Zeitenspiegel Reportagen

Zum Mittelpunkt von Mitte

Erschienen in "Berliner Illustrirte Zeitung", 16. September 2012

Von Autor Jan Rübel

Berlin-Mitte, das klingt zentral, nach dem Kern Deutschlands. Und sie sind ja auch alle da, Politiker, Lobbyisten und Touristen. Doch wie sieht es an den Grenzen aus? Eine Wanderung

Mathematiker sagen, der Rand einer Menge ist stets abgeschlossen. Ich wusste damals noch nicht, wie sehr das auch den Rand von Mitte trifft, als ich um acht in der Früh am Brandenburger Tor stand. Ein schmales Wolkenband hatte sich vor die Sonne gelegt und tauchte den Himmel in vages Pastellblau. Unschlüssig standen zwei Franzosen in Hawaiihemden am Pariser Platz, sie schlenderten zaghaft gen Tor, blieben aber stehen, schauten zur Botschaft der Vereinigten Staaten im Süden. Liefen dann zurück zum Bäcker Wiedemann am Anfang des Platzes, an einem Tisch davor saß Peter Altmaier. „Es könnte theoretisch sein“, sagte der Bundesumweltminister in sein Handy, nahm einen Schluck Capuccino, und: „Dann könnte es sein.“ Verunsichert schulterte ich meinen Rucksack und wanderte los. Entlang der Ränder Berlin-Mittes, jenes Ortsteils, der weit ins vorvergangene Jahrhundert hinein ganz Berlin ausgemacht hatte.

Mitte ist ein Kaninchen auf dem Sprung. Das rechte Ohr reckt sich bis zum Prenzlauer Berg, das linke reicht in den Wedding hinein. An der Kehle schnürte ich meine Schuhe. „In Mitte“, sagen die Berliner, nicht „in der Mitte“. Immer schweben ungesagte Worte mit, als deuteten sie auf ein Zentrum, eine Art Hauptquartier für das Projekt Deutschland. Über 18 Kilometer erstreckt sich seine Grenze, danach wollte ich zum geographischen Mittelpunkt von Mitte; den hatte das Vermessungsamt für mich errechnet.

Es wurde eine stille, einsame Wanderung. Gleich hinter dem Brandenburger Tor schluckte diesseits ein steinernes Stelenfeld jeden, der kam, und schweigsam trat er aus ihm heraus. Jenseits türmte sich der Tiergarten auf. Dazwischen, auf der Markierung, kein Mensch. Am Potsdamer Platz dagegen verloren sich die nicht wenigen Passanten unter den spiegelgleichen Hochbauten, verschwanden in engen lichtlosen Gassen. Es war, als ob die Landschaft der Grenze nichts gönnt. Von beiden Seiten schnappte sie nach allem auf ihr.

Vor Kellermauerresten südlich der Niederkirchner Straße stand eine Japanerin und holte einen Schokoriegel aus ihrer Handtasche. Umständlich nestelte sie am Papier, schaute plötzlich, als hätte sie etwas erschreckt, auf zu einem Foto Adolf Hitlers. Sie steckte den Schokoriegel wieder in die Tasche. Kerzengerade wandte sie sich ab, eilte vorbei an einem Schild. „Berlin 1933-1945“ stand darauf geschrieben, „zwischen Propaganda und Terror“. Der Checkpoint Charlie dagegen geriet, nur 300 Meter gen Osten, zum lustigen Wilden Westen. Breitbeinig stellte sich ein Cowboy zwischen zwei Mittzwanziger in US-Armeeuniformen. Der Cowboy war echt. Er stammte aus Fort Worth in Texas und schwenkte mit dem Hut seinen Kumpels aus dem Bus zu. Die Reisegesellschaft johlte, und jeder der dreißig Mann wollte auch einen Fototermin fürs Album daheim, ergriff die Hände der Schauspielstudenten in ihren falschen Waffenröcken. Die Kirmes war in vollem Gang. Eine Flasche Wodka kreiste. Die Feierlaune konnte auch nicht der Arbeiter im Blaumann trüben, der im Vorbeigehen einen schwarzen Hochschüler in DDR-Grenzuniform anraunzte: „Nö. Dafür biste zu braun.“ Der Student grinste lässig. „Det siehste richtich.“

Die Party endete hinterm Checkpoint Charlie jäh. Brachlandschaften taten sich auf. Unbebauter Boden, nun von der Natur beackert. Und riesige Parkplätze, auf denen kaum ein Auto stand. Dazwischen neu errichtete Hotels, sie glänzten wie Raumstationen. Mitte steckte hier sein Revier mit Baukränen ab, als hätten Riesen achtlos Zaunpfähle ins Grün gerammt. Rechts dagegen hüllte sich Kreuzberg trotzig ein, reihten sich vom Ruß ergraute Altbauten ans einst so moderne Braun der Architektur vor 40 Jahren. Beides wirkte schmutzig, erschöpft. Die Sonne reckte sich. Aus einem Fenster im Hochparterre sank der Duft gebratenen Hammels herab. Ich verließ an der Stallschreiberstraße den Weg und schlug mich ins Gebüsch. Aus ihm hervorlugende Bordsteinkanten hatten mich angezogen, von der Erde hoch und nieder gedrückt wie eine Bergbahn. Durch ein Wäldchen voller Brennnesseln und Müll stolperte ich zu einer Lichtung. Weites Feld lag vor mir, so weit das Auge reichte; meterhoch bewuchert. Die Stadt war jetzt weit weg. Es summte und zirpte, jeder Schritt knisterte. Wie anders dagegen die Erde hinter dem Drahtzaun am Ausläufer der Brache: federnd gab sie jedem Tritt nach. Die Bäume waren zahlreicher und größer und älter als auf der Lichtung, doch etwas stimmte nicht. Kein Vogel trällerte, selbst der laue Wind hatte sich gelegt. Es herrschte unwirkliche Stille.

Am 11. Februar 1945 waren sie hier ein letztes Mal zusammengekommen und hatten laut gesungen. Die Leute von der Luisenstadtkirche hatten gerade ihre Toten begraben, im Keller des Gemeindehauses feierten sie den letzten Gottesdienst. Um die 60 Menschen waren in den Trümmern der Kirche gestorben. Sie hatten Unterschlupf in den alten Kellergewölben gesucht, als am 3. Februar zwischen 10:39 Uhr und 12:16 Uhr die Alliierten ihren wohl verheerendsten Luftangriff auf Berlin flogen. „Es fehlte jede Beleuchtung, es fehlte ein Altar, es fehlten Bänke“, schrieb Pfarrer Joachim Braun im Rückblick über diesen Gottesdienst. 1964 wurde die Ruine wegen ihrer Nähe zur Mauer gesprengt. Heute legt sich kurz geschnittene Grasmatte darauf. In drei knappen Sätzen erzählte eine mannshohe Sandsteinstele im Park, der nicht richtig einer war, diese Geschichte.

Der Wind nahm wieder Fahrt auf. Noch stärker pfiff er nun, zog entlang einer Häuserschneise gen Norden. Ich kam vom Weg ab. Der Rand Mittes setzte sich im Südosten fort, aber mich trug es einen Block hoch gen Zentrum, hin zu einer uralten Kastanie. Majestätisch gebot sie über den Historischen Hafen am Ufer gegenüber, beugte sich wie nebenbei zum Gruß. Nichts entging ihrem Blick. Nicht die dösenden Hochhäuser zu ihrer Rechten, 22-Geschösser und dennoch demutsvoll mit Balkonen in minzgrün, bordeauxrot oder Vanille, und erst recht nicht die jungen Dinger von Linden hinter ihr. Das Areal zwischen Spree und Kanal, in uralten Zeiten als seichte Furt mit vielen Sandbänken hervorgewachsen und von dem aus einmal Berlin seinen Anfang genommen hatte, huldigte ihrem ältesten Zeugen. Es war die Insel der glücklichen Leute vom Fischerkiez. Junge Mütter mit Kinderwagen und Einkaufstüten. Kinder hielten ihre Angeln durch den Gitterzaun ins Wasser. Auf Holzbänken saßen die Alten zu einem Schnack. Zwischen diesen sechs Türmen auf fußballfeldgroßem Sandboden schlenderte man immergleich lässig, wie aus der Zeit gefallen. So also lebt es sich auf dem ältesten Flecken Berlins: mit Gemach und ohne Geheimnis. Schließlich sollte seine Neugestaltung der „Kleinteiligkeit und Enge der kapitalistischen City“ keinen Platz lassen, wie ihre Planer es beim Abriss der historischen Fischerinsel 1964 gesagt hatten. Die verschlungenen Gassen aus früheren Jahrhunderten mit ihren gedrungenen Zweistöckern aus Stein und Hinterhöfen, seit wenigen Generationen ein Armenviertel, machten Platz für die künftige sozialistische Lebensweise. Nur die schon damals alte Kastanie am Ufer blieb. „Die früheren Bewohner konnten sich die Mieten in den neuen Türmen nicht leisten“, sagte ein rüstiger Herr auf einer Bank, beide Hände um seinen Stock. „Die waren von 20 auf 200 Mark gestiegen. Also kamen wir.“

Aus der ganzen DDR waren die Leute zur Fischerinsel geströmt, sechs Türme voller Menschen, die einander fremd waren. „Es gab keine Kneipe, keinen Klub. Nicht einmal gepflasterte Zufahrtswege zwischen den Häusern“, sagte der Mann, im 43. Jahr lebte er nun auf der Fischerinsel. „Wir wollten uns aber kennen lernen.“ Also traf man sich draußen, an zu Parkbänken zusammen geschobenen Holzlatten auf Fässern. Seine hellblauen Augen im stets lächelnden Gesicht wurden feucht, es trug ihn nun weg. „Keine Rolle spielte, was der andere war. Da saß der Elektriker neben dem Sekretär der Bezirksleitung.“ Seinen eigenen Beruf wollte der Mann nicht verraten. Das war das einzige Geheimnis der Fischerinsel. Heute sitzen die Leute wieder in Gruppen auf den Bänken und stehen um sie herum, ein Pils in der Hand. Den Klubraum, den sie sich in den Siebziegern schließlich in leer stehenden Kellerboxen eingerichtet hatten, gibt es nicht mehr. 1989 wechselte der Hausherr, und der sah darin keinen Gewinn.

Ich besann mich meines Plans, nur noch an der Grenze wollte ich wandern. Doch die wurde arg verteidigt. Am äußersten Westen ging es an der Schillingbrücke ostwärts das Spreeufer entlang, der Weg lag voller Scherben und endete jäh an einem Zaun, darauf Natodraht. Ein Loch war zum Wasser hin hinein gezwickt worden, und ich kroch durch Brennnesseln die Böschung wieder hoch. Vor mir tat sich die Terrasse eines neoklassizistischen Ziegelbaus auf, schwarz und weiß gekachelt, und oben in einem wabengemusterten Giebel im ersten Stock stand der König von Mitte, ein Handtuch über der Schulter, musterte mich Eindringling. Schnippte mit dem rechten Daumen den Deckel von einer Flasche und nahm einen tiefen Zug.

Ich betrat sein Reich. Etwas scheu ging ich durch eines der schwarzen Löcher im Bau und stand in einem riesigen und kühlen und leeren Erdgeschoss. Links ein hausgroßes Zahnrad, in den Boden eingelassen. Rechts führte eine metallene Wendeltreppe hoch zur Decke. Der König lehnte an einem Fensterrahmen. Seine Residenz: Eine Matratze auf dem penibel gefegten Boden, zehn Meter weiter ein Davidleuchter. „Hat mir ein Mädel geschenkt“, sagte King, 17, abrupt. Dann führte er mich durch den Saal. In der Fabrik habe man Eis gefertigt, riesiges Stangeneis zur Kühlung, bis zum Oktober 1991. Nun stehe der Bau leer, „ich nutze ihn auf Durchreise“. King: Unzähmbares Blond über hohlen, blassen Wangen. Bluejeans und schwere Stiefel mit Metallspitze. Warum er King heiße, wisse er nicht. „Der Name ist mir zugeflogen.“ Seit drei Jahren lebe er auf der Straße, sagte King, dabei rollte er das R klassisch Fränkisch, er kam ja auch aus dem Norden Nürnbergs. Nach Berlin, da wollen alle hin. Berlin ist noch immer die Hauptstadt der Straßenkinder, auch 30 Jahre nach Christiane F. Seine Familie daheim? „Interessiert nicht.“ Schule, Ausbildung? „Lohnt nicht.“ Wer residiere schon, sagte er und wies auf den grandiosen Ausblick zur Spree hin, in solch einem Loft, 500 Quadratmeter, mindestens. Wie es sich hier im Winter lebte, mochte ich mir nicht vorstellen.

Wir hatten einander nicht mehr zu sagen. Ich verließ Kings Reich und schlüpfte durch ein Bauzaunloch am Flussufer. Plötzlich erstaunte Blicke hinter Hornbrillen, Stirnrunzeln. Ich hatte eine Terrasse erreicht, keine zehn Quadratmeter ins Dickicht geschlagen. Hinter der gläsernen Tür saßen vier Architektinnen an ihren Computern. Ein Mehrfamilienhaus in Pankow planten sie gerade. Die Baukosten? Wieder Stirnrunzeln. Ab durch die Mitte.

Am Ende des Gebüschs nahe der Michaelbrücke betrat ich wieder Steinplattenboden. In Kreuzberg hatte ich viele Gebrauchtwagenhandlungen gesehen und viele Türken. Nach der Brücke, an der Grenze zu Friedrichshain, prägten sie ebenfalls das Straßenbild; nur steckten sie auf der sonst menschenleeren Allee und zwischen den Plattenbauten in Gärtnergrün oder Straßenkehrorange. Die Sonne senkte sich schon, ich bekam Hunger und Durst. Auf dem Bürgersteig stand ein Glas voller Bockwurstwasser. Schummrig strich ich durch ein Wohngebiet, nur klebrige Linden vor gardinenverhangenen Fenstern. Die erste Tür, die sich mir auftat, führte hinein ins „Casino Novolino“.

Dass Gäste kostenlos mit Soda und Bonbons bewirtet werden, hatte ich nicht gewusst. Es versüßte mir den Aufenthalt vor den Zitronen und Stachelbeeren, die sich im Automaten drehten. Dann erklärten zwei Mittfünfziger ihr Spiel. „Musst auf Hatrick setzen, immer Risiko.“

„Det jet hier nüscht. Det Maschinchen ist ein Sensibelchen. Da musst du behutsam setzen.“

„Mann, biste bekloppt? Lad den Automaten doch noch uff’n Pils ein.“

Einmal weitete sich ihr Blick. Tausend Punkte Jackpot stand blinkend rot vor mir geschrieben, die beiden Männer murmelten „Drücken“, „Cool Bleiben“, „Halten“, „Drücken“, „Auweia“. Sie schwiegen, nestelten an ihren Ray-Ban-Brillen und nippten am Wasser. Ich erstand am Tresen zwei Schokoriegel und verließ diese klimatisierte Welt dunkelholzgetäfelter Wände und heruntergelassener Jalousien und glitt ins fahle Nachmittagslicht.

Ich kletterte den Rücken des Kaninchens Mitte hoch. Am Nacken entlang führte die Torstraße, kackbraun verputzte Häuserreihen, menschenleer. Der Nachmittagsverkehr spielte Formel 1 in Monte Carlo, so laut knatterte es gegen den schmutzigen Stein. Nur einen Nachhall dessen vernahm ich noch, als sich die Tür im einzigen Laden hinter mir schloss. Honigduft stieg auf. Er lag über den selbst gedrehten Kerzen, den Bonbons und den Gläsern gelben Dicks im Regal, ja, sogar überm Rauchtabak aus Wildkräutern. Eine Imkerei hätte man hier kaum vermutet, Doreen Jesse lachte. „Die anderen kleinen Geschäfte konnten sich hier nicht halten, keine Laufkundschaft.“ Die Verkäuferin zählte auf: Polsterer, Schneider und Hundefriseur waren alle weg. Der Jesssche Buchweizenhonig dagegen, dieser braunwürzige, hatte sich treue Kunden herangezogen, seit Doreen Jesses Vater am 19. Januar 1990 sein Gewerbe angemeldet hatte. An diesem Tag trat jenes wunderbare Gesetz in der DDR in Kraft, wonach jeder dies könne, sofern er es wolle. „Das Imkern hatte mein Vater in den Achtzigern erlernt, als Schulstrafarbeit, weil er im Rechnen so schlecht war.“ Heute gehe hier als Dienstleistung sonst nur Saufen und Fressen. „Nur Party Party“. Aber dass der Homo-Erotikladen drüben in der Schönhauser Allee, im Prenzlauer Berg, dichtmachen solle, weil er den Vermietern nicht mehr ins Ambiente passe, das ärgerte sie auch. Das „drüben“ spuckte sie aus, riss dabei den rechten Zeigefinger kurz zur Schulter.

Mitte gerät an seinen Fransen zum Entwurf dessen, was der Prenzlauer Berg längst ist. Das Nachbarviertel ist der große Bruder, der sich vorm Spiegel gelt. Wo Mitte Coolsein noch übt, spielen die Leute am Berg mit den letzten Details: Die Choriner Straße hoch trugen selbst die Ampeln geklebte Muster aus roten Herzen und grünen Sternen, reihten sich Kaffeebars, die stolz keinen Namen trugen. Überhaupt: An den Klingelschildern stand etwa Cantú di Criscio, Verhoeven, Wüstenberg, Schwiegershausen, von Brasche – lauter wohlklingende G-8-Namen. Die Türken hatten sich dem angepasst. Der Eckladen verkaufte Biokräuter für den Balkon. Am Scheitel, als es entlang Wedding ging, war dann Schluss mit Schick, Mauertodesstreifen, Friedhöfe und Brachen vergrünten und vereinsamten die Route. Bis zum Hauptbahnhof, als es schon dunkelte, immer wieder Brache.

Um wieder unter Menschen zu geraten, kehrte ich links in die Reinhardtstraße ein, wo Tapasbars die Bürgersteige zierten. Als in drei Stockwerken rechterseits zu gleicher Zeit das Licht anging, dachte ich mir, wie groß diese Wohnungen sein mussten. Mir hätte ein Zimmer gereicht. Aber die Bars waren zu gut gefüllt und die fünf Hotels, die ich nacheinander aufsuchte, allesamt ausgebucht. Müde verließ ich wieder Mitte, trabte zurück zum weiten Feld am Hauptbahnhof, schnappte mir einen Döner und checkte in einem elfstöckigen Karamellbonbon ein. Dass die Teppiche im „Motel One“ irgendwie alt aussehen sollten, obwohl die Herberge gerade zwei Jahre hinter sich hatte, war eines dieser vielen Rätsel, die im Kopf purzelten. Ich glitt in unruhigen, traumlosen Schlaf.

Gegen halbacht in der Früh spuckte mich einer der drei Fahrstühle aus, zusammen mit Kurzgeschorenen in Zweireihern, es roch nach Fahrenheit und Leder. Betäubt folgte ich dem zielstrebigen Rollen ihrer Trolleys zum Ausgang. Berlin war groß, Berlin war weit, der Blick verlor sich am Horizont. Zugebaut würde es noch lange nicht sein. Richtung Süden, die Spree entlang, stoppte nur der Reichstag jäh diese herrlich freche Brache. Nur noch drei Steinwürfe von meinem Kreisschluss am Brandenburger Tor entfernt, stand ich zwischen Plenargebäude und dem Abgeordnetenhaus Jakob Kaiser im Sicherheitsbereich und wunderte mich über den Gestank. Aus den Gullis stieg er, süßlich und wie aus einer anderen Welt. An der Dorotheenstraße stand ein Straßenkehrer, er kratzte sich am Hinterkopf. „Das sind die Abwasserkanäle“, erklärte er, „seit Wochen regnet es ja nicht.“ Die riesige Kanalisation Ost-Berlins erstreckte sich unterm Reichstag, ausgetrocknet und tot wie die Schwerindustrie des Sozialismus, für den sie einst angelegt worden war.

Beim Bäcker Wiedemann vor dem Brandenburger Tor saß Peter Altmaier, er lauschte still in sein Handy hinein. Den Cappuccino vor sich rührte er nicht an. Seine Stirn legte sich in Runzeln. Dann sagte er nur: „Ganz bestimmt.“ Und: „Ganz bestimmt.“ Das ermutigte mich irgendwie, auf meinen letzten Metern hin zur mittelsten Mitte, zum Mittelpunkt von Mitte. Vom Tor weg lag Unter den Linden ganz im Bann jenes geschäftigen Treibens, für das im Deutschen kein Wort sich fand. An nahezu jedem der immens großen Stadthäuser hielten Lieferwagen mit Aufdrucken wie „Party Rent. we create atmosphere“ oder „Monopol Catering“ oder einfach nur „Alles klar“. Männer mit gehetzten Gesichtern trugen aus ihnen silberne Kisten in die Villen.

Die Karte vom Vermessungsamt sagte mir, der geografische Mittelpunkt läge nördlich der alten Nationalgalerie, auf einem Areal zwischen dem Südstück des Pergamonmuseums und der Spree; eigentlich handele es sich um die Spitze, wäre Mitte ein Kegel, hatte der Kartograf gesagt. Als ich mir das vorstellte, wankte der Boden; ich umklammerte einen der großen Bäume auf Unter den Linden. Ein asiatisches Pärchen richtete seine Fotokameras auf mich, und als vor meinem inneren Auge ein Diaabend in Schanghai ablief mit Vorträgen über seltsame Baumriten unter den Deutschen, ließ ich rasch los. Müde war ich, die Füße schritten von allein. Laufen, dachte ich mir unentwegt, Weiterlaufen.

An der Nationalgalerie ging es durch einen Säulengang, dann ein Metalltor. Die Pförtnerin schüttelte den Kopf; ohne Dienstausweis kein Einlass zum Innersten Berlins. Zwei, drei Telefonate später stand ich dann doch – auf einer Baustelle. Steinsägen kreischten. Auf den letzten Metern endeten die Pflastersteine. Dann fand meine Wanderung ihren Schluss in dunklem Matsch. Hier war er und war doch nicht. Am Mittelpunkt von Mitte hievten Maurer links frisch gehauenen Kalkstein von einem Wagen. Rechts huschten aus einem Säulenbau hübsche, junge Frauen in Schwarz: die Gemälde-Restauratorinnen. Ein stummes Zwiegespräch entzündete sich zwischen ihnen und den Arbeitern: über Berlin, voller Geschichte und Wandel. Über Aufbau, Stillstand und Bewahrung; über eine Stadt ohne Mittelgrund, ohne organisches Wachstum, ohne Tradition. Berlin ist ein Experiment ohne Hypothese, hatte der Kunstkritiker Karl Scheffler vor hundert Jahren geschrieben. Eine die Stadt beschreibende Geometrie traf ich tatsächlich auf meiner Wanderung nicht an. Ich hatte die Mitte gesucht. Gefunden hatte ich aber nur den Rand.

Auf der Spree tuckerte ein kräftiges Motorboot. Fünf Männer fanden sich an Deck zu einem Frühstück ein, mit Brötchen und Marmelade. Ich hatte genug gesehen. Ging über die Museumsbrücke zu einer Bar, schwang meinen Rucksack auf einen Korbstuhl und bestellte ein großes Bier.