bi Jibin, Mozzarella mit Teig, Pistazien und Rosensirup. Er ertränkt den Käse im Zuckersaft. „Die Lage heute ist noch schlimmer als 1975“, sagt er. „Früher ging es auch um Politik, um Ideologie. Heute denkt jeder nur konfessionell.“ Und die Hisbollah, jene von Iran mit Waffen und Geld gepäppelte Partei der Schiiten, der größten Bevölkerungsgruppe? Ihre Waffenarsenale übersteigen die aller anderen Gruppen, der Staatsstreitkräfte eingeschlossen. Würde sie, wenn ein Krieg ausbricht, nicht kurzen Prozess machen? „Gewiss“, sagt Riad Isaa. „Und was dann? Dann hätten wir syrische Verhältnisse. Was derzeit dort geschieht, ist eine Blaupause für den Libanon.“

Zurück in Beirut füllen sich am Samstagabend die Straßen, Restaurants und Bars stellen ihre Stühle auf den Bürgersteig. Wie verloren steht ein Dutzend Demonstranten vor dem Nationalmuseum. Sie halten Schilder hoch mit Slogans wie „Nein zum Krieg“ oder „Ich bin Sunnit, Schiit und Christ“. „Wir haben uns spontan über Facebook verabredet“, sagt Chris, 19. Er spüre, dass sich da etwas rege, etwas, das ihm Angst macht. „Der Hass zwischen den Konfessionen nimmt zu – nur redet niemand drüber. Ich habe es satt.“

Die „grüne Linie“ entlang, jene Straße, die einst im Bürgerkrieg den muslimischen Westen vom christlichen Osten trennte, laufen Jugendliche mit Transparenten und Fahnen ins Stadtzentrum. Längst ist die grüne Linie nicht mehr Wahrzeichen der zerschossenen Metropole, die durchlöcherten Häusergerippe wichen Glaspalästen. Beirut erlebt einen beispiellosen Immobilienboom. Geld aus aller Welt, vor allem aus dem Arabischen Golf, fließt in die Stadt, die nicht zur Ruhe kommt. Abrissbirnen räumen nicht nur mit Kriegs­trümmern auf, sondern auch mit heruntergekommenen, aber morbid charmanten europäisch-osmanischen Villen der Gründerzeit. Alte Kinos und Hinterhofkneipen machen Platz für Starbucks und H & M. Beirut verliert sein Gesicht. Zum Nukleus dieser Stadtstraffung streben jetzt die jungen Demonstranten. Aus dem Häuflein vorm Museum ist eine wütende Menge am Sternplatz im Stadtzentrum geworden.

Die Menschen kommen aus allen Richtungen, vorbei an den sandsteinfarbenen Prachtbauten, neoklassisch soll die Shoppingmeile sein, sie wurde erst vor wenigen Jahren aus dem Boden gestampft. Früher stand hier einmal der Basar – nach dem Bürgerkrieg schoben Bagger dessen Reste ins Meer und errichteten ein Disneyland für Reiche.

Die oberen Stockwerke stehen zumeist leer. Unten versammeln sich nun rund 400 Demonstranten; Krach machen sie für 4000. „Politiker raus“, skandieren sie, und „Ziad und Fuad, ist noch nicht Schluss mit eurem Gelderfluss?“, rufen sie zum Parlament hinüber, das sich zwischen Stacheldraht, einer Riege Polizisten, einem Zaun und noch einer Riege Uniformierter verbirgt. Weil sich die Abgeordneten nicht auf eine Wahlrechtsreform einigen konnten, verlängerten sie kurzerhand ihre Legislaturperiode um 17 Monate. Eine Studie von Transparency International von Mitte Juni kommt zum Ergebnis, dass die Korruption, ohnehin auf hohem Niveau, zugenommen hat: 61 Prozent der Befragten gaben an, für den Erhalt von Dokumenten Schmiergeld gezahlt zu haben.

Die Demonstranten reißen Wahlplakate der Abgeordneten von Häuserwänden und zertrampeln sie. „Wir sind die Herrschaft und das Volk“, rufen sie. Ganz stimmt das wohl nicht: Es sind die Gutverdienenden, die hier protestieren, die Hammer und Sichel am Silberkettchen tragen und eine Zeitungsausgabe der Alternativen Studentenbewegung auf Englisch verteilen, aber nicht auf Arabisch. „Die Arbeiter haben wir noch nicht erreicht“, murmelt Nizar Ghanem, einer der Organisatoren.

Die Arbeiter wohnen im Viertel Basta Tahta, rund einen Kilometer vom Parlament entfernt. Seine Mauern zieren frisch gekleisterte Plakate mit traurigen Männergesichtern, im Hintergrund weiße Tauben, bunte Tulpen. Eine aufgehende Sonne. Die Konterfeis zeigen die aktuellen Märtyrer, die Hisbollah in den Krieg nach Syrien geschickt hat und vor wenigen Tagen in Leinen gehüllt zurückbrachte. Seit die Partei offen aufseiten des Assad-Regimes kämpft, zieht sie den Hass vieler Sunniten auf sich. Sehnen doch die meisten von ihnen nicht nur den Sturz Assads herbei, einige kämpfen auch mit den Rebellen in Syrien. Viele Schiiten dagegen stellen sich hinter den derzeitigen Parteikurs. Verlagert sich die Frontlinie bald westwärts, kämpfen dann Libanesen gegen Libanesen auch im Libanon? Preise für Waffen ziehen jedenfalls an im Libanon. Die Nachfrage steigt.

„Die Sunniten haben nicht verstanden, worum es uns geht“, sagt Ahmad Nasr, ein Parteikader. Das Hemd zugeknöpft, den Bart sorgsam gestutzt, lehnt der 21-Jährige an einem Wagen. „Hisbollah schützt nur Libanesen, die in Syrien wohnen, und die schiitischen Schreine.“ Stirnrunzeln. „Außerdem verteidigen wir uns gegen die Salafisten, diese Fundamentalisten wollen Libanon zu einer Bastion für Al Qaida machen.“ Er stockt. „Okay, wer hat uns immer geholfen? Das war Assad. Jetzt helfen wir ihm. Wir sind Partner.“ Offiziell hat sich die libanesische Regierung eine Nichteinmischung in die syrischen Wirren verordnet. Die radikal-schiitsche Hisbollah aber dominiert das Kabinett – und schickt ihre Kämpfer nach Syrien. Sie offenbart damit ihre Schwäche, im Libanon Zivilpolitik zu betreiben. Hisbollah bleibt eine militärische Kadertruppe, die ihre Ziele abarbeitet; auch auf Kosten des Landes.

Keine drei Kilometer südlich der Basta scheint der Druck im libanesischen Kessel noch zu groß. Die Vorurteile, das Misstrauen, die Waffen: Vor der Imam-Ali-Moschee im Viertel Tariq al Jadideh wartet alles auf den großen Knall. Dutzende Jungs auf Mopeds, mit Schlagstöcken und schwarzen Fahnen der sunnitischen Islamisten, umkreisen das Gotteshaus. Die ersten Händler schließen ihre Geschäfte. Polizeitrupps sammeln sich in der Nebenstraße. Während ein Prediger über Lautsprecher zur Einheit aller Sunniten aufruft, durchzuckt eine erste Welle der Erregung die Menschen vor der Moschee. Keiner weiß Genaues, plötzlich laufen alle nach vorn, Polizisten über die Straße, Jugendliche über die Dächer parkender Autos. Vor einem Geschäft für Hochzeitsmoden entsteht ein Knäuel. Die Aufregung legt sich schnell, als sich herausstellt, dass lediglich zwei Syrerinnen beim Diebstahl erwischt wurden. Ein Geländewagen bringt die Frauen mit Blaulicht fort.

Die Imam-Ali-Moschee ist ein Zentrum sunnitischer Extremisten. Noch vor vier Monaten hatte hier Ahmad Assir gepredigt, einer ihrer Wortführer. Nun hält er sich irgendwo im Land versteckt, nachdem die Armee sein mit Waffen gefülltes Hauptquartier in Saida gestürmt hatte. Die Hisbollah hatte heimlich Kämpfer entsandt, es gab Tote auf beiden Seiten. In Tariq al Jadideh gärt es. „Heute wird abgerechnet“, sagt ein junger Mann. Er hat sich frei genommen vom Hühnergrill, jetzt fuchtelt er mit einem Zettel. „Da stehen die Adressen von schiitischen Familien des Viertels drauf. Die sollten besser verschwinden.“ Lange genug hätten die Sunniten unter der Hisbollah gelitten. „Unser Stolz ist verletzt.“

Als sich nach dem Gebet die Moschee von Hunderten leert, warten sie auf das Signal. Die Mopeds heulen, die Hauptstraße ist schnell besetzt. „Nieder mit Hisbollah“, rufen ein par Dutzend junge Männer und haken sich unter. Die Menge marschiert los, kommt aber abrupt zum Halt. Und dann sieht man den Grund.

Stumm bewegen sie sich schweren Schrittes, die Demonstranten weichen sofort: Rund 30 junge Männer, ihre Tattoos glänzen auf den breiten Unterarmen. Sie schauen gefährlich, finster. „Qabadayyat!“, flüstert ein Protestierer – Anführer von Gangs, welche die Straßen kontrollieren, im Viertel bekannt und gefürchtet, oft im Sold mächtiger Patrone. Eine weitere, starke Machtstruktur in dieser Stadt am Rande de Krieges. Die schweren Jungs umzingeln das letzte Dutzend, das mit dem Tanz nicht aufhört, die Fäuste reckt und Scheich Assir lobpreist. Die tätowierten Männer reden kein einziges Wort. Doch nach zehn Minuten endet der Spuk, die Menge zerstreut sich. Heute ist kein Tag für einen Krieg. Jemand will ihn nicht.

Am Straßenrand lehnt ein Mittfünfziger an seinem SUV, die langen Beine in einem zu kurzen Anzug. Altmodisch wirkt er, winkt die Qabadayyat zu sich und klopft ihnen auf die Schultern. Auch der Polizeikommandant eilt herbei, erstattet Bericht. Der Patron, der seinen Namen nicht nennen will, nimmt Jobgesuche und Bittschreiben entgegen. Das System hat heute gewankt, gefallen aber ist es nicht. Vorerst. Der Mann steigt hinten in den SUV und braust davon.

  • Name redaktionell geändert