Zeitenspiegel Reportagen

Wie wir dem Asphaltdschungel entkamen

Erschienen in "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 04.07.2013

Von Autor Jan Rübel

Endlich raus, Natur hautnah erleben – Großstädter denken schon mal an ein Zelt im Grünen. Ein Frontbericht

Unser Ritt ins Grüne begann vor einem Monat. Da hatte Luca bei einem Spaziergang am Berliner Grunewald eine Laubenkolonie erspäht; sie erschien ihm als verwunschene Hexenhäuschensiedlung. „Hier will ich leben“, seufzte er, “hier ist alles ruhig und nicht vergiftet.“

Wir schauten uns an. Abgesehen davon, dass sich die Lauben zwischen Bahnlinie und Autobahn zwängten, es sich mit der Ruhe dort relativ verhielt, fragten wir uns: Von wem hatte er das? Wir: Großstadteltern in Berlin-Mitte, mit Luca (7), Lara (4) und einer Katze, die seit ihrer neunten Lebenswoche die Wohnung nur verlässt, wenn es zum Tierarzt geht. Ein bisschen besser erging es unseren Kindern schon, und die Spielplätze Berlin-Mittes sind viel grüner als ihr Ruf; kurz, Lucas Lamento fanden wir etwas stark. In einen Schrebergarten jedenfalls wollten wir nicht ziehen.

Doch in Lucas Augen sammelte sich Sehnsucht. Schwere, kaum zu umgehende Kindessehnsucht. „Die Hälfte ist manchmal mehr als das Ganze“, sagte einmal Hesiod, und weil der in seiner Jugend als Schafshirte die Hügel durchstrichen hatte, war er ja vom Fach: Ein wenig Natur, fanden wir, dient unser aller Erbauung. Schon nächstes Wochenende, beschloss der Familienrat, sollte es hinausgehen, auf einen Campingplatz. Vorerst. Wir wollten es mit der Natur nicht gleich übertreiben. Schließlich hatte ich mein letztes Zelt mit Leidenschaft an den Kanälen meiner ostfriesischen Heimat aufgeschlagen, dies aber in der Pubertät. Lucas Vision vom Grünsein träumte ich nun mit. Erinnerungen von Kajaktouren und Lagerfeuer brandeten sanft heran, von Unabhängigem und Unheimlichem des Zeltens. Plötzlich roch ich wieder den Gummistoff und den süßlichen Muff einer jeden Plane, und es roch herrlich.

Im Laden für „Outdoor“ und „Adventure“ glaubte der Verkäufer uns erst im zweiten Anlauf, dass wir keine Expedition zum Nanga Parbat planten. Keinen Extremtemperaturen oder Schneestürmen wollten wir trotzen, sondern eher brandenburgischem Nieselregen. Etwas enttäuscht zeigte der Verkäufer auf ein Vierpersonenzelt mit dem Bruchteil des Preises für die vielen faltbaren Mondmissionsunterkünfte im Geschäft. Uns gefiel es sofort. Geräumig schien es uns, hübsch rund und hell. Schnell noch vier Iso-Matten und vier Schlafsäcke erworben – und ein Ziel avisiert.

Unsere Wahl fiel eher zufällig auf die mecklenburgische Seenplatte. Auf die Schnelle gewährte uns nur ein großer Zeltplatz, genauer der Camping- und Ferienpark Havelberge mit seinen 100 Häuschen und 400 Stellplätzen, Asyl. Ein etwas überdimensionierter „Campingplatz“ also, aber dafür direkt am Woblitzsee und mit einer „herrlichen Einbindung in die Landschaft“, wie es in einem Prospekt hieß, dazu Spielplätze, Restaurant und Supermarkt. Internet, Mountainbike, Nordic Walking und Beach-Volleyball gab es auch – als preiste die Broschüre einen Klub Robinson in Cornwall.

In einem Mietwagen schließlich verließen wir am Freitagnachmittag Berlin gen Norden. Es wurde eine zähe Fahrt. Bis wir die Alleen der Uckermark erreichten, ging es quälend langsam im Autostau durch Pankow; etliche Berliner hatten ähnliche Ideen gehegt und die Prenzlauer Promenade in ein Nadelöhr verwandelt. Die Wettervorhersage im Radio mochte sich nicht festlegen, ob Regen und Kälte drohten oder nicht. Wir frohlockten. Drehten die Klimaanlage auf und wollten hinaus. Plötzlich störte uns Berlin.

Die Sonne neigte sich satt golden, als wir die Auffahrt zum Camp hochfuhren. Ein Kribbeln stellte sich ein, Luca und Lara wachten von ihrem Frühabendnickerchen auf und bestaunten die hohen Kiefern, unter denen sich Wohnwagen und Zelte duckten, entlang einem Knäuel von Sandwegen, aber in gebotenem Abstand zueinander. Angesichts der vielen Menschen, die hier logierten, erschien das Lager still. Friedlich. Die Natur obsiegte über den menschlichen Gestaltungswillen. „B079“ stand für uns reserviert da, 77 Quadratmeter „Komfortplatz“ mit Wasser- und Stromanschluss. Letzteren konnten wir zwar nicht nutzen, da uns das nötige Kabel fehlte; für Tablet oder Handy waren die Buchsen zu groß. Aber immerhin konnten wir das Auto gleich neben dem Zelt parken. Natürlich hatten wir zu viel eingepackt. Zwei Reisekoffer nur für Klamotten, dazu die Ausrüstung, eine Tasche voller Essen und ein Grill, der rasch aufgestellt war und zu rauchen begann.

Länger dauerte es mit dem Zelt. Dem Verkäufer war der Demonstrationsaufbau unseres „Intrepid-4“ im Geschäft im Handumdrehen gelungen. Unerschrocken setzten auch wir uns ans Werk. „Wo ist denn die Bauanleitung“, fragte ich, „ist keine dabei?“ Improvisation half kaum, dieser Stoffhaufen verwandelte sich nicht entfernt in ein Zelt; die Kohlen weißten schon. Verzweiflung stellte sich ein.

„Sollen wir die Nachbarn fragen?“ Deren mitleidsvolle Blicke hatten uns längst gestreift, aus ihren Mannschaftszelten mit Vorplatz und verstellbaren Luxustisch. Gerade wollte ich mich zu ihnen aufraffen, da fand Luca die Anleitung unten im Sack. Eine Viertelstunde später sah unser „Intrepid-4“ aus wie ein Zelt, etwas schief zwar, wie eine Schlange, die einen Elefanten verschlungen hatte etwa, aber wir waren gerettet.

An einen Tisch oder Stühle hatten wir nicht gedacht, das Auto war eh schon überpackt und diente uns als Kleiderschrank. Wir legten die Isomatten vors Zelt und hockten uns hin. Im Schneidersitz bissen wir in die ersten Würstchen, ließen den Grillrauch unsere Nasen kitzeln und dachten nicht daran, dass unser Dinner den Hunderten Campern in diesem Zeltdorf etwas unausgegoren erscheinen möge; erst am nächsten Tag bestaunten wir die Paläste aus Plane am Wegesrand, von den Wohnmobilen zu schweigen. Unser Intrepid fügte sich wie ein Mauerblümchen ein. Aber unser Mietwagen, ein schneidiger Opel Astra Sportstourer mit Scheinwerfern wie Adleraugen, wertete unseren bescheidenen Auftritt auf. Wir genossen also am ersten Abend unsere Wurst, und als der erste Moment der Ruhe hätte einkehren können, jener des Einklangs mit der Natur und mit sich selbst, wurde es toll.

„Hilfe!“, schrieen Lara und Luca wie aus einem Mund, solch eine Wolke aus Mücken hatten sie noch nie gesehen. Im Sturzflug sausten die Biester nieder, bohrten sich ohne Rücksicht auf Verluste kamikazeartig hinein. Das Fleisch war war schnell verzehrt, der Rotweinbecher hastig geleert, dann der Rückzug ins Zelt. Unser Intrepid verfügte über ein Moskitonetz am Eingang, und wir zählten unsere Stiche, auf dem Rücken der Mama waren es 47. „Wie machen das die anderen?“, fragten wir uns mit Blick auf die Nachbarn, die ungerührt in ihren Campingsesseln versanken.

Die Dunkelheit kam mächtig. Keine Straßenlaterne, die von außen für gewohntes Schlummerlicht sorgte. Kein gemütliches, wie fernes Rauschen entlang ziehender Autos, sondern einzelnes Pizzicato, spitz und klar. Lara und Luca duckten sich. Klein fühlten wir uns, beeindruckt von diesem lebendigen Schwarz, aus dem so viele Geräusche drangen. Eng beisammen schliefen wir rasch ein.

Vom Morgen kündigten die Vögel, ein Konzert, dass Luca den Kopf heben ließ, stumm lauschend, die Augen weit geöffnet. Nach einer Weile legten wir uns wieder hin, auch weil uns fröstelte. Diesen Schauder sollten wir den Tag über nicht mehr verlieren.

Grau war der Himmel geworden. In Handtücher eingewickelt und die Hände reibend reihten wir uns in die Kolonne Camper ein, die zum Waschraum trottete. Dort war es herrlich warm, besonders der Händetrockner ein Genuss, aber wir wollten das Wochenende ja nicht in der Sanitäranlage verbringen. „Bewegen wir uns“, schlug Roberta vor, und wir liefen zum nahen See. Luca wollte gleich baden, aber eine gelbliche Flüssigkeit machte sich, von der Seemitte wie ein Faden fließend, am Ufer breit. „Das ist Chemie“, sagte ich, „bloß nicht Anfassen“. Baden fiel aus. Kanus waren bereits alle belegt, aber ein Motorboot lockte am Steg: ein Metallkähnchen, dreieinhalb Meter lang. Nach einer kurzen Einweisung brausten wir los. Zumindest kam es mir so vor, eng umklammerte ich die Pinne, so schnell zog der Außenborder an. „Mehr Gas!“, brüllte Luca, und ich fragte mich, warum man für solch ein Höllengefährt keinen Führerschein braucht.

„Was machen denn die Paddel da?“, wollte Lara wissen. „Um im Notfall zurück zu kommen“, erklärte Luca fachmännisch. „Wenn der Motor kaputt geschossen wurde oder so.“ Lara fragte sich, wie es sich in solch einem Boot paddelte, und so stoppte ich den Außenborder. Das Paddeln erwies sich als Plackerei. Rasch entschieden wir, wieder den Motor arbeiten zu lassen – nur sprang er nicht mehr an. Die Minuten verrannen, jeder von uns versuchte sich am Zug, drückte den „Choke“, jeder fluchte. Ein Anruf beim Bootsverleiher nutzte kaum, auch weil die Handybatterie gerade ihren Geist aufgab. Uns blieb übrig, wieder zu den Paddeln zu greifen.

Nach einer Weile kamen wir richtig gut voran. „Ich sehe schon den Steg“, feuerte uns Lara an, während Roberta und ich ins Wasser stachen. Etwas beschämt legten wir Großstadteier an, ertrugen das müde Lächeln des Bootsverleihers und lehnten uns zurück, als auch ihm der Motor nicht ansprang. „Weiß nich“, murmelte er, zückte sein Handy, und nach drei Minuten kam Henry aus der Bootshalle gefedert. Henry trug eine ledrige Anglerkutte, einen Indianer-Jones-Hut und eine Kippe im rechten Mundwinkel. „Henri kennt sich aus“, flüsterte mir der Bootsverleiher zu. Tatsächlich fand Henri den Fehler, eine lockere Schraube an der Spritpumpe, im Nu. Wir gaben noch einmal Gas, aber der beginnende Regen und der Gegenwind setzten uns doch zu. Im Zelt wurde es hingegen lauschig warm. Auch der Kohlegrill bollerte wieder, und die Mücken blieben diesmal aus. Es war ihnen wohl zu kalt.

Mit der Zeit kam uns die Natur etwas beengt vor. Immer im Zelt, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Da trug der matte Westwind Musik heran, von der drei Steinwürfe entfernten Animationsbühne des Camping- und Ferienparks. Die Kinder sausten los, wir hinterher. Die Kapelle, eine Sängerin und zwei Gitarristen in weißen Jacketts samt Drum&Bass-Computer, hantierte erfahren mit der wetterlichen Unbill. Sie nannte sich „Summer Sun Band“ und spielte erstmal „Who’ll Stopp the rain“, gefolgt von „It never rains in Southern California“. Sofort strebten vier, fünf Paare zur Bühne und schwoften. So viel Humor. So viel Renitenz. Da schmeckte selbst das Carlsberg vom Fass.

Wir tanzten bis in die Nacht, Lara mittendrin. Nur Luca spielte abseits mit ein paar Jungs. Es ging mit Stöcken gegen Mädchen. Eine Geburtstagsgesellschaft aus dem Dorf bereicherte schließlich den Auftritt, alle in feinen Anzügen und engen Kleidern, totaler Schick zwischen dem Standard-Look Jack Wolfskins von uns „Campern“, unseren Uniformen, als wären wir tatsächlich aus einem „Camp“ oder einem „Fort“ oder einem „Base“. Ein besonders begabter Tangotänzer aus dem Dorf verbeugte sich vor Lara und schob sie zu „Always look on the bright side of life“ beim steten Nieselregen über den Boden, in perfekt geradem Rücken. Lara schwebte. Für einen Moment waren wir alle eins: die professionellen Altcamper und wir Greenhorns, die Band und die Dorfgesellschaft. Wer kam und wer blieb. „Wer hat dieses Lied in seiner Jugend gehört?“, fragte die Sängerin vor einem Song der DDR-Rockband „Karat“ – und die meisten hoben gröhlend die Hand. „Und wer nicht?“ Wir blieben still. Nicht, weil wir uns nicht getraut hätten. Wir fanden es egal. Wasser in den Kleidern und dänisches Bier in den Bechern kannte keinen Unterschied.

Am nächsten Morgen reisten wir ab. Nur der Regen war schuld, ehrlich. Auf der Rückfahrt übrigens sahen wir überall Pfützen voll gelblichen Wassers am Straßenrand. Es kam von den Bäumen herab, gefärbt von den Pollen der Waldkiefern. Habe ich nachgelesen, daheim, im Internet, bei einem Grog. Sehr lehrreich, die Natur. Luca fragte übrigens die folgenden Wochenenden nicht, wann wir das nächste Mal zelten. Aber werden wir. Und die Schlafsäcke machten sich auf dem Balkon hervorragend.