Zeitenspiegel Reportagen

24. Hansel-Mieth-Preis verliehen

07.07.2022

Im Fellbacher Rathaus wurde zum 24. Mal der Hansel-Mieth-Preis vergeben. Ausgezeichnet wurden die freie Autorin Amonte Schröder-Jürss und der Fotograf Andy Reiner.

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„Inklusion ist ein Wort, das die Menschen in Oberwälden nicht weiter diskutieren. Hans ist einer von ihnen, fertig.” Es ist der Kernsatz der Reportage „Alle für einen“, erschienen im Süddeutsche Zeitung Magazin - am 6. Juli wurde sie nun mit dem diesjährigen Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet.

Die Reportage erzählt davon, wie sich ein ganzes Dorf um ein einziges Gemeindemitglied kümmert: Hans Daiber wurde mit einer kognitiven Behinderung geboren. Als sein Vater starb, hätte er eigentlich den Hof der Familie verlassen und in ein Heim ziehen müssen. Doch in Oberwälden, einem schwäbischen Dorf mit knapp 450 Einwohnern, tragen sie gemeinsam Sorge für ihn. Da ist sein Mitbewohner Herr Glüc, der seine Wanderstiefel besohlt. Frau Wetzel, seine Lieblingsverkäuferin, bei der er Pflaumenkuchen kauft. Frau Scheuer von der Sparkasse, die sich um seine Verträge und Finanzen kümmert. Und die Nachbarn, die ihn per GPS orten, wenn er mal wieder bei einem seiner ausgedehnten Spaziergänge die Zeit vergisst. Hans dankt es ihnen. Das Sprechen fällt ihm zwar schwer, oft sagt er einfach „ja“. Doch Geburtstagskarten kriegt jeder Einzelne von ihm. Die Antworten darauf hängen an den Wänden seiner Wohnung.

Die Autorin und der Fotograf gewannen auch deswegen schnell das Vertrauen ihrer Gesprächspartner, weil Andy Reiner genau wie Hans Daiber aus Oberwälden stammt.

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Es ist eine leise Geschichte, die nur 30 Kilometer entfernt von Fellbach spielt. Doch: „Es ist diese Art der Berichterstattung, die den Unterschied ausmacht. Es ist auch diese Berichterstattung, die wir heute Abend feiern und mit dem Hansel-Mieth-Preis ehren“, sagte Carsten Stormer, Zeitenspiegel-Reporter aus den Philippinen, in seiner Festrede. Und fügte hinzu: „Verständnis, Empathie, Anteilnahme, ehrliches Interesse und Relevanz zeichnen auch die anderen Gewinnertexte dieses Jahres aus. Sie nehmen uns mit in die Schreckensnacht von Hanau, in den brasilianischen Corona-Irrsinn, zu einer afghanischen Frauenrechtlerin und einem Talibankämpfer, zu Abgeordneten in Berlin, in ein Heidelberger Kindertumorzentrum, eine Kabuler Universität, zu Flutopfern im Ahrtal und zu Hans nach Oberwälden. Ein Ausschnitt unserer Welt – nach dem Lesen dieser Texte war ich nicht nur bewegt, sondern auch ein Stückchen klüger.“

Für die Jury begründete Anton Hunger die Wahl des Jahres: „Hans redet nicht viel, und wenn, dann sagt er wenig mehr als: Ja. Wie schreibt man über so einen Mann? Die Autorin blickt durch die Augen seiner Nachbarinnen und Nachbarn auf Hans. Es ist ein liebevoller, aber ehrlicher Blick. Sie weiß, welche Bücher er liest (Der kleine Drache Kokosnuss) und welche Zeitung (Die Neue Württembergische). Sie ist dabei, wenn er sich Mittagessen macht und wenn er sich die Haare schneiden lässt. Vor allem aber hat sie die Karten gelesen, die Hans seinen Nachbarn schreibt, und die Antworten, die das Dorf zurückschickt. So bekommt der wortkarge Hans Daiber eine Stimme. Und wir finden heraus, wie sehr ihn der Tod seiner Schwester noch immer schmerzt, Jahrzehnte nach ihrem Unfall. Derselbe Respekt spricht aus Andy Reiners Fotos. Er blickt nicht auf Hans herab, im Gegenteil: Sein Held schaut uns leicht von oben an. Er ist keine Kuriosität in einer viel zu großen Warnweste. Er ist unser Nachbar. Er hätte auch ein Nachbar von Hansel Mieth sein können.“

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Autorin Amonte Schröder-Jürss und Fotograf Andy Reiner in Fellbach (alle Fotos: © Éric Vazzoler/Zeitenspiegel)

Carsten Stormers Festrede auf der Verleihung des Hansel-Mieth-Preises 2022 im Wortlaut:

Oberwälden liegt etwa eine halbe Autostunde von Fellbach entfernt, es ist ein Katzensprung. Sie, verehrte Frau Oberbürgermeisterin Zull, werden das Dorf kennen, die meisten Fellbacher vermutlich auch. Auf den ersten Blick unterscheidet den 450-Seelen-Flecken nichts von anderen Flecken am Rande der Schwäbischen Alb. Und doch ist etwas anders, etwas zutiefst Menschliches: Das ganze Dorf kümmert sich nämlich um Hans, einen kognitiv behinderten Mann, der nur deshalb im elterlichen Daiberhof weiterleben konnte, weil ihn die Dorfgemeinschaft stützte. Die Geschichte von Hans „Alle für einen“ im Magazin der Süddeutschen Zeitung ist so brillant und einfühlsam geschrieben, dass die Autorin und der Fotograf heute mit dem „Hansel-Mieth-Preis“ ausgezeichnet werden.

Verehrte Frau Oberbürgermeisterin Zull, liebe Fellbacher, geschätzte Preisträgerinnen und Preisträger, hochverehrte Jury und liebe Gäste. Seit 15 Jahren bin ich bei „Zeitenspiegel“, der Reporter-Gemeinschaft aus Weinstadt, die den „Hansel-Mieth-Preis“ ausrichtet und dotiert. Was mich dabei tatsächlich ein wenig beschämt, ist die unwiderlegbare Tatsache, dass ich heute zum ersten Mal bei einer solch würdigen Preisverleihung dabei bin. Das ist nicht Ignoranz, das hat nachvollziehbare Gründe.

Ich lebe nämlich in Manila, der Hauptstadt der Philippinen. Das ist weit weg von Fellbach und von Oberwälden. Von Manila spanne ich einen Bogen über Syrien und Afghanistan bis ich wieder bei Hans in seinem Dorf lande und Ihnen erklären kann, was das alles mit Journalismus zu tun hat und warum Auslandsjournalismus in diesen Zeiten so enorm wichtig ist.

Zunächst nehme ich Sie mit in einen tropischen Maiabend in Manila, meiner Wahlheimat. Da stand ich in den Redaktionsräumen des philippinischen Nachrichtenportals Rappler und sah zu, wie die Chefredakteurin Maria Ressa – die vergangenes Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war – ihre MitarbeiterInnen tröstete. Alle waren an diesem Abend gekommen, von der Chefredakteurin bis zur Horoskop-Schreiberin. Ferdinand Marcos Jr., der Sohn des Diktators, war zum Präsidenten gewählt worden und regiert seit dem 1. Juli das Land gemeinsam mit Sara Duterte, der Tochter des scheidenden Präidenten. Der Sohn eines Diktators mit der Tochter eines Autokraten. Und alle in diesem Redaktionsraum fragen sich: Kommt es noch schlimmer als unter Duterte? Ist die philippinische Demokratie am Ende?

Eine Reporterin erzählt unter Tränen, dass sie Angst um ihre Zukunft habe. Ein anderer sagt aufgelöst, dass sich das Wahlergebnis anfühlte, als hätte ihm jemand ein Messer in den Bauch gerammt. Für diese jungen JournalistInnen war es eine existenzielle Wahl, für sie ging es um die Demokratie und eine freie Presse. Die Reporter sahen sich an vorderster Front eines globalen Informationskriegs, und sie hatten das Gefühl, dass sie etwas bewirkt hatten: Mit Fakten, sachlicher Berichterstattung, kritischen Analysen. Monatelang haben sie Falschnachrichten geprüft, das Netz nach Desinformationen durchforstet, Lügen entlarvt. Doch das Wahlergebnis bewies, dass sie sich geirrt hatten. All ihre Anstrengungen um die Wahrheit waren umsonst gewesen.

Die Philippinen sind eine Art Petrischale in einem riesigen Experiment, wie soziale Medien Wahlverhalten beeinflussen und eine Bevölkerung manipulieren können. Für viele Philippiner sind Facebook, Tiktok und Youtube die einzigen Informationsquellen. Allein Facebook nutzen rund 74 Millionen der insgesamt 110 Millionen Einwohner.

Der Marcos-Familie gelang es, ein alternatives Informationssystem aus Lügen zu schaffen, das große Teile der Bevölkerung ansprach, die sich von den Eliten, Politclans und den traditionellen Medien ungehört fühlten.

Im Netz inszeniert sich die Marcos-Familie als Opfer, die von „Mainstream-Medien“ unfair behandelt und falsch dargestellt wird, angefeuert und verstärkt von tausenden Bloggern und Trollen. Aus dem Ex-Diktator Ferdinand Marcos wurde ein Heilsbringer, aus seiner Regierungszeit, die von Folter, Armut und Menschenrechtsverbrechen geprägt war, eine goldene Ära.

„Wir haben Duterte überstanden, wir werden auch einen Präsidenten Marcos überstehen“, rief Maria Ressa ihren Mitarbeitern zu. Sie sprach ihnen Mut zu und schwor ihr Team auf harte Zeiten ein, dass die Duterte-Jahre der Abschreckung, der Angst, der Verfolgung von Kritikern und der Rechtlosigkeit eventuell nur ein Aufwärmprogramm für das waren, was jetzt auf sie zukommen könnte. Es war eine Jetzt-erst-recht-Rede. Mir fuhr der Schreck in die Glieder. Als ob die vergangenen sechs Jahre nicht schlimm genug gewesen waren: Bis zu 30.000 Tote im Drogenkrieg. Kritiker, Dissidenten und Oppositionelle, die ermordet, eingeschüchtert oder eingesperrt wurden. Medien unter Beschuss.

Die Philippinen könnten als warnendes Beispiel gelten, als Spiegel dessen, was in den USA schon Realität ist und Europa vermutlich noch bevorsteht. Der Versuch, die Demokratie zu zerschlagen. Doch es wird kaum darüber berichtet.

Was, könnte man fragen, geht uns das an?

Viele Philippiner sind von einer Demokratie enttäuscht, die ihnen keine Verbesserung brachte. Denn Armut und Korruption sind weit verbreitet, soziale Ungerechtigkeit und Einkommensunterschiede groß, das Vertrauen in Politiker gering.

Klingt vertraut?

Wie in Ungarn, Russland oder der Türkei ist auch in den Philippinen eine Sehnsucht nach Politikern weit verbreitet, die hart durchgreifen, aufräumen, vermeintlich Recht und Ordnung durchsetzen. Dem Mainstream etwas entgegensetzen.

Diese Entwicklung wird auch vor den demokratischen Bollwerken Westeuropas nicht Halt machen. Die Wahl in Frankreich hat gezeigt, dass sich die extreme Rechte immer weiter an die Macht heranrobbt. In Deutschland kratzt die AfD am Fundament der Demokratie.

Die philippinische Regierung hat kritischen JournalistInnen den Krieg erklärt. Sie werden bedroht und an ihrer Arbeit gehindert, Fernsehsender, Zeitungen und Online-Plattformen geschlossen. Seit 2016 rutschten die Philippinen im Weltindex für Pressefreiheit der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ auf Platz 138 von 180 Ländern. In den vergangenen fünf Jahren wurden 19 JournalistInnen ermordet. Duterte drohte im Jahr 2016, dass – wie er sie nannte – „korrupte“ Journalisten damit rechnen müssten, ermordet zu werden. Der Senat verabschiedete ein Gesetz, das erlaubt, Kritiker als Kommunisten und Terroristen zu brandmarken und sie kurzerhand ohne Haftbefehl wegzusperren. „Die philippinische Demokratie stirbt einen Tod der tausend Schnitte“, sagte mir Maria Ressa. Das Ziel sei es, Dissens und Kritik zu unterbinden, damit die Machthaber an der Macht blieben und ihre Kontrolle ausbauen können, „bis die Demokratie von selbst stirbt“.

Im Juli 2020 wurde Maria Ressa wegen „Verleumdung im Internet“ zu einer Haftstrafe bis zu sechs Jahren verurteilt. Sieben weitere Verfahren wegen kritischer Berichte von Rappler bis hin zu irgendwelchen Steuersachen laufen derzeit gegen sie. Sollte sie auch in diesen Fällen verurteilt werden, addieren sich die Höchststrafen auf 100 Jahre Gefängnis. „Wenn ich verliere, werde ich dennoch weiter für meine Rechte kämpfen“, sagte sie mir in einem Interview. Mit Mut, sagte sie, habe das nichts zu tun. Als Journalistin habe sie gar keine andere Wahl.

Für ihren Kampf für Presse- und Meinungsfreiheit wird Ressa international als Symbolfigur gegen Tyrannei gefeiert und erhielt vergangenes Jahr den Friedensnobelpreis. Stellvertretend für alle Journalisten, die sich staatlicher Willkür entgegenstellen.

Alle meine philippinischen Kollegen werden in irgendeiner Form bedroht. Es sind vor allem Journalistinnen, die besonders hart angegangen werden. Die Drohungen reichen von Mord über Vergewaltigungsfantasien bis hin zur öffentlichen Aufforderung, dass man ihren Kindern etwas antun solle. Meine Kollegin Regine Cabato hat neulich in der Washington Post ihren Alltag als kritische Journalistin beschrieben. Sie werde als Lügnerin diffamiert, als Schwein beschimpft, als „whornalist“, Hurenjournalistin, oder als „prestitute“ – Pressenutte. Die Anfeindungen seien so massiv, dass sie kaum noch in ihre Inbox schaue. In ihrem Bericht beschreibt Regine eine Szene: Als ein Kollege sie fragte, wie es ihr denn gehe, brach sie statt einer Antwort in Tränen aus. So viel Druck hatte sich angestaut.

Kolleginnen wie Maria Ressa und Regine Cabato riskieren viel. Aufgeben kommt für sie alle jedoch nicht in Frage. Dieser Mut, dieses Durchhaltevermögen, diese journalistische Integrität – ist bewundernswert.

Es ist eine Entwicklung, die nun auch nach Europa kommt. Eine Bedrohung, die sich angekündigt hat. Die Bedrohung kritischer Journalisten ist eine Entwicklung, die weltweit zu beobachten ist. Es gibt allerdings noch zahlreiche andere, die kaum Beachtung finden und doch in Zukunft unsere Lebensweise beeinflussen könnten.

Ich frage mich, wieso wird etwas erst dann zur Bedrohung, wenn es vor der eigenen Haustüre auftritt? So kommt der Journalismus zwangsweise immer zu spät.

Die durch den Krieg in Syrien ausgelöste Massenflucht war erst bedrohlich, als Geflüchtete nicht mehr im Libanon, Jordanien oder der Türkei strandeten, sondern in Passau.

Der Islamische Staat wurde erst zur Bedrohung, als ausländische Journalisten in Syrien vor laufender Kamera geköpft wurden. Dabei fing die Radikalisierung schon viele Jahre vorher an.

Der Siegeszug der Taliban hat viele Redaktionen überrascht, aber nicht jene Korrespondenten, die regelmäßig aus Afghanistan berichteten. Für sie war allenfalls die Geschwindigkeit, mit der die Taliban ihr Land zurückeroberten, überraschend. Als im August vergangenen Jahres die ersten Krieger in Kabul standen und die internationale Gemeinschaft das Land nach 20 Jahren fluchtartig verließ, schrieb Afghanistan kurzzeitig wieder Schlagzeilen. Die Jahre zuvor hat man mit Themenvorschlägen aus Afghanistan in den Redaktionen meist nur ein müdes Lächeln geerntet.

Dass Wladimir Putin skrupellos ist, wurde nicht erst am 24. Februar dieses Jahres offensichtlich. Das hatte er längst in Tschetschenien, Georgien und Transnistrien bewiesen, bei der Annexion der Krim, dem Stellvertreterkrieg im Donbass und bei der Bombardierung syrischer Schulen und Krankenhäuser.

Manche Schauplätze schaffen es selten in die Nachrichten. Taiwan beispielsweise. Dabei ist der Konflikt im Südchinesischen Meer vermutlich die größte schwelende geopolitische Bedrohung.

Es ist nicht so, dass Journalisten nicht berichten würden. Ich habe den Eindruck, dass wir Journalisten zwar enorme Mengen an Informationen sammeln, bündeln und weitergeben – aber es anscheinend nicht schaffen, diese Informationen so zu vermitteln, dass sie ein tieferes Verständnis erzeugen, Wissen aufbauen. Es fehlt der langfristige Blick, die Analyse, die Hintergrundinformation – gerade auch dann, wenn Länder nicht in den Schlagzeilen stehen. Oft höre ich die Frage: Wo ist denn da der deutsche Bezug?

Es stimmt: Es interessiert vor allem das Naheliegende, das Vertraute. Redaktionen müssen Schwerpunkte setzen, sie müssen auswählen. Es prasselt täglich so viel auf unsere Leserinnen und Leser, Zuschauerinnen und Zuhörer ein: Klimawandel, Energiekrise, Demokratiemüdigkeit, Inflation, Corona, Ukraine-Krieg, atomare Bedrohung, bedrohte Lieferketten. Puh! Es sind komplizierte Fragen, auf die es selten einfache Antworten gibt.

In weiter Ferne, so nah. In einer globalisierten und vernetzten Welt hängt alles irgendwie miteinander zusammen: die Rohstoffe im Kongo mit dem neuen Smartphone, die Atolle im Südchinesischen Meer mit den Lieferketten von Apple und VW, die durch Klimawandel schwindenden Fischbestände in der Philippinensee mit der globalen Nahrungsmittelversorgung. Taiwan ist Weltmarkführer für Halbleiter und Computerchips, ohne die kein Auto anspringt und kein Laptop hochfährt.

Es sind verwirrende, schwierige und auch etwas beängstigende Zeiten. Aber noch immer ist die journalistische Weltkarte voller weißer Flecken. Gerade deshalb ist es so wichtig, gründlicher, tiefer, weniger klischeehaft und regelmäßiger aus allen Teilen der Welt zu berichten. Wir brauchen mehr feste Auslandskorrespondenten, die vor Ort leben, das Land, die Region und die Menschen kennen. Die mit den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Besonderheiten und der Vielfalt des Landes vertraut sind. Die über Jahre hinweg ein lokales Netzwerk aufgebaut haben: Informanten, Übersetzer, Fahrer, lokale Journalisten. Es braucht mehr Budget für lange und tiefe Recherchen. Weniger Geschwindigkeit, mehr hintergründige Berichterstattung. Weniger anlassbezogen, mehr in die Tiefe. Dazu fehlen die oft Mittel, denn Auslandsjournalismus ist vor allem eins: teuer.

Vielleicht braucht es daher neue Finanzierungsmodelle, um die Welt wieder sichtbarer zu machen. Zum Beispiel durch Stiftungen, die gemeinnützigen Journalismus finanzieren. Oder durch eine staatlich geförderte Auslandsberichterstattung, frei und kostenlos zugänglich – mit einem Pool an freien und fair bezahlten KorrespondentInnen und großzügigem Recherchebudget. Denn mit dem Verblassen der Welt verblasst auch die Fähigkeit zur einer auf Fakten und Wahrheit basierten Meinungsbildung. „Wissen als Grundlage von Wahrheit ist ein Grundstein der Demokratie.“, schrieb der Journalist Marc Engelhardt in einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung über den besorgniserregenden Zustand der deutschen Auslandsberichterstattung.

Auch die Philippinen sind weit weg. Eine Inselgruppe im Pazifik, 12.000 Kilometer von Berlin entfernt. Einen deutschen Bezug kann man selbst in diesem entlegenen Winkel der Welt finden: bei den unehelichen Kindern deutscher Sextouristen, wenn eine deutsche Familie entführt oder ein deutscher Segler enthauptet wird. Kann man machen. Aber von der Region, dem Land und seinen Menschen bleibt dabei wenig hängen.

Journalisten sind nicht unfehlbar, es sind auch keine Allwissenden. Manchmal sind es Besserwisser, das lässt sich nicht vermeiden. Journalisten sind auch nur Menschen. Aber unter Kriegs- oder autoritären Bedingungen werden sie zu unabhängigen Zeugen, zu Chronisten, die dokumentieren. Journalisten liefern Puzzlestücke, bis es ein Gesamtbild ergibt. Und sie stellen staatlicher Propaganda, Fake-News und Desinformation in den sozialen Medien Fakten entgegen. Die Alternative wäre, dass niemand hinsieht. Das ist inakzeptabel.

Sagen, was ist. Dafür hat Maria Ressa den Friedensnobelpreis bekommen, darüber wurde berichtet. Gut so. Sie und ihre MitstreiterInnen bei Rappler haben dafür nun den Preis gezahlt. Einen Tag vor der Amtseinführung von Ferdinand Marcos Jr. wurde Ressas Nachrichtenportal verboten. Die philippinische Börsenaufsicht hatte dem Unternehmen unter einem Vorwand die Lizenz entzogen, da es von ausländischen Investoren unterstützt werde. Das verstoße gegen die Verfassung.

Es ist diese Art der Berichterstattung, die den Unterschied ausmacht. Es ist auch diese Berichterstattung, die wir heute Abend feiern und mit dem Hansel-Mieth-Preis ehren. Es ist diese Art der Berichterstattung, die mehr LeserInnen erreichen muss. Selten war sie so notwendig wie in diesen bewegten Zeiten.

Verständnis, Empathie, Anteilnahme, ehrliches Interesse und Relevanz zeichnen auch die Gewinnertexte dieses Jahres aus. Sie nehmen uns mit in die Schreckensnacht von Hanau, in den brasilianischen Corona-Irrsinn, zu einer afghanischen Frauenrechtlerin und einem Talibankämpfer, zu Abgeordneten in Berlin, in ein Heidelberger Kindertumorzentrum, eine Kabuler Universität, zu Flutopfern im Ahrtal und zu Hans nach Oberwälden. Ein Ausschnitt unserer Welt – nach dem Lesen dieser Texte war ich nicht nur bewegt, sondern auch ein Stückchen klüger.