Zeitenspiegel Reportagen

Unser Krieg am Hindukusch

Erschienen in "Playboy", Januar 2011

Von Autor Carsten Stormer

Der Feind lauert mal mit Steinzeitmethoden und mal mit High-Tech-Waffen. Seit 2001 kämpfen deutsche Soldaten in Afghanistan an vorderster Front. Stippvisite bei der 2. Kompanie des Fallschirmjägerbataillons 313 in Kundus.

Staub hängt über der Front, blockiert die Sicht wie ein brauner Schleier, setzt sich in den Haaren fest, verklebt die Augen und knirscht zwischen den Zähnen. Dazu diese verdammte Hitze! Schweißmischt sich mit Staub, wird zu Schlamm, trocknet auf der Haut und macht die Menschen grau – selbst hier auf dem Feldbett im Schatten einer Bauruine, wo Alexander Krallmeister*, genannt „Kralle“, gerade sein G-36-Sturmgewehr putzt. Ein Präzisionsgerät made in Germany, tödlich auf 300 Meter. Krallmeister nagt an seiner Unterlippe, reinigt den Lauf seiner Waffe und befreit den Schaft vom Sand. Sie muss funktionieren, wenn es zum Kampf kommt, sie darf nicht blockieren. Das Gewehr ist seine Lebensversicherung, auf Mütze und Uniform hat er seine Blutgruppe genäht, für alle Fälle: 0 positiv. Um Krallmeister herum sitzen seine Kameraden, drücken Munition in Magazine, packen Verbandszeug in ihre Rucksäcke, jemand summt „Amazing Grace“. Weiter drüben bereitet Oberstabsarzt Peter Aachen seinen Krankentransportpanzer auf den Ernstfall vor, checkt die Koffer mit Medikamenten. Die Stimmung im Lager ist angespannt, nervöse Vorfreude spiegelt sich in den Gesichtern der Soldaten.

Sie werden kämpfen, Taliban jagen – endlich, wie manche von ihnen sagen. Morgen wird es Verluste geben, hat Hauptmann Wolle gewarnt, der Chef der Kompanie. Verwundete mit Sicherheit. Vielleicht Gefallene. Die Mission ist gefährlich, das weißjeder hier.

Anspannung mischt sich mit Galgenhumor, damit sich keine dunklen Gedanken im Kopf einnisten. Ein Soldat möchte, dass seine Asche in OB-Schachteln verteilt wird, falls er fällt, „weil ich noch mit ganz vielen Frauen schlafen möchte“. Seine Kameraden klopfen sich vor Lachen auf die Schenkel. „Morgen sollen wir mal wieder die Welt erobern“, sagt ein anderer. Ein paar Schritte weiter sitzen zwei Soldaten auf Benzinkanistern, halten sich an den Händen und versprechen einander gegenseitig ihre Laptops, falls einer von ihnen morgen stirbt.

Der Auftrag: Das Dorf Nahr-e Sufi einnehmen, ein paar Kilometer vom Lager entfernt – eine sogenannte No-go-Area, Indianerland, Talibanhochburg. Zwei deutsche Kompanien, eine amerikanische und eine afghanische Kompanie, dazu ein paar Belgier, insgesamt 500 Mann, sollen in den frühen Morgenstunden in das Dorf marschieren und die Taliban vertreiben, festnehmen und zur Not töten, um Anschläge zu verhindern. Man nennt die Operation: Weißer Adler. Die Amerikaner hatten vor einigen Wochen mal versucht, das Dorf einzunehmen, mussten sich aber mit Verlusten zurückziehen. „Na, das waren ja auch keine Fallschirmjäger“, sagt ein Feldwebel. Ein Kamerad teilt Pudding aus, mit Zitronengeschmack.

Seit vier Monaten haben sich die Deutschen am Rande der Wüste festgebissen, sie hausen in einer kleinen Festung aus Stacheldraht, Bunkern und Sandsäcken in Chahar Darah, der gefährlichsten Ecke im Einsatzgebiet der Deutschen, elf Kilometer vom Feldlager Kundus entfernt. Aus Sicherheit trägt hier niemand Namensschilder. In den Dörfern und Gehöften um das Lager tummeln sich Taliban, bewaffnete Paschtunen, ausländische Kämpfer, el-Kaida-nahe Gruppen, Drogen- und Waffenschmuggler. Einig sind sie sich nur in einem: Sie wollen nicht, dass ihnen deutsche Soldaten in die Quere kommen.

Die Regeln haben sich der Realität angepasst. Es geht nicht mehr darum, den Krieg zu verwalten, sich beschießen zu lassen und sich im sicheren Lager zu verkriechen. Der Feind ist zu mächtig geworden in den vergangenen Jahren. Das soll sich nun ändern.

Alexander Krallmeister, Oberstabsgefreiter der 2. Kompanie des Fallschirmjägerbataillons 313, ignoriert die Scherze seiner Kameraden. Er weiß, was Tod und Verlust bedeuten. Einen Monat vor dem Marschbefehl nach Afghanistan starb seine Verlobte und Jugendliebe bei einem Autounfall. Der Einsatz in Afghanistan und der Rückhalt seiner Kameraden hielten ihn im Gleichgewicht, sagt er, lenkten ab von seiner Trauer. Er ist ein nachdenklicher 23-Jähriger mit Spezialausbildung im Nahkampf, glattes Jungengesicht und Vollbart und seit etwas über vier Jahren Soldat. Es ist sein erster Auslandseinsatz. Nach dem Ende seiner Dienstzeit möchte er noch mal vier Jahre verlängern und danach „beim Bund Verwaltungsfachangestellter lernen“.

Krallmeister und seine Kameraden haben Befehl, die Region sicherer zu machen. Sie sollen den Feind vertreiben, Gelände gewinnen und sichern, immer gemeinsam mit der afghanischen Armee. Und sie sollen den zarten Fortschritt schützen, der in den vergangenen Jahren im Norden Afghanistans entstand. Diesen sogenannten Wiederaufbau – eigentlich ein Aufbau, weil es all die Brunnen, Straßen oder Schulen vorher gar nicht gegeben hat. Aber noch sind die Deutschen nicht voll einsatzfähig, und die afghanische Armee ist auch noch nicht in der Lage, für Sicherheit im eigenen Land zu sorgen.

Den ganzen Tag über rollen Menschen und Material als Nachschub für die Schlacht in das Lager; eine weitere Kompanie kommt gerade als Verstärkung hinzu. Am Eingang hängt ein Schild an einer Mauer, darauf steht, dass hier die Straßenverkehrsordnung gilt – ein ironischer Seitenhieb auf die Regulierungswut deutscher Beamter in Uniform. Feldbett klebt an Feldbett, Soldaten spielen Backgammon oder Karten. Wer den Kopf frei hat, liest ein Buch. Ein Soldat, der von allen nur Shorty gerufen wird, füttert die beiden adoptierten Hunde „Blondie“ und „Krätze“ mit Dosenwurst. Ein Feldwebel verteilt Feldpost und die gesammelten „Bild“-Zeitungen der vergangenen Woche: Ablenkung für einen kurzen Augenblick, Hirn ausschalten. „Oh Mann, was soll ich meiner Alten denn antworten? Die fragt mich, wie es sich anfühlt, wenn ich beschossen werde oder über eine Mine fahre“, fragt ein Gefreiter seinen Nachbarn nach der Lektüre eines Briefes.

Normalerweise schiebt nur eine Kompanie Dienst im Camp; vier Züge, insgesamt 150 Mann, immer gefechtsbereit. Eine andere ist draußen im Feld, sichert die Zufahrtsstraßen, die das Militär Pluto, Kamins oder Cherry getauft hat, oder die strategisch wichtigen Höhen 431 und 432. Ein mickriger Geländegewinn, alles andere links und rechts davon kontrollieren die „Kuddels“, so nennen die Soldaten die Extremisten. Eine Woche Staub schlucken, Tütenfutter fressen und sich beschießen lassen – fünf Tage ausspannen im Feldlager Kundus; Filme gucken, warm duschen, Billard spielen oder kickern, mit der Familie oder der Freundin telefonieren, ein Bier trinken im „Lummerland“, der Lagerbar, vielleicht auch zwei. Oder sich über die unverschämt langsame Internet-Verbindung ärgern.

So vergehen die Tage zwischen Lebensgefahr und Zerstreuung. Morgen ist wie heute, wie gestern, wie immer. Es ist ein abwechslungsreiches Leben und ein ödes zugleich. Weil sie immer die gleichen Abwechslungen haben, sieben Tage die Woche, sechs Monate lang, ununterbrochen. Draußen herrscht Krieg, drinnen meist Langeweile. Das zehrt an den Kräften. Zeit wird zur Gefahr, weil sie so langsam vergeht – zwischen Aufwachen im Morgengrauen, Ei und Rouladen aus der Tüte, Gewehr zerlegen, reinigen, zusammenbauen, Karten spielen, Patrouille gehen, Kopf ausschalten. Routine füllt den Tag nicht aus, die Hitze lähmt.

Der Krieg im einstmals sicheren Norden Afghanistan kocht auf großer Flamme, und deswegen operiert eine Brigade amerikanische Soldaten seit ein paar Monaten im Gebiet der Bundeswehr, weil die Deutschen allein mit der Situation nicht mehr fertigwerden. 2010 war das verlustreichste Jahr für die Koalitionstruppen am Hindukusch seit Beginn des Krieges vor neun Jahren. Rund 350 Soldaten kamen bei Kämpfen ums Leben. Auch die Bundeswehr hatte dieses Jahr ihre höchsten Verluste. In 13 Feuergefechte mit Aufständischen war Krallmeisters Kompanie in den vergangenen Monaten verwickelt. Ständig werden Fahrzeuge angesprengt und aus Hinterhalten beschossen, mit Maschinengewehren, Raketen oder Panzerfäusten. Selbst gebaute Sprengfallen sind zur größten Bedrohung für Patrouillen geworden; Kanister, gefüllt mit Düngemittel und Diesel gegen deutsches High Tech. Allein im April starben sieben deutsche Soldaten, eine Zäsur – seitdem nehmen deutsche Politiker das K-Wort in den Mund und sprechen von Gefallenen, man konnte den Einsatz nicht länger schönreden. Krallmeisters Zug musste schon vier verwundete Soldaten in die Heimat zurückschicken; einen davon mit gebrochenem Wirbel.

Alexander Krallmeister ist hier, weil seine Einheit für den Einsatz ausgewählt wurde. Freiwillig hat er sich nicht gemeldet, aber allen war bewusst, dass sie nach Afghanistan verlegt werden können. Einige haben aus diesem Grund ihre Dienstzeit verlängert – um sich im Feld zu beweisen, damit die Ausbildung, all die Schinderei, nicht umsonst gewesen ist. Sie sind Berufssoldaten und für solche Einsätze ausgebildet. Vorbereitet auf Kampf und Tod. „Aber solche Gedanken lasse ich im Einsatz nicht zu“, sagt Krallmeister. Nur manchmal schleichen sie sich ins Bewusstsein – nach einem Angriff auf eine deutsche Patrouille, wenn Kameraden verletzt wurden, die man kennt, Freunde vielleicht. Dann muss der Kommandeur seinen Leuten die Wut aus dem Bauch reden. Und jeder zwingt sich, freundlich zu bleiben, den Kopf frei zu halten. Sonst drückt einer aus Versehen ab, aus Angst und Unsicherheit; weil plötzlich aus jedem Bartträger ein Taliban wird und jeder Benzinkanister zu einer Sprengfalle.

Die Zeit versickert, dehnt sich ins Unendliche. Je näher der Angriff auf das Dorf rückt, desto langsamer vergeht die Zeit. Am Nachmittag übt Krallmeisters Zug den Häuserkampf im Hof des Lagers. „Wir haben zwar ein paar Mal was auf die Fresse bekommen. Aber so einen Angriff haben wir noch nie durchgeführt“, sagt Krallmeister. In ihrer Montur sehen die deutschen Soldaten aus wie die Sturmtruppen aus einem Science-Fiction-Film. Sie schleppen Panzer- und Bunkerfäuste, MG-3s und stinknormale Sturmgewehre, Pistolen, Granaten, Messer – das ganze Arsenal des Krieges.

Die Sonne blendet, eine Aufklärungsdrohne summt am Himmel. Alexander Krallmeister läuft Schweiß in die Augen, während er mit seinem G-36 auf imaginäre Feindstellungen zielt. Timmy, sein bester Kumpel, klettert auf einer Leiter eine Schutzmauer empor und erschreckt eine Gruppe afghanischer Polizisten, die auf der anderen Seite entlanggeht. Ein paar Schritte weiter testen Sanitäter die Bahren für mögliche Opfer, und um 17 Uhr verkündet Hauptmann Martin Wolle, dass die afghanische Kompanie nicht an dem Angriff teilnehmen möchte. „Dann eben nicht. Wir können das auch allein durchziehen, kein Problem.“

19 Uhr, Lagebesprechung vor dem Schlafengehen: Hauptmann Wolle geht davon aus, dass sich etwa 100 „Kuddels“ in Nahr-e Sufi verschanzen. Vielleicht 150, „wenn wir Pech haben. Der Feind weiß mit Sicherheit, dass wir kommen. Die erwarten uns.“ Wolle warnt vor den Verteidigungsstellungen der Taliban, vor Panzerfäusten und Sprengfallen. Der Plan: zwei Uhr wecken, drei Uhr abmarschbereit, drei Uhr dreißig ausrücken. Kurz darauf detoniert ein paar Kilometer vom Lager entfernt eine Bombe – die „Kuddels“ haben eine Brücke in die Luft gesprengt. Alltag im Norden Afghanistans, kein Grund zur Sorge; die meisten Soldaten legen sich früh schlafen, Kraft tanken für den Angriff am nächsten Morgen. Einige wälzen sich auf ihren Feldbetten hin und her. Andere starren stumpf an die Decke, hören Musik auf ihren iPods oder schauen Harry Potter auf dem Laptop beim Zaubern zu; Zeit verbrauchen.

Kurz vor Mitternacht geht ein Stöhnen durch das Lager, gefolgt von Flüchen. Männer wühlen sich aus ihren Schlafsäcken, schütteln ungläubig den Kopf, und wenige Minuten später wissen alle: Die Aktion ist abgeblasen. Ohne afghanische Soldaten läuft nichts, zu gefährlich, hat das deutsche Führungskommando entschieden, drei Stunden vor dem Angriff auf Nahr-e Sufi. Hauptmann Wolle tobt; die Planung, das Training – alles umsonst. Endlich hätten die Deutschen mal aktiv gegen die Extremisten vorgehen und für mehr Sicherheit sorgen können. Dem Feind einen Schritt voraus sein können.

Am Morgen ist die Stimmung eisig, die Soldaten sind wütend. „Warum machen wir den Scheiß hier eigentlich, wenn unsere Verbündeten nicht kämpfen wollen“, schimpft einer und kickt seinen Kampfstiefel in einen Sandsack. „Blöde ,Kuddels’. Jetzt können wir wieder nur reagieren. Verdammt, einmal mit Profis arbeiten – nur für fünf Minuten.“ Alexander Krallmeister schält sich aus der schusssicheren Weste, lehnt das Sturmgewehr an die Wand und streckt sich auf seinem Feldbett aus.

Die Geschehnisse der folgenden Stunden dort draußen: Aufständische besetzen einen Operationsposten der Bundeswehr, den die Soldaten für den geplanten Angriff verlassen haben, vor dem Lager gehen 13 Kämpfer in Stellung. Während einer Patrouille detoniert neben einem deutschen Soldaten eine Sprengfalle. Die Druckwelle zerreißt sein Trommelfell und wirft ihn gegen eine Wand. Er wird von einem amerikanischen Sanitätshubschrauber abgeholt und ins Feldlazarett geflogen. Andere Einheiten stehen draußen in Gefechten, die Aufständischen schießen Mörsergranaten auf deutsche Stellungen ab, und Krallmeisters Zug steht im Lager bereit, die Soldaten notfalls freizuschießen. „Wir haben den Zugang zur Westplatte und einen Operationsposten verloren, einen Verwundeten, und die Taliban greifen jetzt uns an. Toll“, murmelt ein Soldat neben Krallmeister.

Die Taliban diktieren den Deutschen, wann und wo gekämpft wird, greifen mal hier an, mal dort, und erst am Abend beruhigt sich die Lage wieder, die Aufständischen ziehen sich zurück. Bald darauf sitzt Krallmeister am Steuer eines gepanzerten Dingo und fährt mit seiner Einheit zurück ins Hauptquartier. Ein Soldat sagt: „Wir hätten die ,Kuddels’ plattgemacht. Wenn man uns nur gelassen hätte.“ Zwei Tage später greifen amerikanische Spezialkräfte Nahr-e Sufi an. Neun Extremisten und ein amerikanischer Soldat sterben. Den Deutschen bleibt die Rolle des Zuschauers.

  • alle Namen geändert