Zeitenspiegel Reportagen

Unter Brüdern

Erschienen in "Berliner Zeitung Magazin", Nr. 70/2013

Von Autor Jan Rübel

Als sie Teenager waren, trieben sie nur Sport und hingen ab. Dann rief sie Allah. Heute sind sie junge Männer und voll heiligen Ernstes. Die Geschichte von Serkan, Ahmet, Rahim und Abd al-Hadi – neuen Fundamentalisten des Islams in Deutschland.

An diesem grauen Spätnachmittag lässt sich Gott nicht blicken. Nicht draußen, in diesem von Müllcontainern und totem Busch bestandenen Hinterhof, durch den Serkan eilt. Es ist Frühling. Oder schon wieder Herbst? Kerzengerade und dennoch den Blick nach unten gerichtet, erklimmt Serkan rasch die Treppe im Hinterhaus in Berlin-Neukölln. Wie kurz er atmet, wie sich die Tiefe, im ersten Stock angekommen, vor ihm öffnet. Der Gebetssaal. Zwei Jungs in Fliegerjacken eilen an Serkan vorbei, „www.Einladung zum Paradies.de“ und „Don’t Panic, I’m Islamic“ steht auf ihren T-Shirts. Er saugt am Eingang geschäftige Stille ein: Kinder spielen lautlos auf dem weiten Teppich Fangen, Alte lehnen an der Ostwand. Unterm silberhellen Licht der zahllosen 18-Watt-Neonröhren riecht es nach frisch gewaschenen Tüchern und Weihrauch. Nach Moschus und Mann. Nach ausgetretenen Socken. Und nach gebratenem Lamm.

Gehetzt lässt Serkan, 20, seinen Blick wandern. Heute ist nicht sein Tag. Da war der arabische Friseur, der seinen Bart abrasierte – weil Serkan doch noch nicht so gut Arabisch versteht, sein Bärtchen, es wuchs für den Flaum zwei Jahre lang. Und dann war da dieser Mann vom Verfassungsschutz, der sich ihm in den Weg gestellt hatte. Berichte solle er schreiben, jede Spur könne hilfreich sein. „4000 Euro haben sie einem Kumpel von mir geboten“, wird er später erzählen. „Der Typ hat mir alle meine früheren Telefonnummern gezeigt. Was wollen die von mir?“

Am Saaleck, unweit der Predigtkanzel, schart sich eine Gruppe um einen Mann im Schneidersitz; Serkan eilt hinzu. „Als ich aus Ägypten wieder nach Deutschland heimkehrte“, sagt der Mann, „da taten mir die Augen weh. So viel Nacktheit, so wenig Scham!“ Ferid Heider, 33, Prediger, mustert seine Zuhörer beim Islam-Unterricht des „Islamischen Kultur- und Erziehungszentrum“, dem IKEZ: milchgesichtige Kinder in Trainingsanzügen, Jugendliche in breiten Rapperjeans und noch dralleren Basecaps – und junge Männer, graue Stoffhosen, die Knöchel so frei gerollt, wie es schon Muhammad der Prophet wegen des lästigen Wüstensandes angewiesen hatte, mit Bärten aller Art. „Ihr sollt Bärte tragen, um zu zeigen, dass Ihr Muslime seid“, mahnt Ferid Heider. „Ich wette, dass ich bei jedem Bart auf der Straße erkennen kann, ob er einem Muslim gehört oder nicht. Die Demut macht den Unterschied. Kümmert euch nicht, wenn sie in der Klasse über euch scherzen: Eure wahren Freunde sind in der Moschee.“ Serkan lehnt sich an die Wand. Jetzt ist er wirklich angekommen.

Ferid Heiders Murmeln erinnert an Stimmbruch, das macht ihn jünger. Er beugt sich vor. „Die Gefährten des Propheten wollten immer die Schnellsten und Besten bei den guten Taten sein“, raunt er. Der Tod klopfe so schnell an die Tür. „Es könnten eure letzen Tage sein, nutzt sie also. Vergesst nicht, was ihr Allah versprochen habt.“ Sein rechter Daumen schnellt in die Höhe, er zitiert die siebte Sure des Koran, Vers 5: „Allah kennt das Innerste der Brüste. Er weiß alles von euch.“

In einer Viertelstunde ist Abendgebet. Noch Zeit also für ein paar Anliegen, mehrere Finger steigen hoch. „Darf ich Judo machen?“, fragt ein Teenager. Ferid Heider schmunzelt. „Klar, ich habe früher selbst Karate trainiert, der Koran verbietet das nicht.“ Ein anderer will wissen: „Darf man Insekten töten?“ „Ja, aber nur schädliche, und das schnell. Mäuse im Haus schon, das sagte der Prophet, aber keine Ameisen und Bienen.“ Serkan meldet sich: „Was mache ich, wenn sich eine Frau für den Islam interessiert?“ Ferid Heider, große Augen, rotbraunes Haar auf etwas gelblicher Haut, lehnt sich zurück. „Tja, verweise sie am besten an die Frauen in der Moschee.“

Wer hier sitzt, will die Wahrheit wissen. Ist weniger auf der Suche nach theologischem Wissen, sondern nach Glauben. Einen, der den Alltag regelt, mit einem Daumen, der klar nach oben oder nach unten weist. Diskussionen gibt es kaum. Nicht, dass der Prediger sie unterbinden wollte. Aber seine Koranschule ist eine Art Vorlesung; nur sitzen vor ihm nicht nur Studenten, sondern auch Hauptschüler. Sie alle lauschen einem sehr konservativen Islam, den Ferid Heider lehrt – mal tritt er im IKEZ auf, mal im Interkulturellen Zentrum für Dialog und Bildung (IZDB) in Berlin-Wedding oder hin und wieder in der Neuköllner Nur-Moschee: alle unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Mit den Honoraren finanziert er sein Arabistik-Studium an der Freien Universität Berlin. Ferid Heider, religiös ausgebildet bei einer den islamistischen Muslimbrüdern nahe stehenden französischen Hochschule, gründet mit den Predigern Abd al-Adhim Kammous und Nasr al-Isa in Berlin ein Dreieck charismatischer junger deutschsprachiger Imame, die für eine radikale Hinwendung zum Islam missionieren; die als Richtschnur fürs 21. Jahrhundert das Leben Muhammads des Propheten und seiner Gefährten aus dem frühen Mittelalter vorgeben. Ihre Lehre mutet schlicht an, und mit ihr füllen sie Säle wie kaum eine andere religiöse Organisation. Sicherheitsdienste schauen ihnen dabei über die Schulter: Mit Grundgesetzverletzungen, Gewalt oder gar Terror haben die drei nichts zu tun. Aber sie predigen in einem Milieu, dem mancher Terrorwillige entsteigt. Der sich von ihnen schließlich lossagt, weil sie Hass und Ignoranz verdammen. Und immer wieder Hausverbote gegen jene aussprechen, die in ihren Augen übertreiben; wie ein Motor, der heiß läuft.

Kurz vor dem Abendgebet noch ein kleiner Höhepunkt. Rahim, 20, der seinen deutschen Namen nicht nennen will, laufen Tränen die Wangen herunter. Vorne bei Scheich Ferid steht sein Zwillingsbruder, er spricht die Schahada, das Glaubensbekenntnis. „Es gibt keinen Gott außer Gott“, sagt er, schielt von der Seite zu seinem Bruder. „Muhammad ist der Gesandte Gottes.“ Und wird in diesem Moment Muslim, neun Monate nachdem sein Bruder Rahim konvertierte. Beide eilen zueinander, greifen nach sich, bleiben wie versteinert stehen, inmitten einer Traube von Gratulanten. Serkan lächelt abseits leise.

Alle stehen auf. Einige Besucher fragen, was der Reporter hier vorhat. „Wir vertrauen Ihnen nicht!“, sagt ein Mann, Anfang 20, ganz ruhig. In seiner braunen Kutte ähnelt er einem Franziskaner. „Sie alle wollen den Islam doch nur niederschreiben.“ Die anderen schauen weg. Serkans Knopfaugen blitzen neugierig auf.

Auf dem Weg zur U-Bahn schart sich eine handvoll Jungs um Rahim und Abd al-Hadi, wie er seit heute heißt. Sie reden laut durcheinander, eilen durch die Sonnenallee, vorbei an Bars und Wettlokalen; der Schritt ist zackig. Wie anders dagegen die Menge auf dem Bürgersteig: Ihr Rhythmus ist langsamer und doch irgendwie schneller. Weicher. Aus einem Café dringt süßer Rauch von Wasserpfeifen. „Du musst standhaft bleiben“, sagt Ahmet zu Rahim. „Sie wird das nie verstehen.“ Rahim hat sich von seiner Freundin getrennt, „Allah verbietet den Kontakt zu Frauen vor der Ehe“. Rahim fasst sich an den Kopf. „Sie ist total sauer. Wenn ich ihr vom Koran erzähle, hört sie weg.“ Ahmet schaut grimmig. „Das hast du für Gott getan. Mit der Versuchung kommst du schon klar.“ Ahmet ist eine Autorität unter den Jungs. Er ist schmächtig, fein laufen die Züge in seinem Gesicht zu einer Denkerstirn zusammen. Ahmet hat gerade Abi und Zivildienst hinter sich – und von einer saudischen Stiftung ein Stipendium, zum Religionsstudium in Riad. Der Koffer ist schon gepackt.

Die Besucher in Ferid Heiders Koranschule sind Kinder einer neuen Strömung – des Neofundamentalismus. Früher war der Islamismus politisch, wollte Gesellschaften umkrempeln. Die Jungs hier aber interessieren sich für die Geschehnisse in Ägypten und Libyen nur bedingt; ihre Heimat ist Deutschland. Für sie ist Religion privat, und sie trägt christliche Züge, die neu für den Islam sind: die Angst um Stärke und Schwäche des Glaubens, den Trend zur Religiosität, die Betonung des Individuellen und das Interesse am Selbst. Er hat mit der Zeit verstanden, sagt Serkan, worum es in der Sache mit den Mädchen geht. „Der Koran lehrt den Blick zu senken.“ Es ist der nächste Morgen, er durchstreift Gropiusstadt im Südosten Berlins: weiße Wohnblocks in Endlosschleife. Die Familie war kurz vor seiner Geburt aus Kreuzberg hierher gezogen, als erste türkische der Trabantenstadt. Serkan ist unterwegs zur Arbeit in einer Kita: er lässt sich als Erzieher ausbilden. „Das hat mit meiner Religion nichts zu tun, mir macht Sozialarbeit Spaß.“ Auf der Erzieherschule sind fast nur Frauen. „Manche Jungs belegen dort anfangs nur Seminare, um an die Mädchen ranzukommen“, lacht er. Und er? „Na, ganz normal. In meinem Kopf habe ich Klick gemacht. Ich bin locker mit ihnen, Mann, nur denke ich dabei nie an das Körperliche.“

Nie?

„Okay, am Eingang zur Moschee darf man mal kurz rüberschauen zu den Frauen. Alles andere ist Sünde.“

Was macht junge Männer wie Serkan, Rahim und Ahmet so keusch?

„Weil Verbote wie Dämme sind. Sie schützen das gute Leben, wie es Muhammad der Prophet vormachte.“

Warum?

„Weil sich am besten jedes Verhalten auf eine Norm bezieht – und unsere Norm ist Muhammad, wir kennen keinen, der ihn toppen kann. Außerdem trägt jeder einen gewissen Teil an Liebe mit sich, die ihm gegeben wurde. Die konzentriert er besser auf die Ehe.“

Hat Liebe etwa ein Gewicht?

Serkan kratzt sich am Hinterkopf. „Gott regelt alles. Es gibt doch Sympathie auf den ersten Blick, oder? Man muss ja nicht schon vor der Heirat auf dem Top-Niveau der Liebe sein. “ Er sei doch kein Detektiv.

Am Park passiert Serkan die Gropius-Gesamtschule. Zwei Sicherheitsleute patrouillieren am Eingang. Er mustert sie, als wäre er vor etwas auf der Hut. „Islam wird in meiner Familie nicht bewusst gelebt, meine Eltern sind säkular“, sagt er und streicht sich über den lilafarbenen Sportanzug. Den Glauben gefunden habe er dort drinnen, er zeigt auf das grauflache Gebäude.

Bis zur zehnten Klasse besuchte er den Bau. „Damals herrschte echter Krieg.“ Stühle flogen gegen Lehrer, „mit gehangen, mit gefangen“, beschreibt er seine Schulzeit. „Wir hatten eine Clique, und wir haben uns damals voll isoliert von den Deutschen.“ Die „Krassen“ unter ihnen seien es auch gewesen, die ihn zum Islam brachten. „Wir wurden aufmerksam auf geheime Treffen der Hizb al-Tahrir.“ Serkan und seine Gang wunderte es, dass man sich privat traf und nicht in einer Moschee, und dass die Handys ausgeschaltet werden sollten. „Aber spannend war es anfangs schon.“ Die Tahriris sind in Deutschland verboten, sie wollen hoch hinaus: eine weltweite Kalifatsherrschaft. „Die redeten ständig nur darüber, wo überall unsere Brüder gefoltert werden. Sollen die ihren Staat doch allein machen.“ Selbst Schwarzfahren sei erlaubt, hätten die behauptet, weil Deutschland kein islamischer Staat ist. „So ein Quatsch.“

Die Jungs verloren die Lust an islamischer Revolution, sie zogen weiter, in eine echte Moschee. Und dort erwischte es ihn. Das war vor vier Jahren. „Ich hatte unbewusst darauf gewartet, dass man mich ruft, ohne Plan.“ Die Stille. Die Gemeinschaft im Gebet. Der Plan. Zehn Mann war die Clique stark. Drei wurden religiös, „die einzigen, die beruflich etwas geworden sind. Die anderen zogen weiter und hängen noch heute ab“.

Es sind oft nicht die Verlierer, die zurück ins Frühmittelalter streben, die Schulabbrecher und Halbstarken. In Deutschland bildet sich eine neue Jugendbewegung heraus. Kein cooler Pop-Islam ist unter ihren Anhängern angesagt, sondern strenger Regelkodex. In einer Studie des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 2007 hatten sich bereits 44 Prozent aller muslimischen Jugendlichen als fundamental erklärt, die Religion sei ihr zentrales Orientierungssystem. Und vier Jahre später kommt eine Ministeriumsstudie zum Ergebnis, unter befragten deutschen und nicht deutschen Muslimen zwischen 14 und 32 Jahren lasse sich eine Subgruppe identifizieren, die als „streng Religiöse mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz“ bezeichnet werden könne. „Diese Subgruppe umfasst in der Teilstichprobe der deutschen Muslime rund 15 Prozent und in der Gruppe der nichtdeutschen Muslime rund 24 Prozent.“ Die Besucher von Ferid Heiders Koranschule hat niemand gefragt. Aber einige von ihnen meinen es jedenfalls ernst mit ihrem Glauben – und ihrem Berufsweg. Serkan will unbedingt Sozialarbeiter werden. Rahim und Abd al-Hadi studieren Jura, Ahmet plant ein Leben als Theologe. Religion ist für sie ein Code. Und das Leben ein Ritual.

In Serkans Kopf klopft gerade die Sure 26 an. Gebannt hört er der Rezitation auf seinem MP3-Player zu, die hohen Häuser und engen Seitenstraßen verwandeln Neukölln in einen Tunnel. Es ist ein paar Wochen später, Serkan schlendert zur Moschee. „Ich höre gar keine Musik mehr, das war eine Entwicklung. Je mehr Koranlesungen ich lauschte, desto weniger Verlangen hatte ich nach Musik. Ich quäle mich nicht mehr.“ So viele Songtexte voll schlechten Inhalts, oder Liebe. „Die Leute fangen ja an zu weinen, kriegen Kummer. Da ist zuviel Emotion.“ Von den Suren aber, davon kriegt er nicht genug. Vor dem Unterricht im IKEZ schaut Serkan noch in einem kleinen Parfümladen vorbei, hunderte kleine Flaschen stehen in schmalen Regalen. Es gebe vier Dinge, sagt Serkan, die dem Propheten wichtig waren, die zu seiner Sunna gehörten: „Die Schamhaftigkeit, schöne Düfte, die Vermählung und das Zähneputzen.“

Im Laden trifft er Younes, einen Kumpel von Ferid Heiders Koranschule. „Hast du schon das neuste Stück von Mishari Ibn Rashid al-Afasi gehört?“, fragt Serkan, und beide zücken ihre Player. Die Jungs von der Koranschule tauschen Rezitationen wie Panini-Fußballbilder. Und mögen es gesellig: „Treffen wir uns zum Bundesligagucken?“, fragt Serkan. Seine neue Gang hat vor zwei Wochen ein interreligiöses Fußballturnier organisiert, Handreichung bei einem Straßenfest und Nachbarschaftshilfen stehen bald an. Man ist streng und brav zugleich.

Vor dem Unterricht hat Serkan noch eine Verabredung mit seinem Lehrer. Er kniet auf dem Teppich, vor ihm ein Koran. Doch Serkans Augen sind geschlossen, er singt die Sure aus dem Kopf. „Trage vor, im Namen deines Herrn, der geschaffen hat“, summt er auf Arabisch. Der Koran ist ihm ein liturgischer Text, seine Lesung ein Gebet. Serkans Stimme dehnt die Buchstaben, schwingt sich auf, hält inne und endet tief, als würde er von weit weg singen. Wer lernt, den Koran richtig zu rezitieren, sagen die Gelehrten, der versteht auch besser seinen Sinn. „Das ist ja schon ganz gut“, lobt Scheich Ferid am Ende. „Du musst aber noch die Buchstaben unterschiedlicher betonen.“ Irgendwann will Serkan ein Hafiz sein, wie sein Lehrer. Einer, der den Koran auswendig kennt. Der festhält, was ihm wichtig ist.

In der Koranstunde selbst spricht Ferid Heider immer wieder aus, was ihn bewegt: In 65 Minuten sagt er heute 21 Mal „Allah“ und 55 Mal „Muhammad“ – stets mit dem Zusatz „Sallah Allah Alleihi Wa Sallam“, Gott preiste und grüßte ihn. „Die unterste Glaubensstufe im Islam ist eine verdammt wichtige“, sagt er. „Sie bedeutet, den Dreck, der andere Menschen stört, auf der Straße wegzuräumen.“ Er blickt in die Runde. „Warum ist Neukölln dann so schmutzig?“ Jeder Muslim solle der Gesellschaft nutzen. „Ihr sollt arbeiten, euch einbringen. Es ist schon komisch, wenn manche Leute fünf Mal am Tag in der Moschee sitzen. Ein besonderer Glaubensbeweis ist das nicht.“

Integration ist für niemanden hier eine Frage. Die aktuelle Studie aus dem Bundesinnenministerium, wonach die religiös Extremen integrationsunwillig seien, sie widerspricht der Realität in diesem Saal: Alle sehen sich als Teil des Landes, ihres Landes, beanspruchen ihren Platz. Parallelgesellschaften verachten sie. Die Frommsten unter den religiösen Muslimen, die Hardliner, verhalten sich ziemlich deutsch: Halten es gern korrekt und mit der Disziplin. Reden nur Deutsch miteinander und lachen kaum. Als Ferid Heider 15 wurde, war Schluss mit lustig. Dem irakischen Vater und der polnischen Mutter passte es nicht, dass Ferid jeden Tag kiffte, in den Straßen von Charlottenburg lungerte. Sie schickten ihn für ein Jahr in eine ägyptische Gastfamilie, eine disziplinierende Auszeit. An Religion dachten sie nicht. Doch aus dem Jahr wurden drei. Zurück kam ihr Sohn mit einer Mission.

Scheich Ferid schaut in die Runde. „Ihr seid Vorbilder! Euch geht es in Deutschland so wie Muhammad in Mekka. Anfangs stand er allein mit seinem Glauben, und er sammelte mehr und mehr Anhänger.“ Integration ist für Ferid Heider selbstverständlich. Und sie ist auch Schmierstoff für die Mission. In jedem Menschen sieht er eine Seele, die gerettet werden kann.

Am Ende seiner Lektion steht Ferid Heider auf, gleich beginnt das Abendgebet. „Ferid…“, murmelt Serkan und zeigt auf das kleine Funkmikro am Revers. Beide grinsen. Ferid Heider nimmt es schnell ab. Einmal hatte ein Imam in der Nur-Moschee nach seiner Predigt das Mikro mit aufs Klo genommen; live lauschten 200 Brüder über die Lautsprecher mit.

An der Garderobe räuspert sich zaghaft ein Teenager, er schaut seinen Imam unsicher an. „Mein Vater will meiner Schwester die Heirat verbieten. Darf er das?“ Die Frage zieht sofort drei, vier Zuhörer an. Scheich Ferid setzt sich noch einmal auf den Teppich. „Ja, er darf Veto einlegen. Aber nur mit einer islamischen Begründung.“ Klar, zwischen Frauen und Männern herrsche im Islam Gleichberechtigung, „aber nicht mit identischen Rechten, sondern angepasst an die Natur“. Er drechselt jetzt jedes Wort. „Der Mann hat wegen seiner körperlichen Stärke mehr Führungskompetenzen. In der Familie soll er im Zweifel das letzte Wort haben.“ Die Jungs sind ganz Ohr.

Was hat denn Muskelkraft mit Erziehungskompetenz zu tun?

„Frauen sind in der Regel emotionaler, und Männer agieren eher rational.“

Steht das im Koran?

„Das sagt mir meine Erfahrung.“ Er fragt: „Ist immer alles, was altmodisch ist, schlecht?“ Es klingt trotzig.

In den folgenden Monaten macht sich Serkan rar. Er wechselt zweimal die Handynummer, beantwortet keine Mails. Dann plötzlich ein Anruf. „Komm am Sonntag in die Nur-Moschee. Da gibt es ein Mega-Event.“ Serkan ist ein Organisator. Einer, der Kongresse und Seminare in der fundamentalistischen Szene ganz Deutschlands zusammenstellt. Einer, der in seiner Freizeit islamisch netzwerkt. Durchs Land fährt, Brüder mobilisiert, Predigern lauscht.

Mal gehen er und seine Freunde zu Ferid Heider, für den Islam und Moderne nicht im Widerspruch zueinander stehen – auch wenn er in kumpelhaftem Ton die Regeln vergangener Zeitalter bemüht. Mal zu Abdul Adhim Qammous, der ruft und singt und schreit bei seinen Predigten vor Begeisterung; den evangelikalen Predigern im US-Fernsehen nicht unähnlich. Oder sie ziehen zu Nasr al-Isa, der redet ihnen zwar ein wenig dröge und monoton, gilt aber als besonders streng. Und manchmal treffen all diese Strömungen des Neofundamentalismus zusammen, wie an diesem Sonntag.

Aus ganz Deutschland sind sie gekommen. Vor der Nur-Moschee stauen sich Autos mit Kennzeichen aus Hamburg, Stuttgart und München. Serkan hat einen Star in die Moschee geladen: Loon, einen US-Rapper, der stand früher mit Puff Diddy auf der Bühne und nennt sich heute Amir Junaid. Er soll Zeugnis ablegen, wie er zum Islam kam, wie aus einem Bad Boy ein Good Boy wurde. In der Moschee drängeln sich viele Dutzend junger Männer, draußen warten Fernsehkameras auf Loon. „Ex-Rapper will Hass in Berlin predigen“, titelt eine Boulevardzeitung heute. Stickig ist es im Saal. Vor drei Tagen wurden zwei junge Männer aus einer Weddinger Moschee festgenommen, sie sollen an einer Bombe gebastelt haben. Einer von ihnen war früher Schüler bei Ferid Heider gewesen, dann kehrte er sich von ihm ab und ein in eine andere Welt. Grüßte ihn kaum und suchte den Bruch, weil er in ihm keinen richtigen Muslim mehr sah.

Gleich hinterm Eingang sitzen Rahim und Abd al-Hadi, mit gespannten Gesichtszügen lauschen sie den Vorwürfen eines hochgewachsenen Jungen in langem Gewand. „Wie könnt ihr bloß Jura studieren?“, schimpft der. „Das ist verboten. Für uns gilt nur das islamische Recht.“ Rahim stöhnt. „Nun lass mal die Moschee im Dorf. Auch Muslime brauchen einen Rechtsvertrag, und in Deutschland sind das die Gesetze. Wir kennen doch auch nichts anderes.“ Der Junge schüttelt den Kopf, zieht weiter. „Immer diese Takfiris“, murmelt Rahim. „Sie sind aber trotzdem Brüder.“ Takfiris erklären andere zu Ungläubigen, sie sind die Inquisitoren des radikalen Islams.

Nebenan redet ein roter Lockenkopf auf einen Teenager ein, zum ersten Mal ist der in einer Moschee, „ich wollte mir das mal anschauen“, sagt er schüchtern. „Hey, ich krieg nicht genug vom Beten“, schwärmt der Hausherr, einen Ministaubsauger in der Hand. „Davon kriegst du den Geschmack vom Paradies. Was hält dich davon ab, jetzt zum Islam zu konvertieren?“ Rahim grinst. „Der hat es aber eilig.“ Er beugt sich vor. So sei es bei ihm auch gewesen. Serkan habe ihn beim ersten Moscheebesuch abgefangen, „zugetextet hat der mich, ich sollte sofort die Schahada sprechen“.

Serkan selbst ruht auf seinen Hinterbeinen in der Saalmitte. Wie erstarrt sitzt er da, den Blick im Nirgendwo. Duft von Brathähnchen zieht von der Küche her, erwartungsvoll wandern viele umher, schütteln Hände, klopfen sich auf die Schulter. Sie schauen entschlossen und weise, als wüssten sie, was anderen verborgen bleibt. Sie strahlen Antworten aus, keine Fragen. Doch Serkans Gesicht wirkt fahl, er weiß mehr als sie. Er schaut noch einmal auf die SMS in seinem Handy: Loon hat spontan abgesagt, das Flugzeug in seiner neuen Heimat Kairo nach Berlin gar nicht genommen. „Man hat ihm gesagt, die Prediger in Deutschland seien auf dem falschen Weg“, murmelt Serkan. „Wir seien ihm zu tolerant und zu offen für andere Meinungen.“ In einer Halle würde er auftreten, aber in keiner Moschee.

Serkans Schultern hängen schlaff, wie ein Boxer, den ein Punch aus unvermuteter Richtung traf. Schon einmal hatte es ihn so hingehauen, vor ein paar Wochen, hatte sein Blick ihn weggetragen. Damals hatte er geflüstert, nur der Islam sei der Weg zum Paradies. Es klang flehend. „Manchmal, in der U-Bahn mit den vielen Leuten ohne den richtigen Glauben, da wird mir traurig.“ Wenn die so bleiben, wie sie sind. Und ihr Zug im Paradies nie ankommt.

Fein gemacht hatte sich Serkan heute, seine schwarze Stoffhose angezogen, und das gestreifte Hemd mit einem Kragen so weiß wie der eines Priesters. Wer hat nun die Wahrheit auf seiner Seite, Gott? Serkan reißt sich hoch, „ich muss mal telefonieren“. Und geht raus.