Zeitenspiegel Reportagen

Unsichtbar groß

Erschienen in "The Germans", Nr. 6, Juli/August 2013

Von Autor Jan Rübel

Noch immer ist die Zahl der Heroinabhängigen in Deutschland hoch. Dennoch ist die Droge seit Jahrzehnten aus unserer Wahrnehmung verschwunden. Warum eigentlich? Eine Spurensuche.

Wie er seinen Körper in den Schritt überm Kurfürstendamm wirft, hier und da Schultern klopft und den Gastronomen mit einem Lächeln kurz zunickt, ist er ein Chef. Einer, der über sich bestimmt, in seinem Job ganz Souverän. Das karierte Hemd schmiegt, weiß strahlt es in der Mittagssonne. Hendriks* verengte Pupillen verlieren sich im dunklen Braun warmer Augen. Man sieht in ihnen einen strebsamen Zeitungsverkäufer, in den Straßenzügen seiner täglichen Route allbekannt. Weniger schimmert durch, dass er seit 22 Jahren Heroin nimmt, die letzten 15 Jahre auf der Straße verbrachte, seinen Besitz in einer gelben „Netto“-Plastiktüte trägt, in der anderen Hand einen gebündelten Schlafsack. Dass er von Tag zu Tag lebt, aber nie in ihn hinein.

An einen der gläsernen Schaukästen des Berliner Prachtboulevards gelehnt, zählt Hendrik die Exemplare der Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“: zehn hat er schon verkauft, „ich liege überm Soll“, sagt er. Zackig ist sein Stil, gerade musste ein Kellner ihm hinterher eilen, den Fünfer eines Kunden für ihn in der Hand. Jetzt drückt er den hoch aufgeschossenen, sehnigen Rücken durch, „Zeit für etwas Entspannung.“

Dreimal täglich spritzt er sich Heroin, morgens nach dem Aufwachen, mittags und abends. „Wenn es mir schlechter geht, nehme ich was.“ Wenn ihm abwechselnd heiß und kalt wird, die Nase zu laufen beginnt und der Darm drückt. Sein Körper nach dem Diamorphin, das einmal getrockneter Milchsaft einer Schlafmohnpflanze irgendwo in Afghanistan war, ruft. „Heroin ist ein Teil von mir. Es ist meine Medizin.“

Wie er jetzt am Bahnhof Zoo in einer U-Bahn verschwindet, so hat sich Heroin in einen blinden Fleck der öffentlichen Wahrnehmung manövriert. In den Achtzigern beherrschte der Stoff die Schlagzeilen. Angst mischte sich mit Zorn und Abscheu. Drogenbeauftragte der Bundesregierung saßen damals im Innenministerium, Heroin galt als Sicherheitsproblem. Noch vor 15 Jahren verfrachtete die Polizei Heroinkonsumenten am Kottbusser Tor, ihrem Treffpunkt in Kreuzberg, in Busse und ließ sie erst am Stadtrand wieder raus. Heute dagegen spricht man von Partydrogen, vom Stimulieren und Befindlichkeitstrimmen. Heroin in diesen kalten Spritzen und seiner beruhigenden Wirkung scheint wie aus der Zeit gefallen.

Günstig ist es nicht. Zwischen 30 und 50 Euro zahlt Hendrik für ein Gramm, zwei reichen für die dreitägliche Ration. Er bezieht sie in der U-Bahn, jederzeit patrouillieren zehn Dealer die Linie U7. Gerade hatte er einen von ihnen von einer Telefonzelle aus angerufen, seine Nummer stand unter zwölf anderen auf einem braunen Notizzettel, daneben arabische Namen. Zwei, drei andere Konsumenten warten schon, als Hendrik am Bahnhof Bismarckstraße den Bahnsteig zur U7 abschreitet. Aus einem Winkel drückt sich Ahmad, der Mittzwanziger schaut sich zu seinen vier Mitgangstern um; sie sichern die Fluchtwege. „Und was brauchst du?“, fragt er Hendrik beiläufig. Doch die Hand zittert, zwei Mal lässt er das Geldbündel fallen, bevor er aus seinem Mund ein Plastikkügelchen mit dem Heroin spuckt. Nicht nur einmal, wird Hendrik später erzählen, sei Ahmad von Russen „abgezogen“ worden. Nach einer Minute ist alles vorbei. Ahmad strebt zum Ausgang. Hendrik nimmt die U7 zum Jakob-Kaiser-Platz, wo er in einer öffentlichen Toilette den Kauf mit Wasser und Zitronensaft vermischen, aufkochen und in eine Spritze ziehen wird.

Früher gab es in Berlin die großen Treffpunkte. An ihnen tauschte man sich aus, kaufte und verkaufte. Irgendwann rückte immer die Polizei an, so dass die Szene quer durch die Stadt wanderte: vom Bahnhof Zoo zum Kottbusser Tor, dann zum Hermannplatz oder Stuttgarter Platz. Die Verdrängungstaktik hat Folgen: Der Handel ist immer in Bewegung, floriert in den Katakomben und Zügen der U-Bahn. Mobile Einsatzteams der Polizei halten nicht mit; zur Not flüchten die Dealer durch die Tunnel. Und: Man sieht nichts mehr. Die großen Treffs gehören der Vergangenheit an. Heroin macht sich unsichtbar.

Vielleicht auch deswegen streift das kollektive Gedächtnis Heroin nur noch. Auf den Websites der im Berliner Abgeordnetenhaus vertretenen Fraktionen findet sich kein Wort zum Thema Heroin. „Heroin ist im Augenblick kein Thema in der Gesellschaft“, rechtfertigt sich Theaterregisseur Patrick Wengenroth, der sich bei der Inszenierung von „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ auf die Suche nach der großen Liebe konzentriert, oder auf die Poesie der Texte. Und die Drogenberichte des Bundes oder der EU beschreiben Heroin eher am Rande, mit verschwurbelten Formulierungen wie: „Heroin spielt zunehmend eine weniger zentrale Rolle.“ Wie viel zentral muss sein, um in der ersten Liga der Wahrnehmung zu spielen?

Die Fakten: 2012 begrub Berlin 113 Drogentote, 2011 waren es 114, allesamt mit Heroin im Blut. 8000 bis 10.000 Opiatsüchtige leben in der Hauptstadt. Und 2012 sank die Zahl der „erstauffälligen Heroin-Konsumenten“ in Deutschland um 23 Prozent von 2742 auf 2090 – ein spürbarer Rückgang, aber dennoch eine erschreckende Zahl; zeigt sie doch, dass Heroin nicht nur eine Droge vergangener Zeitalter ist, sondern auch heute anzieht: zum Beispiel als eine Art Selbstmedikation bei psychischen Problemen oder im Milieu der Partydrogen, um von den schrillen Amphetaminen runter zu kommen. Oder um sich einfach zu betäuben, wenn einem Sorgen über den Kopf wachsen.

Der blinde Fleck birgt auch Vorteile. Hysterie hat abgenommen, Medizin und Sozialarbeit können pragmatisch werken. So am Stuttgarter Platz, dessen Untergrund am Nachmittag Hendrik ausspuckt. Er steuert einen weißen Mercedes Sprinter am Straßenrand an, das „Drogenkonsummobil“ der Organisation „Fixpunkt“. Sie arbeitet suchtbegleitend, bemüht sich um bessere Gesundheit der Konsumenten, leistet psychosoziale Hilfe – sichert Überleben. Im Van tauscht Hendrik gebrauchte Spritzen gegen neue ein. Wer will, kann unter medizinischer Aufsicht injizieren. Heroin, vor über 100 Jahren von der späteren Bayer AG als Schmerz- und Hustenmittel weltweit auf den Markt geworfen, wandert noch heute quer durch alle soziale Schichten, auch Anwälte und Professoren nehmen es. Die hohen Kosten aber führen zu sozialem Druck und oft zum Verfall.

Was im Mercedes an diesem Nachmittag geschieht, was „Suchtbegleitung“ bedeutet, erzählt später Felix von Ploetz, einer der Sozialarbeiter:

Da ist Karen, 25. Sie schimpft, während sie den Van verlässt: „Was haben die mir denn verkauft…“ Jeden Tag kommt sie aus Brandenburg erst nachmittags angereist, vorher arbeitet sie als Altenpflegerin.

Rainer und Kai tauschen wie immer 80 Pumpen, 80 Nadeln und viele Alkohohltupfer. Aus einer stillgelegten Kita sind sie rausgeflogen, diese ist nun abgeriegelt, da der Drogenkonsum und die Vermüllung samt Fäkalien Überhand genommen haben.

Reinhild ist 30, ihr Kind, das sie vor über einem Jahr bekommen hat, ist aktuell in einer Kriseneinrichtung. Sie darf ihre Tochter zweimal in der Woche sehen. Eigentlich war sie schon „clean“ gewesen, dann ein Rückfall. Der Kindesvater muss sich einer Drogentherapie unterziehen, ansonsten ginge es wieder ins Gefängnis. Zurzeit ist es für sie besser, ihn nicht zu sehen.

Ludger, 32, humpelt. Er hat Thrombose, chronische Hepatitis C und etliche Operationen wegen einem Leistenabszess hinter sich. Nun ist er endlich wieder krankenversichert und kann eine Substitution beginnen, mit dem Heroinersatzstoff Methadon.

Ingo, 22, hat Ärger mit der Krankenkasse, er saß innerhalb von drei Jahren in drei verschiedenen Gefängnissen ein. Dies muss er nun der Kasse nachweisen – aber die Bescheinigungen findet er nicht; Ingo ist obdachlos, er hat Mühe seine Dokumente beisammen zu halten. Seine Venen sind durch das Spritzen extrem belastet, auch er hat Probleme mit den Beinen. Und strebt nun eine Substitution an, will wieder die Schule besuchen.

Max ist total verschwitzt, er braucht dringend Kokain und schafft es gerade noch, sich die Hände davor zu waschen. In fünf Monaten soll er Vater werden. Bis dahin will er sein Leben ändern.

Rainer sagt: „Ich kann nicht zum Amt, ich habe bestimmt einen Haftbefehl offen.“ Also kein Hartz IV und weiter warten, bis er zufällig von der Polizei kontrolliert wird.

Die meisten in diesem Bus haben früh mit Heroin angefangen, das Durchschnittsalter von Erstkonsumenten liegt bei 16 bis 18 Jahren; ab einem gewissen Erwachsenenalter ist man zu reif sich auf den Raubbau einzulassen. Der kommt schleichend: Heroin schadet dem Körper eigentlich nicht, es greift keine inneren Organe an. Wohl aber die Umstände, in denen die Süchtigen leben. Sie knackt sie wie eine Nuss. Von den Klienten an diesem Nachmittag schafft es nur Karen, einen geregelten, „offiziellen“ Erwerb mit der Droge in Einklang zu bringen.

„Ja, wir können ungehinderter arbeiten“, sagt Felix von Ploetz aus dem Van heraus. Seit 20 Jahren engagiert er sich bei „Fixpunkt“, er wischt sich mit einem Handtuch die Stirn. „Aber durch die Vertreibung der Drogenkonsumenten von den ‚klassischen’ Szene-Treffpunkten tauchen diese stärker ab und sind viel schwerer für uns zu erreichen.“ Dennoch hat sich das Hilfesystem stetig verbessert, die Erkenntnis Raum gegriffen: Heroinkonsum ist weniger kriminell als krank. Noch in diesem Jahr wird in Berlin eine Arztpraxis öffnen, die Diamorphin an Schwerstabhängige verabreichen wird und damit ein weiteres Tabu wegräumt.

Die Drogenmobilbusse von „Fixpunkt“ zum Beispiel nomadisieren durch die Stadt. Oft müssen sie nach Anwohnerbeschwerden weichen, andere Parkplätze suchen. Und am Stuttgarter Platz wird es ungemütlich. „Die ziehen die Fixer doch nur an“, sagt ein Mann im „Unmöglichen Kaufhaus“, einem ausufernden Laden für Koffer, Geschenkartikel und Haushaltsgeräte. Er kauft gerade drei Bratpfannen. „Die verschandeln unseren schönen, friedlichen Kiez. Wenn die nicht gehen, nehmen wir das selbst in die Hand.“ Und schaut ernst. Der Mann, der seinen Namen nicht nennen will, strebt aus dem Geschäft hinaus, entlang Schaufenstern mit Namen wie „Ban Ban Tabledance“, „Spielothek“ und „City Pension Berlin“, vorbei an Vitrinen voller Gaspistolen, Schlagstöcken und Elektroschocker.

Es dunkelt. Die Wirkung des Heroins lässt bei Hendrik nach, seine Augenlider senken sich. Bald muss er noch einmal hinab, im Untergrund des Stuttgarter Platzes neuen Stoff kaufen. Und oben Obst. „Das ist wichtig, beim Heroinabbau frisst der Körper viel Zucker und Vitamine.“ Er lebt gesund, meidet Alkohol. Sein Leben mag aus engen Bahnen bestehen, aber auf ihnen hat er sich eingerichtet: Kleider besorgt er sich bei der Bahnhofsmission und tauscht sie regelmäßig gegen frisch gewaschene ein. Jeden Morgen geht er in ein Krankenhaus, um sich auf den Besuchertoiletten zu waschen. Soll es immer so weitergehen?

Er streicht über den dichten dunkelbraunen Vollbart, entlang silbrig-weißen Strähnen. 43 ist er und wirkt viel älter, müde. Hendrik denkt stets nach, bevor er spricht. Meist leise, zurückgenommen. Das schafft Vertrauen, man beugt sich ihm zu – und hört: „Ich höre mit dem Heroin auf, wenn ich keinen Bock mehr habe.“ Es klingt trotzig. So, als spräche er nicht von der gefährlichsten Droge der Welt, dabei ist sie so viel in seinem Leben. In seiner gelben „Netto“-Tüte auf der Parkbank liegen alte Post, eine Jacke und Zeitungen für den Verkauf; dann ein gebrauchtes Spritzset, ein frisches, Alkoholtupfer, eine Flasche mit Wasser und eine mit Zitronensaft sowie ein Pfännchen zum Aufkochen – alles Utensilien, um das Heroin in den Körper zu kriegen.

„Ich habe mich fürs Alleinsein entschieden“, sagt er. Mit 17 habe er erstmals Heroin geraucht. „Ich hatte Stress mit meiner Freundin gehabt, und mein Arbeitskollege bot mir immer wieder welches an – irgendwann griff ich halt zu.“ Weil er seine Ruhe wollte, weil seine Mutter zu viel trank, weil ihn der Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ neugierig machte. „Ich wollte wissen, was Christiane F. antreibt.“ Die ersten zwei Jahre habe er das Zeug nur geraucht, in Monatsabständen. Zuviel Angst hatte er vor Spritzen und einer Überdosis, die sich bei ihnen leichter einstellt. Dass es ihn zu den Glückshormonen trieb, zu immer höheren Dosen, damit sie sich einstellten, weil sich der Körper rasch an das Gift gewöhnte, das dämmerte ihm erst langsam. Immer öfter sagte ein kleiner Mann in seinem Ohr: „Du könntest ja mal…“ Da tat ihm die Nadel nicht mehr weh. Und die Arbeit als Maler und Lackierer geriet ihm schwerer, „affig arbeiten geht nicht gut“, meint er mit Blick auf die Entzugserscheinungen. Er fehlte öfter, dann die Kündigung, auch aus der Wohnung. Dealte selbst, saß im Gefängnis – und ordnet sein Leben heute mit eisener Disziplin als Straßenzeitungsverkäufer, allerdings auch dem Heroin unter. „Einen Feiertag hätte ich gerne einmal“, sagt er. Doch täglich muss Geld her.

Behände dreht er sich eine Zigarette, inhaliert den ersten Zug tief, hier auf einer Parkbank am Stuttgarter Platz. Jammern, sagt er, sei nicht sein Ding. Nicht über die gelben Nikotinfinger oder die gerötete Hand, gezeichnet von geplatzten Adern – wenn die Spritze nicht richtig traf. Und die Hepatitis C in ihm, „mit der fühle ich mich manchmal etwas schlapp“. Dann laufe er eben langsamer. „Wichtig ist, morgens früh hoch zu kommen, da verkauf ich am besten.“ Wenn die Pendler Lektüre brauchen und die anderen Verkäufer noch schlafen.

Es bleibt die Angst vorm goldenen Schuss, einer Atemdepression. Acht Freunde starben ihm so hinweg, „vor drei Jahren hatte es mich beinahe auch erwischt, der Stoff hatte zu gute Qualität. Mir wurde immer heißer, dann fiel ich nach vorn wie ein Klappmesser.“ Zum Glück war er nicht allein, Freunde übergossen ihn mit kaltem Wasser, sie stellten ihn im Winter auf den Balkon; nach zwei Stunden kam er zurück.

Hendrik steht auf, greift nach Tüte und Schlafsack. Bald wird er zur Nachtruhe einen Altbau hinaufsteigen, über die Stadt verteilt kennt er Wohnhäuser, in deren Dachböden er unerkannt schlüpfen kann. Letztes Wochenende aber, da habe er gut verdient, „da leistete ich mir eine Nacht im Hostel. Ein weiches Bett, dann Frühstück für 7,50 Euro, mit warmer und kalter Milch, Müsli und Brötchen.“

Eine Taschenlampe besitzt er nicht. Schließt er abends hinter sich die Luke, wird es schwarz.

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