Zeitenspiegel Reportagen

Vergiss mein nicht

Erschienen in "Berliner Illustrirte Zeitung", 4. September 2011

Von Autor Jan Rübel

Vor zweieinhalb Jahren besuchte unser Autor Jan Rübel zwei Berliner Paare und begleitete ihren Alltag mit Alzheimer. Ein Wiedersehen

Wie versunken sie in der Mittagssonne steht. Leicht vornüber gebeugt, die Hand am Stock, schaut Brigitte Nowak hinab in ein schwarzes Loch. Dann holt sie tief Luft.

Die letzten 16 Jahre hatte sie ihren Heinz gepflegt, war nicht von seiner Seite gewichen. Hatte seine vier jährlichen Schlaganfälle und die sich anschließende Demenz erlebt. Über sein Leben mit Alzheimer wollten wir eine zweite Reportage realisieren, nachdem wir zwischen Januar und Juli 2009 das Ehepaar Nowak und andere für eine erste begleitet hatten. „Schauen Sie am nächsten Montag vorbei“, hatte Brigitte Nowak vor vier Wochen am Telefon vorgeschlagen, „dann ist mein Mann wieder für ein paar Tage daheim“. Fünf Stunden später starb Heinz Nowak, 76, im Zimmer 32, vierter Stock des Auguste-Viktoria-Klinikums in Berlin-Friedenau. Heute, bei der Beisetzung seiner Urne auf dem Friedhof Steglitz, bildet sich ein Kreis aus schwarzem Zwirn um Brigitte Nowak und das Loch. Wie verwurzelt stehen die Trauergäste. Alles ist still, nur die Drossel auf der Eiche gegenüber singt ihr Sommerlied. „Ist das jetzt das Ende?“, fragt Brigitte Nowak. Und wendet sich stumm ab.

Brigitte Nowak schweigt auch vier Tage später, als sie in einem exklusiven Klub Platz nimmt, mit minzgrünen Tapeten und rosafarbenen Tischdecken. Der Preis für den Eintritt ist hoch, und keiner der Gäste hat sich die Mitgliedschaft gewünscht: Im Seniorenzentrum Mathildenhof am Schlachtensee treffen sich die Leute von der Alzheimer-Angehörigeninitiative zweimal im Monat. Dann reden sie miteinander, geben sich Ratschläge. Grübeln für zwei Stunden über eine Welt, in der die Pflege ihrer Geliebten alles ist. Brigitte Nowak muss das jetzt lernen: Abschied zu nehmen. Daher besucht die 73-Jährige den Treff weiterhin, wie die Jahre zuvor, sie lauscht indes nun dem, was hinter ihr liegt.

Jeder der zehn anderen am Tisch berichtet reihum von der vergangenen Woche. „Meine Frau raunzt mich oft an, ‚was willst du überhaupt hier, das ist alles meins’“, sagt Werner F., Sie provoziere ständig, „und sie kann keine Fehler zugeben. Das nervt.“ Rosemarie Drenhaus-Wagner beugt sich vor. „Das ist ein häufiges Phänomen bei Alzheimer“, sagt die Leiterin des Angehörigentreffs. „Menschen mit Demenz verkennen leicht Situationen. Ihnen wurde die Fähigkeit genommen, Fehler zu erkennen.“ Sie schaut in die Runde. „Die brauchen Sie als Lotsen im Strudel von Zeit und Raum.“

Neben Werner F. sitzt eine Dame, ihren Namen möchte sie überhaupt nicht nennen. „Mein Mann ist jetzt im Heim, da tönt den ganzen Tag über Radiomusik aus einem Lautsprecher. Und das Klinikpersonal kann das nichtmal abstellen. Aber wenigstens wickeln sie ihn jetzt richtig.“

Raimund Cichos nimmt einen tiefen Schluck aus seiner Kaffeetasse. „Vorige Woche hatte ich Probleme mit dem Rücken. Ich sagte zu Margried: ‚Ich lege mich mal hin.’ Da wurde sie ganz ruhig und hustete kaum.“

Als wir das Ehepaar Cichos Anfang 2009 erstmals besucht hatten, saß Margried Cichos seit einem Jahr im Rollstuhl, hatte Alzheimer sie sprachlos gemacht. „Ich weiß nicht, wie es für meine Frau ist“, sagt Raimund Cichos, „aber für mich wird es immer schwerer.“ Rosemarie Drenhaus-Wagner hebt die rechte Hand. „Wie viel schläfst du?“ Raimund Cichos, 62, stockt. „Dreieinhalb Stunden.“

„Du musst an dich denken. Nur erholt kannst du ihr helfen.“

„Aber jemand muss ihr dann doch den Kopf halten, wenn sie hustet. Das können die im Heim nicht so.“

„Willst du immer so weitermachen?“

Raimund Cichos weint. Brigitte Nowak neben ihm legt ihren Arm um seine Schulter. Jetzt schaut sie ganz stark. Am Ende des Nachmittags fassen sich alle elf an den Händen. Sie räumen das unangetastete Buttergepäck zurück in eine Metalldose, schieben die Holzstühle symmetrisch zueinander an den Tisch, und das schiefe Ölgemälde mit Erlen an der Wand hängen sie auch gerade.

Vielleicht brauchen sie Ordnung und Struktur, um durch den Tag zu kommen. Raimund Cichos etwa teilt den Tag in Stunden. Alle sechzig Minuten füllt er seiner Margried Flüssignahrung in die Magensonde. Vier Tabletten morgens, fünf abends, nachts wechselt er regelmäßig ihre Seitenlage. Nur seinen Schlaf sammelt er so zwischendurch ein. „Ich dämmere mehr.“ Immer wieder zieht es ihn zu ihr, auch heute, einen Tag später in seinem Wohnzimmer in Berlin-Lichtenrade. „Ich geh mal nachschauen.“ Er steht auf, strafft sein hellblaues Jeanshemd. Heute ist „Abführtag“: Statt im Rollstuhl verbringt Margried Cichos den Tag im Bett; Medikamente sorgen für die Darmentleerung. Margried Cichos sieht im Schlafzimmer die Welt draußen, die Häuser mit ihren Gartenzäunen davor, durch eine Gardine – als läge ein Schleier überm Leben. Ihre Augen suchen Raimund Cichos. In Zeitlupe durchschweift ihr Blick den Raum. Als sie ihn findet, huscht ein breites Lächeln über sein Gesicht. „Sie schaut mich seltener an“, sagt er und schiebt ein kleines Dinkelkissen in ihre verkrampften Hände. „Das tut weh.“ Ein Rekorder spielt leise „Entspannungsmusik“ – Panflöte und Geigen. Die Haut: so straff und elfenbeinfarben wie vor 20 Jahren.

Alzheimer dagegen lässt sich nicht aufhalten. Diese Krankheit tötet langsam und zielsicher. In einem Verlauf von spätestens zehn bis zwölf Jahren nach der Diagnose baut sie soviel Hirnmasse ab, bis am Ende nicht mehr genug da ist, um das Leben zu steuern. In den vergangenen zwei Jahren hat sich die Pflege immer mehr in Raimund Cichos’ Leben gedrängt. Die Lähmung seiner Frau schreitet voran, Arme und Beine lassen sich kaum mehr strecken; die Dämmerzustände greifen Raum. Ihm selbst bleiben kurze Pausen, in denen er meist an Margried denke, „zum Lesen etwa fehlt mir die Konzentration“. Sie sei ja sein Leben. „Ohne sie wäre ich nur ein halber Mensch.“ Nie gestritten hätten sie sich, immer verstanden – auch wortlos. „Die vielen Gespräche von damals, vor der Krankheit, die fehlen mir sehr.“ Also redet er stumm mit ihr.

Er selbst steckt dabei zurück. Hat Schmerzen in Beinen und Rücken, hohen Blutdruck. Sein Arzt will ihn für eine Gefäßerweiterung für zwölf Tage in die Charité schicken, „aber wer kümmert sich dann um Margried“? Das Antidepressivum für Raimund Cichos ist erhöht worden. „Wenn ich sie nachts höre, bin ich sofort auf den Beinen. Morgens, wenn sie noch schläft, brauche ich dann eine Stunde, um mit meinen steifen Gliedern aufzustehen.“ Dann muss sich Raimund Cichos erstmal selbst ins Leben hieven. Immer wieder bieten sich Freunde an, ihm bei der Pflege zu helfen. „Aber ich kann das nicht überstrapazieren. Und die Handgriffe bei ihr werden ja immer schwieriger.“ Es bleiben kleine Highlights: der monatliche Besuch des Tanzcafés für Alzheimer-Erkrankte, oder die vielen Einladungen, die Familie Cichos bekommt. Morgen Nachmittag geht es gar in ein Lokal, „die Mutter einer Bekannten wird 76“.

Über den Tod redet er nicht, von Details Alzheimers will er kaum wissen. „Ich lebe in der Gegenwart. Alles andere hilft mir nicht.“ Dass Margried Cichos im Kampf gegen Alzheimer immer mehr Niederlagen einsteckt, sieht er selbst. „In diesem Jahr hat sie drei epileptische Anfälle bekommen“, sagt er. „Sie beginnt dann zu röhren, immer lauter. Diese Stimme werde ich nicht mehr los.“

Mit der Gegenwart kämpft Brigitte Nowak dagegen immer noch. „Ich sehe ihn ständig“, sagt sie. Fünf Wochen nach dem Tod ihres Mannes bittet sie zum Besuch. Sie sitzt in ihrem roten Ledersessel, den Rücken leicht gebeugt. Gläser für Weißwein, Rotwein, Cognac und Sekt zieren den Glasschrank links, im Salon ihrer Dreizimmer-Altbauwohnung in Friedenau. Wann das letzte Mal aus ihnen getrunken wurde, weiß sie nicht.

„Es geht mir besser“, sagt sie. Gestern hat sie die letzten noch offenen Bankgeschäfte abgeschlossen, verfügt nun über ein eigenes Girokonto. „Das alte lief bisher über Heinz, trotz seiner Demenz.“ Und das Rote Kreuz war da, hat seine Kleidung mitgenommen.

Am Ende war es nicht die Demenz gewesen, die Heinz Nowak umwarf, mehr eine Art Generalangriff. Im vorletzten Jahr schlich sich Parkinson ein, im letzten schlug das Herz immer toller. Anfang Mai 2011 ging er, auf einen Stock gestützt, ins Krankenhaus, seine Pumpe und ein Infekt sollten genauer untersucht werden. „Ist das meine letzte Station?“, fragte er. Da habe sie gelacht. „Im Krankenhaus kriegte er aber binnen Tagen eine Lungenentzündung, die Nieren versagten“, sagt Brigitte Nowak. „Und dann entdeckten sie Brustbeinkrebs. Den kriegen doch sonst nur junge Leute.“ Der Tumor wucherte. „Die Ärzte wollten noch operieren. Vorher sollte ich ihn für eine Woche zu mir nehmen.“ Aber keine vier Wochen, nachdem Heinz Nowak ins Krankenhaus wegen eines Routinechecks gehumpelt war, erstickte er am Krebs.

Brigitte Nowak streicht übers Leopardenmuster ihres Hemdes, das Haar sitzt wie immer perfekt. Sie greift nach einem Stock. In der Küche macht sie sich zwei Butterbrote. Für Heinz hatte sie jeden Tag gekocht, gern Deftiges wie Geschnetzeltes oder Roulade. „Mir ist nicht danach. Ich schnappe mir dies und das.“ Und schmiedet langsam Pläne: mit einer Freundin vielleicht an den Timmendorfer Strand, aber vorher lässt sie sich am Rücken operieren; um einen eingeklemmten Nerv und einen Bandscheibenvorfall müssen sich die Ärzte auch noch kümmern. „Jetzt habe ich ja die Zeit dafür.“

Die Zeit rast für Brigitte Nowak nun, so viel Bewegung. Selbst nachts wache sie nun zwei, drei Mal auf. „Dann setze ich mich in meinen Wohnzimmersessel. Erinnerungen kommen dann hoch.“ An die schönen Zeiten mit ihrem Mann, vor allem vor seiner Krankheit. „Gestern Nacht war ich mit ihm noch mal am Gardasee zelten, wie damals. Das tut gut.“ Soviel muss sie nun sortieren, an Neuem und Gewesenem, an Gedanken. Ja, sagt sie, sein Tod sei eine Erlösung, für ihn und auch für sie. Ihrer beiden Kräfte hätten am Ende nachgelassen. „Nur war er viel weiter als ich. Etwas zog an ihm, manchmal wollte er einfach nur weg.“ Im vergangenen Winter war er einmal nachts barfuß bei 20 Grad unter Null auf die Straße gegangen. Ein Nachbar holte ihn dann ein, die Füße glühten noch Stunden feuerrot. Kurz bevor er im Mai dann ins Krankenhaus kam, habe er immer gesagt: ‚Ich gehe jetzt zur Arbeit.’

„’Welche Arbeit’, fragte ich ihn dann.

‘Na, du weißt schon.’“