Warum Reportagen unersetzlich bleiben
„Können sich Journalistinnen und Journalisten gegen künstliche Intelligenz in ihrem Beruf wehren? Das sei „genauso vergeblich und verzweifelt wie einst der Kampf gegen Schweißroboter in der Automobilindustrie“, meinte Alexander Smoltczyk, Spiegel-Reporter und langjähriges Jury-Mitglied des Hansel-Mieth-Preises, in seiner Festrede. Wenn Maschinen viele Aufgaben einfach schneller und besser erledigten als der Mensch – etwa Börsennachrichten oder Spielberichte über Fußballspiele –, bleibe eine zentrale Frage: „Was können wir Reporter, das die KI nie können wird?“
Zum Beispiel, so Smoltczyk: „Wenn ich der KI sage: Schreibe eine große Reportage über die Flüchtlingsunterkunft in Tegel, kritisch, im Stile der Autorin Frauke Hunfeld, dann würde durchaus ein Text herauskommen. Aber dieser Text würde nie einen Preis gewinnen.“
Zusammen mit den Bildern des Fotografen Max Avdeev wurde eine Recherche von Frauke Hunfeld und Alexander Kauschanski mit dem diesjährigen Hansel-Mieth-Preis ausgezeichnet. Ihre Reportage „Das Lager“, erschienen im Spiegel, beschreibt die Zustände in Deutschlands größter Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Tegel, wo tausende Menschen unter schwierigsten Bedingungen leben – während etliche Firmen mit diesen Zuständen gute Geschäfte machen.
Während die Menschen draußen bei Temperaturen über 30 Grad Celsius auf den Terrassen der Weinstuben und Cafés saßen, waren rund 140 Besucherinnen und Besucher zur Preisverleihung ins Fellbacher Rathaus gekommen. Oberbürgermeisterin Gabriele Zull erinnerte an Hansel Mieth, die aus Fellbach stammende Namensgeberin des Preises, deren „Reportagen zu Arbeitern und Minderheiten in den USA einst Maßstäbe setzten“. Die Reportergemeinschaft Zeitenspiegel hatte den mit 6000 Euro dotierten Preis in diesem Jahr zum 27. Mal ausgeschrieben. Es gab 134 Bewerbungen.
Engagierte Reportagen im Geiste Hansel Mieths – wie die diesjährige Siegergeschichte – würden bleiben, trotz KI, sagte Smoltczyk, aus drei Gründen: „Der Reporter steht mit seinem Namen dafür ein, dass ein Text wahrhaftig ist. Das ist ein Gütesiegel.“ Zweitens könne KI sich nur auf bereits veröffentlichte, also bekannte Umstände beziehen, und schaffe keine neuen Erkenntnisse: „Als Reporter setze ich mich dagegen dem Unbekannten aus. Ich fahre los mit einer Arbeitshypothese. Ich rede mit Leuten und merke: Die Hypothese stimmt nicht. Ich muss umdenken, erfahre Dinge, die ich überhaupt nicht vorhergesehen habe.“ Schließlich könnten „Reporter und Reporterinnen Regeln gekonnt brechen“. Generationen von Journalistinnen und Journalisten folgten den Schreibregeln des „Sprachpapstes“ Wolf Schneider; KI vermöge diese leicht zu berücksichtigen. „Aber natürlich kann man entgegen diesen Regeln zehn Adjektive hintereinander bringen, wenn es dem Text dient.“ Die „besondere Musikalität einer guten Reportage“ werde KI nie erspüren.
„Wer den Text liest und die Bilder sieht, erfährt, wie wir mit denen umgehen, die bei uns Schutz suchen oder eine Zukunft. Was wir öffentlich von ihnen verlangen – und was wir hinter den Zäunen des ehemaligen Flughafens Tegel zu bieten bereit sind“, erklärte Gesa Gottschalk (Geo) als Laudatorin die Entscheidung der Jury. Auf dem Programm im Flüchtlingslager stehen Jonglierkurse und Latin Dance – aber keine Kinderbetreuung für unter Fünfjährige, keine Schulplätze, keine Privatsphäre. „Wir lernen auch, wie viel das Land Berlin ausgibt, damit es dann trotzdem nicht funktioniert. Und wie viel sich daran verdienen lässt.“ Die höchstrangige Politikerin im Text ist eine Berliner Senatorin. „Die Bundespolitik kommt nicht vor, die AfD nicht, Friedrich Merz nicht. Und gerade deshalb funktioniert diese Reportage. Sie gewährt uns die Einblicke, die wir brauchen, um die tagesaktuellen Nachrichten einordnen zu können.“
Die recherchierten Missstände – wie die schleppende Betreuung der Geflüchteten bei gleichzeitig überhöhten Kosten für den Betrieb der Unterkunft – seien „einerseits Überforderung geschuldet und andererseits mangelnder Prioritätensetzung“, sagte Preisträgerin Frauke Hunfeld. Und ja, künstliche Intelligenz könne echten Journalismus nie ersetzen: „Die KI trifft sich nicht in Bahnhofrestaurants mit Informanten.“
Durch die Veranstaltung führte Moderator Jochen Stöckle (SWR). Die Siegerreportage las die Schauspielerin und Sprecherin Barbara Stoll.
Mit der Gewinner-Reportage wurden weitere Arbeiten ausgezeichnet, betonte Laudatorin Gesa Gottschalk – „ein Stück über eine Kinderintensivstation, über Bettenmangel und schwere Entscheidungen. Die Ich-Reportage einer Mutter über einen winzigen Gendefekt und seine Folgen für ihren Sohn, für sie und ihre Familie. Ein Besuch in Buchenwald, der der Frage nachgeht, wie Gedenken geht und gehen wird, wenn die letzten Zeitzeugen sterben – und der Ruf nach einem Schlussstrich weiter in die gesellschaftliche Mitte rückt.“
Die zehn besten Reportagen der Ausschreibung sind in einem Buch versammelt, das von dem Darmstädter Büro Bohm und Nonnen gestaltet wurde und bei Zeitenspiegel (mail@zeitenspiegel.de) erhältlich ist:
• Was heißt schon „normal“? (Text: Diana Laarz, Fotos: Roman Pawlowski), Geo
• Sie aßen Zahnpasta und Sand (Text: Andreas Holzapfel, Fotos: Christian Bobst), Republik.ch
• „Darf ich raus?“ (Text: Julia Kopatzki, Fotos: Aliona Kardash), Der Spiegel
• Station 67 (Text: Nico Schnurr, Dominik Stawski, Fotos: Patrick Slesiona), stern
• Herr Has effiliert seine Bücher (Text: Leonie Feuerbach, Fotos: Hannes Jung), Frankfurter Allgemeine Magazin
• Der Streichelbesucher (Text: Helena Weise, Fotos: Fabian Zapatka), Geo
• Wie weit weg ist Buchenwald? (Text: Malte Henk, Fotos: Marian Lenhard), Die Zeit
• Sie lernt um ihr Leben (Text: Cathrin Schmiegel, Fotos: Tina Hsu), Die Zeit
• Der Alte (Text: Nadine Ahr, Fotos: Marian Lenhard), Die Zeit