Zeitenspiegel Reportagen

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Freude, schöner Götterfunken

Erschienen im “Zeit Magazin”, Nr. 48/2009

Von Autorin Andrea Böhm und Fotograf Marcus Bleasdale

Hansel-Mieth-Preis

Was tun in einem von Bürgerkrieg, Armut und Korruption geschlagenen Land wie dem Kongo? Ein Orchester gründen! Händel, Mozart, Beethoven spielen — was sonst?

Die Rue Monkoto ist eine ganz gewöhnliche Straße in Kinshasa. In ihren Schlaglöchern kann man Hunde begraben, an den Hausmauern kriecht schwarzer Schimmel über Bierreklamen, die “Kiesse na Nzoto« versprechen, “die Freude des Herzens”. Der Rauch von Petroleumlampen mischt sich mit dem Gestank von verbranntem Plastik und vergorenem Müll, der Klang der Straße ist eine Kakofonie aus Motorradhupen, brummenden Dieselgeneratoren, kongolesischem Rumba, der Hauptsprache Lingala, der Nebensprache Französisch, dem Hämmern der Straßenmechaniker und den Lockrufen der Händler. “Changez, changez”, raunen die Geldwechsler und klopfen auf ihre Banknotenbündel, die sie wie Ziegelsteine vor sich aufgeschichtet haben. “Oooopüüü, oooopüüü”, flöten die Wasserverkäufer und meinen eau pure, sauberes Wasser, eingeschweißt in kleine Plastiktüten, jede ein Aquarium für Bakterien. Plötzlich ein Ton. Ein c. Gefolgt von einer Melodie: h – c – d – c – h – a.

Diese Töne, meint man, gehören nicht hierher, der Dreivierteltakt passt nicht zu dieser Stadt, man denkt unwillkürlich an Flamencotänzer und Stierkampf. Hinter irgendeiner Mauer spielt jemand den Anfang des „Boléro“ von Maurice Ravel. Auf einer Posaune.

Man folgt der Melodie wie einem Faden, sie wird lauter, dissonanter, jetzt mischen sich andere Tonlagen und Tempi ein, eine Männerstimme schmettert O Fortuna, deklamiert laut den Text, das erinnert vage an den eigenen Musikunterricht in Deutschland – doch nicht etwa Orff? Dann steht man vor einer Eisentür mit der Hausnummer 88, stolpert in einen Hof und über eine Schar Hühner, die wichtigtuerisch zwischen Pauken, Violinen, Posaunen umherlaufen, als warteten sie auf ihren Soloauftritt. Es ist Mittwoch, 17.30 Uhr, das OSK, das Orchestre Symphonique Kimbanguiste, versammelt sich zur Probe, und die Moskitos wittern ein Fest. Rund 80 Musiker, die sich in der Hitze von Kinshasa mit beiden Händen auf ihre Instrumente konzentrieren müssen, sind leichte Beute.

Im Kongo ist es heiß, und es gibt lauter Rebellen – so viel hat sich herumgesprochen in Europa. Aber ein Sinfonieorchester? Ein Sinfonieorchester braucht einen Saal mit guter Akustik und klimatisierte Räume für die Violinen, Bratschen, Celli, Harfen, Pauken. Es braucht lesbare Notenblätter. Es braucht ein Budget und gute Instrumente. Vor allem braucht es ein Publikum. Die Musiker des OSK bekommen kein Honorar, sie spenden für ihre eigenen Instrumente und spielen auf gebrauchten Violinen oder Posaunen made in China, das Stück für weniger als 100 Dollar. Wenn die Holzkäfer oder die Luftfeuchtigkeit wieder ein Cello zerfressen haben, zimmert Monsieur Albert, das Allroundgenie der Truppe, mit Werkzeugen aus der Kolonialzeit ein neues. Partituren? Werden x-mal kopiert oder von Hand abgeschrieben. Ein Orchestersaal? Ganz Kinshasa überlebt nach den Regeln der Improvisation, eine Ruine wird tagsüber zum Gemüsemarkt, abends zur Erweckungskirche, eine beleuchtete Tankstelle dient zugleich als Abendschule, eine Verkehrsinsel als Werkstatt für Grabsteine. Das Orchester übt in einer Baracke, in der sonst Hochzeiten gefeiert werden.

Das Publikum? Nicht dass es an Musikbegeisterten fehlte. Aber der mitreißende Rhythmus des Soukous und der harte Beat der Congotronics haben andere Hörgewohnheiten geformt, als sie eine Kantate fordert. Heute Abend hören immerhin die Hühner zu. Es sind noch drei Wochen bis zum Konzert im Stadion Kasa Vubu, dem ersten großen Auftritt unter freiem Himmel. Außer Ravel stehen Dvo?ák, Orff und der vierte Satz aus Beethovens Neunter Sinfonie auf dem Programm.

Die Probe des „Boléro“ beginnt vielversprechend. “Mein einziges Meisterwerk”, soll Ravel einmal gesagt haben, “leider enthält es keine Musik.” In der Rue Monkoto sehen sie das anders. Querflöte und Klarinette beginnen leise tänzelnd und sauber, das Fagott folgt etwas zu verhalten, es ist ja auch das einzige im ganzen Kongo. Dann verdirbt die Piccoloflöte alles. Zu hoch, zu laut. “He, Piccoloflöte, du warst bei den letzten Proben nicht da”, ruft der barfüßige Mann auf dem Barhocker, der das Dirigentenpodest ersetzt. Im schummrigen Licht ist das zerknirschte Gesicht des Flötisten nur zu erahnen. Er wird nach der Probe, nach zwei schweißtreibenden Stunden mit einer Dvo?ák-Sinfonie, einer fulminanten Choreinlage aus der „Carmina Burana“ und immer neuen Anläufen zu Ravels „Boléro“, vor Armand Diangienda auf die Knie fallen und um genauere musikalische Anweisungen bitten. Der Mann auf dem Barhocker ist nicht nur der Maestro des Orchestre Symphonique Kimbanguiste. Er ist der Enkel von Simon Kimbangu, dem Märtyrer und Propheten, in dem sich – davon sind die Musiker überzeugt – vor bald hundert Jahren der Heilige Geist reinkarniert hat. Hier, im Kongo, nicht weit von Kinshasa entfernt. Den Enkel des Propheten spricht man nicht im Stehen an. Auch nicht, wenn es nur um die Interpretation eines Crescendo geht. “Fis!”, ruft Diangienda und klopft mit dem Taktstock auf seinen Notenständer. “Bitte noch mal zurück zum fis.”

Armand Diangienda ist ein kleiner Mann mit leiser Stimme und einer Vorliebe für Pilotensonnenbrillen. Gefragt, wie die Musik toter weißer Männer in die Rue Monkoto gekommen sei, entblößt er lächelnd eine charmante Zahnlücke und sagt: “Ondell.” Ondell?

Händel. Georg Friedrich. Mit Händels Messias habe es begonnen. Das Oratorium habe Papa Diangienda, Sohn des Propheten und Vater des Maestros, daheim in der Rue Monkoto immer wieder aufgelegt. „Brecht entzwei die Ketten.“ Oder: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebet.“ Und natürlich das „Halleluja“. Das waren, auf Englisch gesungen, die Kinderlieder im Hause Diangienda, und niemand wäre auf die Idee gekommen, diese Musik sei allein für Weiße komponiert worden. Genauso wie niemand auf die Idee gekommen wäre, dass Gott nur in Gestalt weißer Männer auftritt. Simon Kimbangu ist der beste Beweis dafür, sagen sie in der Rue Monkoto mit der unerschütterlichen Zirkelschlusslogik, die allen Gottgläubigen eigen ist.

Geschätzte fünf bis acht Millionen Mitglieder hat die Église de Jésus Christ sur la Terre par Son Envoyé Spécial Simon Kimbangu in Afrika. Ihre Hochburg ist der Kongo, dort gehören zehn Prozent der Bevölkerung der “Kirche Jesu Christi auf Erden durch seinen Propheten Simon Kimbangu” an. Nach den Katholiken und Protestanten sind sie die drittgrößte Religionsgemeinschaft. Der Prophet selbst hat wahrscheinlich nie Händels Messias gehört. Aber man darf annehmen, dass ihm der Anblick des kircheneigenen Sinfonieorchesters gefallen hätte.

Kimbangu war kein Freund traditioneller Gebräuche und Musikwerke. Trommeln, zu deren Rhythmen seine Landsleute sich in Trance wiegt, ließ er zerschlagen. Wer ihm in den wenigen Monaten seines Wirkens folgen wollte, musste der Polygamie und dem Glauben an Geister und Hexer abschwören, durfte keinen Alkohol mehr anrühren. Das taten im Sommer 1921 Abertausende von Kongolesen. Angelockt von Berichten über Kimbangus Wunderheilungen, pilgerten sie in sein Heimatdorf Nkamba, rund 300 Kilometer vom heutigen Kinshasa entfernt. Rasch verbreitete sich die Nachricht: Der Gott der Christen, in dessen Namen die belgischen Kolonialherren ein mörderisches System der Zwangsarbeit mit Millionen von Toten führten, hatte endlich sein schwarzes Volk entdeckt und ihm einen schwarzen Erlöser geschickt.

Bei den Kolonialherren schrillten alle Alarmglocken. Der schwarze Prophet war nicht nur ein anmaßender, gefährlicher Konkurrent für die eigenen katholischen Missionare. Er hielt auch seine Landsleute von der Schufterei auf den Plantagen ab und predigte rebellische Sätze. “Der Schwarze wird weiß, und der Weiße wird schwarz.” In weißen Ohren klang das wie Anstiftung zum Aufruhr. Ende 1921 verurteilte ein Gericht Simon Kimbangu wegen “Gefährdung der Staatssicherheit” zum Tode. Der belgische König wandelte die Strafe in lebenslange Haft und 120 Peitschenhiebe um. Kimbangu starb 1951 nach 30 Jahren in Ketten und Isolation in einem Gefängnis im Osten des Landes. Tausende seiner Anhänger wurden deportiert oder in den Untergrund gedrängt. So entstand genau das, was die belgischen Kolonialherren hatten verhindern wollen: ein Märtyrer und eine religiöse Massenbewegung – geführt von Kimbangus Frau und später von seinen drei Söhnen. Der Kimbanguismus war geboren, eine Mischung aus Black Power und dem unerschütterlichen Willen, die Kultur der Weißen so gut zu beherrschen wie diese selbst. Musikalisch reicht das heute von B wie Bach bis zu V wie Vivaldi. Das erste Konzert liegt 15 Jahre zurück. Laut Maestro Diangienda hatte das Orchester elf Monate vor der Premiere mit den Proben begonnen, in dürftigster Besetzung: zehn kirchenmusikalisch geschulte Autodidakten, vier Violinen, ein Kontrabass. Riss eine Saite, behalf man sich mit Fahrradbremskabeln. Einige Celli kamen dazu, deren korrekte Handhabung sich die Musiker von Fotos abguckten. Ein Konzert mit Musikern, die ihr Instrument erst seit einem Jahr spielten?

“Wenn Sie es nicht glauben”, sagt Diangienda, “fragen Sie die Leute.”

Also fragen wir. Zuerst Albert Sheriff, 53, Cellist, der seine sechsköpfige Familie als Elektriker an der Universität von Kinshasa durchbringt, obwohl es dort seit Jahren ebenso selten Strom wie ein regelmäßiges Gehalt gibt.

“Wir haben geübt, Madame”, sagt der hagere Mann, eingeklemmt zwischen Plastikblumen und Kimbangu-Porträt im winzigen Wohnzimmer sitzend, vor dessen Schwelle man bei Regen knöcheltief im Schlamm versinkt. “Noten lesen konnte ich ja schon aus meiner Zeit bei der Flötengruppe.” Wir fragen auch Joséphine Matubanza, 37, tagsüber von sechs bis 16 Uhr Eierverkäuferin auf Kinshasas größtem Markt, abends von 17 bis 21 Uhr Musikerin im OSK. Damals, 1994, nahm sie angeblich nach nur wenigen Wochen Cellounterricht an der Premiere teil. “Kennen Sie nicht die drei Prinzipien des Propheten Simon? Liebe, Gottes Zehn Gebote und Arbeit”, sagt sie und zupft am Kontrabass, den sie neben Cello und Tuba spielt.

Und wir fragen ihren Mann, Monsieur Albert, Musiklehrer und Spiritus Rector des Orchesters, der als Erster herausfand, wie man ein Cello halten muss. “Es sah ja aus wie eine Gitarre”, sagt er, greift sich eine solche aus seinem Reparaturschuppen und spielt ganz sanft einen Bossa nova darauf, als müsse er das schrottreife Ding trösten. “Na ja, wir haben eben viel geprobt”, sagt er und öffnet unvorsichtigerweise den Deckel eines wurmstichigen Klaviers, was eine Heerschar zwischen den Tasten hausender Kakerlaken erschreckt.

Irgendwann ist es egal, ob die Entstehungsgeschichte des OSK Sage oder Wahrheit ist. Unstrittig ist: Am 3. Dezember 1994 trat das Orchestre Symphonique Kimbanguiste zum ersten Mal auf. Und zwar im Palais du Peuple, dem sozialistisch anmutenden Protzbau, den Mobutu Sese Seko dem Volk gewidmet hatte, das er nach Kräften plünderte. Der Eintritt war frei, der große Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Geboten wurden Werke des spanischen Komponisten Joaquim Serra, Kirchenlieder und natürlich Händels „Halleluja“. Auf den besten Plätzen klatschte Mobutus Nomenklatura, im Volksmund grosses légumes genannt, fettes Gemüse – nicht ahnend, dass sie nur zweieinhalb Jahre später vor Rebellen über den Fluss in das benachbarte Brazzaville würde fliehen müssen.

1994 hatte sich der Niedergang des Landes nach 30 Jahren Kleptokratie zur Schussfahrt in Richtung Abgrund beschleunigt. Zwei verheerende Kriege im Osten standen bevor. Kinshasa im Westen hatte gerade zwei Plünderungswellen der eigenen Armee hinter sich. Seine Einwohner, seit Jahren weitgehend ohne Wasser, Strom und Kanalisation, ohne Busse, Feuerwehr und funktionierende Polizei, hatten den Überlebenskampf zur Kunst erhoben. In solcher Zeit ein Sinfonieorchester zu gründen kann ein Zeichen übernatürlicher Sturheit, ein Akt des Widerstandes oder schlicht ein Ausdruck von Realitätsverlust sein.

Bei der Orchesterpremiere hatten die Kimbanguisten nichts mehr gemein mit der religiösen Untergrundbewegung von einst. Mobutu, der gerissene Machiavellist, hatte Simon Kimbangu posthum begnadigt und mit Orden geehrt. Die Gemeinde des Propheten ließ sich gern in die Machtallianz des Diktators einbinden. “Kirche der Stiefellecker” nannten politisch renitente Katholiken und oppositionelle Studenten die Anhänger des schwarzen Erlösers. Da mochte ihr Händel noch so erhaben klingen. Heute geben sich die Kimbanguisten ausdrücklich unpolitisch. Nur nicht anecken, heißt die Devise.

Es ist Sonntag. Am siebten Tage sollst du ruhen, heißt es im Buch Genesis. Sonntags gönnt sich Kinshasa, die Acht-Millionen-Stadt, eine Atempause. Die Bewohner ziehen, herausgeputzt wie zur eigenen Hochzeit, in ihre Kirchen: in die Kathedrale Notre Dame, nach St. Peter oder St. Anne, zur Église Méthodiste Ebenga, wo einst Patrice Lumumba betete, zu den Baptisten, den Zeugen Jehovas, den Adventisten, zu den evangelikalen Erweckungspredigern der “Armee des Sieges”, der “Armee der Ewigkeit”, des “Spirituellen Kampfes”, die abwechselnd Reichtum und Apokalypse verheißen. Oder in eine von Tausenden Eckkirchen, aus einem Wellblechdach und ein paar Plastikstühlen gemacht. Nur bei den Kimbanguisten ist alles anders.

Ihr Gottesdienst findet im Hof des Maestros statt. Dessen Haus in der Rue Monkoto ist fürstliches Refugium der begüterten Familie des Propheten und zugleich Großküche für die Gemeinde, kircheneigene Autowerkstatt, Nähstube, Versammlungsort und Kirche. Der Auftakt ist piano, lentissimo. Die ersten Gläubigen kommen gegen zehn Uhr früh, grüßen sich lässig, als hätten sie nichts, aber auch gar nichts vor. Eine halbe Stunde später ertönen Tonleitern, hoch und staksig, wie von Kinderhand gespielt. Die anciens flûtistes, die “alten Flötisten”, haben ihre Instrumente ausgepackt. Flöten, aus PVC-Rohren geschnitzt. Die Sonne steigt und sticht den Kirchenchor von Mama Hortense, der sich in einer staubigen Ecke warm singt. Ein Trommelwirbel platzt hinein wie ein ungebetener Gast, dann Posaunenstöße. Der Paukist und erste Blechbläser sind eingetroffen. Es geht auf zwölf zu, der Rhythmus wird schneller, nun drängen, murmeln, beten Hunderte dicht gedrängt auf dem Hof, der kaum größer ist als ein Tennisplatz. Der Prediger hat sich durch Matthäus 20,1 gearbeitet, die Blechbläser, alles Musiker des OSK, stimmen swingende, gospelähnliche Fanfaren an. “Gauche! Gauche!« Links! Links! Kinderfüße klatschen auf Kommando auf den rissigen Betonboden.

Unter einem Vordach haben Armand Diangienda und seine üppig beleibte Familie Platz genommen, um die Sonntagsparade ihrer Gläubigen abzunehmen. Zuerst marschieren die “Linksfüßler”, die Jugendgarde der Kirche, in weißen Uniformen und grünen Baretts, dann die Pfadfinder. Es folgen der kimbanguistische Frauenverband, Theatergruppen, die Katechisten, alle im wiegenden Gleichschritt, alle zielstrebig in Richtung der Plastikschüsseln, in die die Kollekte zu entrichten ist. Die Prozession wird sich mehrmals wiederholen an diesem Tag. Es geht auf 15 Uhr zu, wir sind beim Mezzoforte. Maestro Diangienda, der Kniefälle seiner Anhänger überdrüssig, greift selbst zur Posaune und führt die Blechbläser an. Sie spielen seit fast zwei Stunden, ihre Lippen müssten längst taub sein, aber hier sind musikalisch-religiöse Extremsportler am Werk.

Gegen 17 Uhr, die Sonne taucht den Hof in Orange, Diangienda und seine Bläser reihen eine Fanfare an die nächste, die trunken-melancholische Lebenslust der Marching Bands von New Orleans mischt sich mit Creole Jazz und Ragtime, es wird schneller, swingender, jetzt sind an die 500 Menschen auf den Beinen – nein, auf den Socken. Wie Muslime tragen die Kimbanguisten zum Gottesdienst keine Schuhe. 500 Gläubige, in immer schnellerem Tempo hinaus auf die Straße sich wiegend, wieder hinein in den Hof, ein-, zwei-, dreimal um den Block. Männer und Frauen, Jungen und Mädchen getrennt. Die Menschenschlangen müssten unweigerlich kollidieren, sich verheddern, aber sie tun es nicht, sie ziehen sich wie Gummibänder zusammen, dehnen sich, meiden jedes Hindernis, während Gardisten darüber wachen, dass niemand zu sehr die Hüften schwingt. “Tanzen ist verboten!”, brüllt uns einer der “Linksfüßler” zu.

Es ist der Tenor, der bei der Probe „O Fortuna“ zum Besten gegeben hat. Trésor Wumba, 23, ein Lächeln wie Will Smith und ein Mundwerk, das nicht stillsteht. Afrikaner, die nicht tanzen? “Aber ihr tanzt doch die ganze Zeit!”, rufen wir zurück. “Das ist kein Tanz”, heißt die Antwort. “Das ist der dguke.« Auch das Tanzen hatte der Prophet Simon verbannt – das Tanzen, das in Trance und Ekstase versetzt, das Tanzen, bei dem Frauen und Männer ihre Hüften kreisen lassen. Dguke heißt “Marsch” auf Kikongo, der Sprache Simon Kimbangus. Vor einigen Jahrzehnten hat der swingende dguke bei den Gottesdiensten den lusende abgelöst, den “schmerzenden Gang”, einen hinkenden Schritt, der die Ketten der Zwangsarbeit symbolisierte.

Ab und zu erlauben sich die Bläser vier, fünf Minuten Pause, dann wischt sich der Maestro den Schweiß von der Stirn, die Trompeter und Posaunisten schütteln den Speichel aus ihren Instrumenten, der Tubaspieler scheint kurz einzunicken. Die Menge, aufgekratzt wie ein Fußballpublikum nach hohem Heimsieg, skandiert: “Kimbanguiste oyé! L’espoir du monde, l’église universelle!« Lang lebe der Kimbanguismus, die Hoffnung der Welt, die Kirche der Welt! Das neue Jerusalem, davon sind sie überzeugt, ist längst im Bau. Nicht in Israel, sondern in Nkamba, dem Heimatdorf des Propheten, und irgendwann werden das alle anderen Christen begreifen. Auch die Weißen.

Die anciens flûtistes nutzen die Pause, um mit ihren simplen Kirchenliedern kurz die Lufthoheit zu übernehmen. Trésor, der Tenor in Uniform, nutzt sie, um uns auf den Zahn zu fühlen: “Bei euch in Deutschland glauben sie wohl nicht, dass wir so etwas können? Dass wir Beethoven und Mozart spielen?” Dessen Requiem sei sein liebstes Stück, kein anderer habe ein so “fantastisches musikalisches Gebet über Leben und Tod” komponiert.

Sie werden es glauben, sagen wir. Sie werden glauben müssen, dass es Musik gibt, die alle Grenzen transzendiert, besonders wenn sie vom Leid und von der Hoffnung auf Erlösung handelt. Mozarts Requiem. Händels Messias. Und der Blues natürlich. Schon hat der Maestro wieder seine Posaune an den Lippen, und die alten Flötisten werden in einem furiosen Finale ebenso vom Hof geblasen wie unser Gespräch. Seit dem Morgen hat hier niemand etwas gegessen oder getrunken, aber das mindert das Tempo nicht. Gegen 22 Uhr bricht die Welle abrupt, wie es sich gehört für das Ende einer Sinfonie. Die klatschenden Füße der “Linksfüßler” begeben sich auf den Heimweg, der Chor verstummt, der Paukist packt ein, die Blechbläser sind in ein Schlussgebet vertieft. Ein Flötenspieler weckt einen Kollegen, der unter einem Poster mit Barack Obama und Simon Kimbangu eingeschlafen ist – über den beiden stehen die Worte des Propheten: “Der Schwarze wird weiß, der Weiße wird schwarz.” Viele haben einen Heimweg von ein oder zwei Stunden vor sich, und früh um fünf Uhr werden sie wieder aufstehen, weil dann die Brotfabrik Baguettes an die Straßenverkäuferinnen ausliefert, die Marktstände geöffnet werden müssen, die Studenten ihren Fußmarsch zur Universität beginnen und Albert zum Holzmarkt aufbrechen muss, um Material für einen neuen Kontrabass zu kaufen. Weil man das Tagwerk eben früher beginnt in diesem Moloch von Stadt, in der morgens die Abwasserrinnen frei geschaufelt werden müssen, das Wasser herbeigeschleppt, jeder Franc erkämpft werden muss. Und in der die nächste Orchesterprobe wieder um 17 Uhr beginnt. Die Musiker werden all das schaffen mit nur ein paar Stunden Schlaf und einer Mahlzeit im Bauch. Selig sind die Erschöpften.

Noch zehn Tage bis zum Konzert. Der Maestro hat Ravels „Boléro“ aus dem Programm genommen. Die Piccoloflöte ist immer noch ein Risiko, und bei dem langsamen Crescendo könnte das rhythmisch verwöhnte Publikum unruhig werden. Dafür hat Diangienda eine andere Kraftanstrengung verordnet: Der Chor soll den vierten Satz aus Beethovens Neunter Sinfonie nicht wie üblich auf Englisch, sondern auf Deutsch singen.

An die 60 Chorsänger drängen sich an diesem Abend in einem Nebenhof des Diangienda-Hauses. Eine zu Divagesten neigende Sopranistin schreibt den Text auf eine Tafel. Nicht alle haben eine Kopie der Partitur, und wer eine hat, muss sich anstrengen, im Halbdunkel etwas zu erkennen. Der Strom ist wieder ausgefallen. Dafür sind die Mücken da. Und wir, die Deutschen. Wo wir ihnen schon ständig über die Schulter guckten, sagt der Chorleiter, könnten wir doch die deutsche Aussprache mit ihnen üben. “Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium, Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligthum!” So viel deutsches Pathos ist irgendwie peinlich, aber die Sänger wollen gar nicht wissen, worum es hier geht. Sie wollen wissen, warum man bei “Tochter” diesen seltsam fauchenden Laut hervorbringen muss, den es weder in Lingala noch in Kikongo oder im Französischen gibt. “Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!” “Kuuus”, singt Trésor Wumba mit 21 anderen Tenören, immer wieder “Kuuus”. Ihre Zungen verweigern das scharfe s. Was ist das für eine Sprache, in der das Wort für eine Liebkosung klingt wie ein Geschoss? Und was sollen die Punkte auf den Vokalen? Ü, ö. “Madame, die Engländer machen so etwas nicht”, sagt eine Altstimme vorwurfsvoll.

Zwei Stunden ackern wir Schillers Gedicht durch, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Was würde passieren, müsste ein deutscher Chor den Messias auf Kikongo geben? Das Experiment wäre möglich, eine Übersetzung liegt beim Maestro im Schrank. Die ersten Sänger sind vor Erschöpfung eingenickt, der Chorleiter bleibt unerbittlich. “Noch mal ab Seite 24, und jetzt alle aufwachen! Hallooo!”

Dann wagen sie es, singen zum ersten Mal “Freude, schöner Götterfunken” und halten durch bis “Alle Menschen werden Brüder”. Es klappt drei Mal hintereinander verblüffend gut, wir erkennen unsere Sprache wieder, und vielleicht entfaltet genau diese Strophe darum so viel bittere Kraft. Alle Menschen werden Brüder – welch ein absurder, höhnischer Satz in diesem Land mit dieser Geschichte. Nach dem dritten Mal erlahmen Kraft und Konzentration, das “ü” kippt wieder ins “u”, der “Götterfunken” verliert die Hälfte seiner Konsonanten.

Mit der großen Brüderschaft, sagen unsere Übersetzer, sei es bei den Kimbanguisten nicht mehr weit her. Über Beethoven reden sie mit uns auf Französisch, über interne Kirchenpolitik untereinander auf Lingala oder Kikongo. Die über 20 Enkel des Propheten liegen, in zwei Fraktionen gespalten, im Erbfolgestreit. Man bekriegt sich vor Gericht und droht manchmal auch mit Gewalt. Es geht um die Kontrolle über Ressourcen: um das große Kimbanguisten-Krankenhaus in Kinshasa, um die kircheneigene Universität, um Schulen, Kliniken, Ländereien. Um den Zugang zum heiligen Wallfahrtsort Nkamba. Die Partei in der Rue Monkoto ist offenbar die schwächere, der Zutritt nach Nkamba ist ihr zurzeit verwehrt. Aber sie hat das Orchester.

Die Ode „An die Freude“ singen sie beim Konzert dann doch auf Englisch. Fast 3000 Zuhörer sind an einem schwülen Abend ins Stadion Kasa Vubu gekommen, Jung und Alt, Reich und Arm. Für Beethoven mögen sie sich nicht recht erwärmen. Aber Dvo?áks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ begeistert, ebenso der Gefangenenchor aus Verdis „Nabucco“ und Orffs „Carmina Burana“. Die Leute klatschen begeistert, viele würden Söhne und Töchter am liebsten sofort zum Musikunterricht anmelden, als hätten sie im Chaos eine rettende Insel für ihre Kinder gefunden. Ein Orchester mit Chor, fast 200 Individuen, alle in Schwarz gekleidet, jeder kennt seinen Part, seinen Einsatz, alles – fast alles – greift ineinander, damit etwas Großes entsteht. Ein Ministaat, der funktioniert.

“Wir kriegen sie schon”, sagt Monsieur Albert, der Instrumentenheiler. Irgendwann wüssten seine Landsleute Mozart und Beethoven zu schätzen wie Papa Wemba und die Kasai Allstars, die kongolesischen Musikgenies. Monsieur Albert hat Marktforschung betrieben. Zu den populärsten Klingeltönen für Handys – jeder Kongolese, der nicht kurz vor dem Verhungern ist, besitzt ein Mobiltelefon – zählt die Melodie der Champions League: eine der Krönungshymnen von Händel. Von wem sonst.

Making of

Freude schöner Götterfunken von Zeitenspiegel Reportagen.

Die Autorin Andrea Böhm und der Fotograf Marcus Bleasdale haben den Hansel-Mieth-Preis 2010 gewonnen. Die Journalisten bekommen die renommierte Auszeichnung für die Reportage „Freude, schöner Götterfunken“, die im Zeit-Magazin erschienen ist. Sie erzählt die Geschichte eines klassischen Orchesters im Bürgerkriegsland Kongo.