Zeitenspiegel Reportagen

Wo ist Victor?

Erschienen in "enorm", Nr. 2/2011

Von Autor Carsten Stormer

Im Norden Thailands steht ein Heim für demenzkranke Patienten aus der Schweiz und Deutschland. Hier bekommen sie alles, was in ihrer Heimat fehlt oder zu teuer ist: liebevolle Pflege, Zuneigung, Zärtlichkeit und Respekt. Ourtsourcing von Patienten: Sieht so die Zukunft der Pflege aus?

Der Ausflug, an den sie sich nicht erinnern kann, sei bestimmt schön gewesen, sagt die alte Dame. Egal, das Vergessen gehört zum Programm. Genauso wie das Fremde und Exotische. Die Mönche in ihren safrangelben Gewändern, die seltsame Musik, die so gar nichts mit der Volksmusik zu tun hat, die sie zu Hause in der Schweiz oder in Deutschland so sehr mögen. Und dann dieses Essen, sehr lecker, aber ein bisschen zu scharf vielleicht. Victor Sammer aß eine Nudelsuppe mit viel Chilli, die ihm das Wasser aus den Augen presste. Er nahm seine Brille ab, wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch fort und hustete und lachte abwechselnd, bis ihm das Käppi in den Schweizer Nationalfarben vom Kopf rutschte. Elisabeth Mugli begnügte sich nur mit einem Eis; die Figur.

Frau Mugli ist eine elegante Dame, die grauen Locken frisch frisiert, die Hände manikürt, ein Seidentuch um den Hals gewickelt und den Rücken gerade durchgedrückt als hätte sie einen Besenstiel verschluckt – wie man ihr das als junges Mädchen eingetrichtert hat. Neben ihr döst Manfred Richter in seinem Rollstuhl. Reinhardt Mühlethaler, von allen nur Reini genannt, flirtet mit seiner jungen Betreuerin und die Frau Müller hätte gerne noch eine Cola. Eine Gruppe alter Leute, mit Krücken, Gehhilfen oder in das Aluminium ihrer Rollstühle gefesselt, unfähig, sich mitzuteilen, weil sie ihre Sprache verloren oder eine eigene erfunden haben. Gefangen in Geist und Körper: die Gäste von Baan Kamlangchay, dem Alzheimerzentrum am Stadtrand von Chaing Mai im Norden Thailands, der letzten Station ihres Lebens.

Sie genießen den Schatten eines Tamarindenbaums im Innenhofes eines Klosters, umgeben von Buddhas aus weißem Marmor und goldenen Türmchen. Eine Zauberwelt, die so gar nichts mit ihrer Heimat in Deutschland oder der Schweiz gemeinsam hat. Vor ihnen Garküchen mit Töpfen in den Fisch oder Suppe köchelt. Es riecht nach gebratenen Schweinefleisch, marinierten Rinderspießchen und Zitronengras. Devotionalienstände bieten Buddhastatuen und Souvenirshops T-Shirts an, auf denen „Amazing Thailand“ steht – wunderbares Thailand. Und ab und zu kommt ein freundlicher Mensch vorbei: Die Frau von der Garküche stellt ein paar Schüsseln gebratene Nudeln und Suppe vor die älteren Herrschaften und verbeugt sich, die Hände vor die Brust gefaltet, die thailändische Geste des Respekts. Eine Mutter setzt ihr Kind auf Elisabeths Muglis Schoß, das Kind streicht ihr übers Gesicht und lächelt die alte Dame an. Victor Sammer sitzt ein bisschen abseits auf einem roten Plastikschemel, den er überall mit hinnimmt, denn er hält gern Abstand. 28 Grad im Schatten aber Victor Sammer eine warme Jacke angezogen, man weiß ja nie, ob es nicht gleich zu schneien beginnt. Vor drei Tagen hat er seinen 81igsten Geburtstag gefeiert. Die Einheimischen scherzen in einer Sprache, welche die Fremden aus Europa nicht verstehen, aber sie lachen mit. Und wenn man sie ein bisschen später fragt, wie ihnen der Ausflug gefallen hat, dann schauen sie erstaunt und fragen: „Welcher Ausflug?“

Wer das Heim Baan Kamlangchay besuchen möchte, muss in das Örtchen Faham fahren, einer ruhigen Siedlung eines Vorortes von Chiang Mai, Thailands zweitgrößter Stadt. Keine Spur vom Trubel und Hektik, weder Smog noch Lärm. Hier schließen die Nachbarn nachts ihre Türen nicht ab, Kinder spielen auf den Straßen Federball und Verstecken. Bougainvilleas blühen und mit den gestutzten Hecken der Vorgärten wirkt es fast wie ein gepflegter Vorort irgendwo in Deutschland. Das nächste Krankenhaus ist nur ein paar Minuten mit dem Auto entfernt, wichtig für die zehn Demenzkranken aus Deutschland und der Schweiz im Alter von 61 bis 88 Jahren.

Martin Woodtli, der Gründer des Heims sitzt am Computer seines Büros und korrespondiert mit den Angehörigen seiner Patienten. Er ist ein kräftiger Mann mit warmen Augen. Im Wohnzimmer spielt seine thailändische Frau Areewan mit dem gemeinsamen Sohn und in der Küche bereiten Angestellte das Mittagessen für seine zehn Gäste vor. Woodtli nennt sie Gäste, nicht Patienten, das ist ihm wichtig; „das zeigt Respekt vor einem gelebten Leben, das langsam zu Ende geht.“ „Es ist heute ein bisschen hektisch“, sagt er und gerade fällt ihm ein, dass er dringend neue Windeln besorgen muss. „Die Pampers sind aus!“, sagt er laut zu sich selbst. Vor sieben Jahren hat er das Heim gegründet und inzwischen wohnen zehn Patienten in sechs Häuschen, die von dreißig Pflegern und Krankenschwestern rund um die Uhr betreut werden. Der Name des Heims bedeutet übersetzt: Betreuung des Herzens.

Das thailändische Abenteuer begann für Martin Woodtli mit einem Schicksalsschlag in Münsingen bei Bern. Seine Mutter war an Alzheimer erkrankt und Martin Woodtlis Vater nahm sich daraufhin, aus Gram und Trauer, dem geistigen und körperlichen Verfall seiner Frau tatenlos zusehen zu müssen, das Leben. Den Sohn ließ er mit der Frage zurück: „Was soll ich jetzt mit der Mutter machen?“ Neun Monate pflegte Woodtli seine Mutter zu Hause, „ständig musste man aufpassen, dass nichts passiert.“ Und in dieser Zeit sah er sich mehrere Pflegeheime in der Schweiz an. Aber die Art und Weise, wie man dort alte und kranke Menschen behandelt, fand er „völlig unzumutbar“. Das Personal habe zu wenig Zeit für zu viele Patienten und wenn es mal hektisch wird, werden die Alten schon mal an ihre Stühle gefesselt, damit sie nicht randalieren oder aus dem Heim ausbüchsen, während der Pfleger durch die Stationen hetzt. „Das wollte ich meiner Mutter nicht antun“, sagt Woodtli und hebt seinen Sohn auf den Schoß. Außerdem wären die Lebensersparnisse seiner Eltern innerhalb von zwei Jahren aufgebraucht gewesen, „für mindere Pflege in trister Atmosphäre.“ Danke, nein.

Die schwierigste Phase sei für ihn am Anfang gewesen, als seine Mutter noch realisierte, welche Krankheit sie hat. Als sie sich das Gesicht mit Zahnpasta einrieb und meinte, dass dies „völlig normal“ sei. Wenn sie sich in ihrem Zimmer einsperrte und hysterisch lachte, gefangen im Labyrinth ihrer Erinnerungen. Mit 73 Jahren hätte seine Mutter etwas Besseres verdient, fand Woodtli. Er wollte, dass sie geistig gefordert wird, dass sie trotz ihrer Krankheit Eindrücke bekommt, dass sich jemand um sie kümmert. „Ich wollte mit ihr noch etwas Abenteuerliches erleben. Lebensqualität ist doch besser als Langlebigkeit!“ Er suchte nach einer Lösung wie tausende Familien in Deutschland und in der Schweiz. Bis er sich an Thailand erinnerte.

Woodtli kannte Thailand, die Kultur, die Menschen und ihre Sprache. In den neunziger Jahren arbeitete er vier Jahre lang für ein Aids-Projekt der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ in Chiang Mai. Und er wusste, wie Thais mit alten Menschen umgehen. Martin Woodtli nippt an seinem Kaffee, Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn, während er erzählt. „Die Thais betrachten das Nachlassen von geistigen und körperlichen Fähigkeiten als ganz normalen Prozess. Die Jungen kümmern sich um die Alten, das ist selbstverständlich.“ Der Umgang sei hier vielleicht nicht so professionell wie in Deutschland, dafür menschlicher. Eine Idee reifte in seinem Kopf, nahm Besitz von ihm. Sie schien die beste aller schlechten Lösungen zu sein und im Dezember 2003 setzte er sich mit seiner Mutter in ein Flugzeug und flog nach Thailand gegen den Rat von Freunden und Ärzten. Sie versuchten ihn von seinem Vorhaben abzubringen, redeten ihm zu, machten Vorwürfe. Menschen, die sich nicht mehr in ihrer gewohnten Umgebung zurechtfinden, bringe man nicht in ein Land, in dem sie sich nicht auskennen, sagten sie. „Einen alten Baum verpflanze man nicht.“

Woodtli hat die Argumente tausendfach gehört, tausendfach darüber nachgedacht und diskutiert. Mit Menschen, die es für selbstverständlich halten, billige Krankenschwestern aus osteuropäischen Ländern in die Schweiz oder nach Deutschland zu importieren, es aber moralisch verwerflich finden, sich bestmögliche Pflege im Ausland zu suchen. Aber seine Idee hat ihn zu einem gefragten Mann gemacht. Häufig bekommt er Anfragen, Angebote, Hilferufe. Von Menschen, die nicht mehr wissen was sie mit ihren Angehörigen machen sollen. Von Geschäftsleuten, die Profite aus der Pflegemisere in der Heimat schlagen wollen. Denn so könnte die Pflege der Zukunft aussehen, für eine Gesellschaft die immer älter wird und Pflegenotstand schon heute für tausende Familien zum Alltag gehört. Woodtli hört sich diese Angebote an, Interesse aber hat er keines. Es würde gegen sein Konzept der familiären Atmosphäre verstoßen. Und neue Gäste kann er sowieso nicht mehr aufnehmen – kein Platz, keine Zeit; Entschuldigung. „Ich werde immer wieder gefragt, ob ich nicht noch mehr ausbauen möchte, damit diese wunderbare Dienstleistung von mehreren pflegebedürftigen Menschen in Anspruch genommen werden kann. Einzelne Investoren wollten mir eigens dafür geeignete Ressorts aufkaufen und zur Verfügung stellen. Ich glaube eher weniger an die Funktionalität und Qualitätssicherung eines Grossprojektes mit fünfzig oder mehr Betten wie es mir von Investoren angeboten wurde.” Diese Nachahmer, kritisiert er, setzen sich hauptsächlich “zu hohe Ziele im lukrativen Bereich.” Ihnen fehle es oft an der ehrlichen Motivation.

Auf hohen Profit verzichtet Woodtli lieber. Er kann von seinem Unternehmen ganz gut leben, das reicht. Mit Baan Kamlangchay habe man ein familäres und integratives Modell entwickelt, welches sowohl den Gästen als auch den Betreurinnen eine Art Heimatgefühl vermittelt. Dadurch, dass das Heim in die Dorfstrukturen eingebettet ist, erleben die Gäste einen natürlicheren Alltag, im Gegensatz zu geschlossenen Institutionen. “Die vielen Neuanfragen, die ich immer wieder bekomme, zeigen meines Erachtens den Bedarf an neuen Formen der Betreuung, wo ein natürlicher und zärtlicher Umgang mit Demenzkranken möglich sein kann. Dies muss nicht zwingend in Thailand stattfinden. Dass dies in meinem Fall hier realisiert werden kann, hängt mehr mit meiner persönlichen Lebengeschichte zusammen.”

Finanziert wird Woodtlis Unternehmen ausschließlich durch die Beiträge der Angehörigen. Das Heim erhält weder staatliche Subventionen noch Spenden. Deutsche Krankenkassen zahlen zwar, je nach Vertragsabschluss, Spitalkosten in Thailand, nicht aber den Aufenthalt in Baan Kamlangchay. Das müssen die Betroffenen selbst stemmen. Die deutsche Pflegeversicherung erlaubt, bis zu 180 Euro im Monat für Kranke auszugeben, die zu Hause leben. Angehörige von Demenzkranken können sich kurzfristig zehn Tage unbezahlt beurlauben lassen, um die Pflege eines Familienmitgliedes zu organisieren und dürfen bis zu zweihundert Euro für Betreuung ausgeben. Trotzdem, in den meisten Fällen reicht das hinten und vorne nicht. Pflege ist ein fulltime job, am Ende steht die Aufgabe des Berufes, der Freundschaften, der Freizeit. Plötzlich wird von Menschen, die weder ausgebildet noch vorbereitet auf den geistigen und körperlichen Verfall ihrer Angehörigen sind, verlangt, dass sie ihr altes Leben aufgeben und rund um die Uhr Windeln wechseln, aufpassen, Speichel abwischen, Brei kochen, füttern. Für die meisten Menschen ist die finanzielle, emotionale und körperliche Belastung zu hoch. Die Rechnung ist einfach: für die meisten Betroffenen ist gute Pflege zu teuer und bezahlbare Pflege nicht gut genug. Etwa zweitausend Euro kostet der betreute Urlaub in Thailand, ungefähr die Hälfte von dem, was man in Deutschland bezahlen müsste.

Nicht so in Thailand. Hier hätten alte Leute das Recht anders zu sein, erzählt Woodtli. Da passt schon mal der Kellner eines Restaurants auf einen Patienten auf, während der Pfleger zur Toilette eilt, und wenn ein alter Herr auf dem Markt einen Apfel stibitzt, zuckt der Verkäufer nur mit den Schultern. „Alte Menschen genießen eben großen Respekt. Anders als in Europa, wo die Leute beschämt wegschauen, wenn sich Demenzkranke mal daneben benehmen.“ Während er erzählt, besucht er seine Gäste in ihren Häusern, sieht nach dem Rechten, sagt hallo, schaut, ob alles läuft und wie es jedem Einzelnen seiner Patienten geht. Schläft Justin? Was machen Manfred oder Jenny? Man redet sich hier mit Vornamen an, auch das erzeugt Nähe. Unterwegs trifft er die 61 Jahre alte Philippina Zürcher mit ihrer Betreuerin. „Na, Philippina, wo wollt ihr denn hin?“ Die Frau schaut ihn verwundert an, kichert, boxt ihrer Pflegerin in die Seite und fragt: „Was will denn dieser Herr von uns?“ In Europa werden Demenzkranke mit Medikamenten ruhig gestellt oder mit Gurten in ihre Rollstühle fixiert, in denen sie alleine darüber grübeln, wer sie mal gewesen sind. Oder sie werden mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt, damit sie kein Anfall überfällt und sie keinen Ärger machen. In Baan Kamlangchay ist das all das nicht nötig. Drei Betreuerinnen kümmern sich in drei Schichten um einen Kranken, rund um die Uhr, täglich. Sie versuchen, die Menschen aus den Katakomben ihrer Seele zu führen. Die sprachliche Distanz wird mit Menschlichkeit überbrückt: Gestik, Mimik, Blickkontakte. Berührungen, kleine Massagen, Händchen halten, Umarmungen, Zärtlichkeiten dienen als Kommunikationsform. Eine Formel, um den Abstieg in das schwarze Loch, das Demenzkranke unaufhaltsam ansaugt, ein bisschen zu entschleunigen. Zuwendungen, für die in der durchstrukturierten Welt der Pflegeheime in der Heimat weder Zeit noch Geld übrig ist. „Für Europäer mag das ungewohnt klingen, in Thailand ist das ganz normal.“

In Haus Nummer sechs kümmert sich die 26-jährige Umphorn um den 81 Jahre alten Victor Sammer. Seit drei Jahren pflegt sie den Alzheimer-Patienten und in dieser Zeit ist sie zu einer Mischung aus Bezugsperson, bester Freundin und Ersatzenkelin geworden. Jetzt sitzen die Beiden gemeinsam auf dem Sofa und spielen Jassen, und weil Victor nicht verlieren kann, lässt Umphorn ihn ständig gewinnen. Dafür zwingt sie ihn sachte nach jedem Spiel einen Schluck Wasser zu trinken, das ist der Deal: Victor gewinnt und muss Wasser trinken, damit er nicht austrocknet bei der Wärme. Seine Winterjacke darf er anbehalten. Umphorn nennt ihn „Opa“, und zwickt ihn in nach jedem Sieg in die Wange. Victor Sammer stellt sie liebevoll als „meinen kleinen Diktator“ vor. Sie sind sich nahe gekommen in diesen Jahren, der alte Herr aus der Schweiz und die junge Frau aus den thailändischen Bergen. Da er ihren Namen ständig vergisst, hat sie einen Spitznamen bekommen: Gift. Das kann sich Victor besser merken. Übersetzt bedeutet ihr Name: Geschenk. „Mach doch mal ein bisschen Musik, …, wie heißt Du noch mal?“, bittet Victor. „Ich bin Gift, Opa!“, sagt die junge Frau, umarmt ihn und drückt einen Kuss auf seine Wange und streichelt seine fleckigen Hände. „Ah richtig, Du bist die Gift. Kann ich Musik hören, bitte?“ Umphorn geht rüber zur Stereoanlage, kramt in einer Schublade nach Victors Lieblings CD und legt eine Scheibe von Vico Torriani ein. Früher hat die gelernte Pflegerin in Krankenhäusern und Pflegeheimen gearbeitet. Aber die Arbeit habe ihr dort nicht gefallen, weil sie sich um zu viele Menschen auf einmal kümmern sollte. Hier könne sie sich Zeit nehmen für Victor, herausfinden, was er gerne hat und was er nicht mag. „Ich wäre unglücklich, wenn ich nur für Geld arbeiten würde.“ Achttausend Bhat verdient sie im Monat, umgerechnet zweihundert Euro, dafür teilt sie ihr Leben mit ihm, führt in auf die Toilette, bringt ihm Essen und schläft auf einer Matratze neben seinem Bett, falls er nachts Hilfe braucht.

Am Nachbartisch legt Victors Mitbewohnerin Elisabeth Mugli Patience um Patience, stundenlang. Vico Torriani singt von Paris, Kalkutta und einer großen Liebe und die 88-jährige Elisabeth driftet in ihre Vergangenheit. Sie starrt an die Wand als wäre dort ein Fenster in eine vergangene Welt. Früher reiste sie mit ihrem Mann um die Welt, lebte im pakistanischen Karatschi und im indischen Cochi, sie wohnte in England und in Deutschland. „Kalkutta!“, flüstert sie, Sehnsucht im Blick und fragt, wo denn eigentlich der Victor sei, der neben ihr auf der Couch sitzt. Victor sagt, dass er jetzt ins Bett will.

Bislang gab es erst zwei Todesfälle in sieben Jahren. Ein freier Platz wird schnellstmöglich neu besetzt, Patienten aus der Schweiz oder Deutschland rücken nach. Die Verstorbenen werden eingeäschert, das ist mit den Angehörigen abgesprochen. Im Frühjahr 2006 starb Woodtlis Mutter und er ist sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, seine Mutter nach Thailand zu bringen. Ihre geografische Heimat habe sie nicht vermisst. „Sie hat ihre Erinnerungen mit nach Thailand genommen.“ In ihren letzten Jahren lief Margit Woodtli durch das Dorf Faham als wäre sie im schweizerischen Münsingen. Sie besuchte den Tempel als ginge sie in die Kirche und auf dem Markt kaufte sie Papayas und Mangos wie einst zu Hause Äpfel und Birnen. Manchmal reiste sie zu den Anfängen ihres Lebens, glaubte das Haus zu erkennen, in dem sie als junges Mädchen zur Schule ging. Am Ende hat sie ihren eigenen Sohn nicht mehr erkannt. „Das wäre in Münsingen wohl auch passiert. „Es geht darum, dass meine Gäste noch etwas erleben, aktiv sind, Spaß haben. Ob sie sich daran erinnern, spielt keine Rolle.“

Zurück bleiben die Angehörigen, für die es durchaus eine Rolle spielt, wo sie ihre Liebsten unterbringen. Liselotte Mahler steht am Bett ihres Mannes Johann und wischt ihm Speichel aus dem Mundwinkel. Der 85-jährige leidet an einer mittelschweren semantischen Demenz und Parkinson. Was um ihn herum passiert, nimmt er nicht mehr wahr, die Sprache ist ihm schon vor Jahren verloren gegangen. Die Krankheit ihres Mannes ist für sie das schlimme Ende eines langen und erfüllten Lebens. „Wir sind seit 56 Jahren verheiratet und ich vermisse ihn sehr“, sagt Liselotte Mahler, die jedes Jahr zu Weihnachten für drei Monate zu Besuch kommt. Den Rest des Jahres stellt sie sich Gewissensfragen: War es die richtige Entscheidung, Johann nach Thailand zu bringen, so weit weg von der Heimat? Hätte es nicht doch ein Pflegeheim gegeben, das anständige und bezahlbare Pflege geleistet hätte? „Für den Johann ist das hier das Beste. Für mich nicht!“ In ihrem Heimatdorf lästern die Leute. Sie hätte doch den Johann nur abgeschoben, um Ruhe zu haben, frei zu sein. Jetzt, da der Johann in Thailand sei, könne sie wieder etwas unternehmen, werfe man ihr vor. Sie spüre die Blicke, das Getuschel, wenn sie durchs Dorf geht. Und wenn sie aus Asien zurückkehrt, fragen die Leute spöttisch, wie der Urlaub gewesen sei. „Aber das sind keine Ferien, ich kann mich hier nicht erholen!“ Wie lange sie die Belastung noch durchhalte, wisse sie nicht: die lange Reise, das ungewohnte Klima – „gesundheitlich geht es mir nicht mehr so gut“, sagt sie und zeigt auf ihre Gehstöcke, eine 82-jährige Dame, die zwischen den Kontinenten pendelt. Bei ihrem letzten Besuch im April fing sie sich Denguefieber ein. Sie streicht über die Falten auf den Händen ihres Mannes, zieht mit dem Zeigefinger die Adern nach und erzählt dabei von den beiden gemeinsamen Kindern, „der Barbara“ und „dem Georg. Keine Reaktion.

Während in Haus Nummer sechs Victor Sammer mit Umphorn Karten spielt , fahren Manfred Richter und Philippina Zürcher auf einem Sportplatz in Chaing Mai, spazieren durch den Park, sitzen auf Parkbänken, beobachten den Sonnenuntergang oder werfen sich Bälle zu. Elisabeth Mugli sitzt an Woodtlis Computer in dessen Büro und telefoniert über Skype mit ihrem Neffen in der Schweiz und erzählt, dass sie großes Heimweh habe. Nach einer halben Stunde legt sie das Headset ab und bleibt noch ein paar Minuten regungslos sitzen und starrt auf den Bildschirm. Liselotte Mahler, die einzige Angehörige, die zu Besuch ist, erlebt den Verfall ihres Mannes Johann. Und auf der Terrasse des Baan Kamlangchay sitzen die einige Gäste, essen Drachenfrüchte und Ananas und wundern sich darüber, warum es in der Schweiz in diesem Monat so warm ist.

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