Zeitenspiegel Reportagen

Nächstenliebe an der Front

Erschienen MUT #2, 10/17

Von Autor Tilman Wörtz

Die Mönche und Nonnen des syrischen Klosters Mar Musa leben den Dialog zwischen Muslimen und Christen, mitten im Bürgerkrieg. Obwohl ihr Gründer vom „Islamischen Staat” entführt wurde

Bevor wir in Damaskus losfahren, ruft unser Fahrer auf seinem Smartphone die App “liveuamap” auf und schaut, ob die Straße Richtung Norden sicher ist. Die App zeigt stundengenau, wo es Gefechte gab, wo Explosionen, wo die Grenzen zwischen den kämpfenden Parteien in Syrien verlaufen.
Das Land ist zersplittert, Rebellen kontrollieren Gebiete im Norden, Osten und Süden des Landes. Wir aber wollen durch den Rumpfstaat des Assad-Regimes, um das Kloster Mar Musa al-Habashi in der Wüste, achtzig Kilometer nördlich von Damaskus zu erreichen. Der Weg ist frei, die Lage in diesem Teil des Landes ruhig. Doch ein anderes Ereignis überrascht unseren Fahrer: “Das erste Viertel von Rakka wurde eingenommen!” Es ist der 14. Juni 2017 und die Schlinge um die Hauptstadt des sogenannten Islamischen Staates in Syrien zieht sich zu. Seit vier Jahren soll dort auch der Gründer des Klosters in Gefangenschaft sitzen, Padre Paolo Dall´Oglio, ein italienischer Jesuit. Ich bin Padre Paolo vor 15 Jahren begegnet. Damals begleitete ich ihn gemeinsam mit dem Fotografen Ivo Saglietti, als er mitten in der Wüste einen Dialog zwischen Christen und Muslimen organisierte. Der Padre war er ein großer, vollbärtiger Mann, dessen Händedruck ich noch lange nach der Begrüßung spürte. Ich erinnere mich an seine mächtige Stimme, an seine durchdringenden Augen, seine poetische Sprache. Padre Paolo redete vom “Parfüm des Meeres”, das in ihm schon als Kind die Sehnsucht nach der Unendlichkeit weckte. Er fand die Unendlichkeit schließlich in der Wüste. Was ist aus seiner Gemeinschaft geworden sein, den Mönchen und Nonnen von Mar Musa, ohne ihren Spiritus Rector, in einem vom Bürgerkrieg zerrissenen Land? Bleiben sie ihrem Auftrag treu, “den Islam zu lieben” oder ist ihre Mission durch die Wucht der Ereignisse gescheitert? Um das herauszufinden, bin ich erneut mit Ivo Saglietti ins Kloster gereist. Außer sechs Checkpoints und einem ausgebrannten Panzer am Ortseingang von Nebek, einem staubigen Ort am Rande der Wüste, ist vom Krieg auf unserem Weg nichts zu sehen. Winzig fühlt man sich beim Blick vom Tal hinauf zur Klippe, wo sich die Steinfassade des Klosters mit dem Ocker des Felsens vermischt. Tauben umflattern die Brüstung, wie Punkte wirken sie von hier unten. Im 6. Jahrhundert wurde das Gemäuer erstmalig urkundlich erwähnt. Während ich die 354 Stufen hinaufsteige, denke ich daran, was mir Padre Paolo über sein Lebenswerk, den Wiederaufbau von Mar Musa, erzählt hat. “Dort, wo es keine Bäume gibt, ist der Kopf des Menschen die höchste Erhebung, erreicht er schon fast den Himmel, spricht mit den Sternen. In dieser leeren Landschaft hat es Platz für Kommunikation mit dem Göttlichen - und zwischen den Menschen.” Padre Paolo kam 1982 nach Syrien, beseelt von der Liebe zum Islam. Er schwärmte vom “verführerischen Ruf des Muezzins, bei dem alle Welt die Arbeit niederlegt, zur Moschee eilt und gemeinsam mit allen anderen unter einem unendlichen Himmelszelt in die Knie geht.”
Geduckt passiere ich in den Eingang des Klosters, laufe durch einen winzigen Gang auf die andere Seite der Wehrmauer. Dahinter wartet Dschihad Youssef. Dschihad - so heißt der katholische Mönch tatsächlich. „Dschihad ist ein üblicher Vorname unter Christen in Syrien”, sagt Youssef mit belegter, tiefer Stimme.
Dschihad ist vierzig Jahre alt. Wie Padre Paolo trägt er Vollbart und die graue Kutte der Ordensgemeinschaft von Mar Musa. Seine grünen Augen blicken so eindringlich tief - ohne viel von sich selbst preiszugeben. Er bereitet die Abendtafel vor, füllt Aluschalen mit Yoghurt, drückt mit dem Löffel schuppenförmige Mulden hinein, die er mit Olivenöl füllt und zu Gurken und Tomaten auf eine Tafel unter einem Baldachin mit Blick in die Wüste stellt. Mönch Butros steuert frisch gemachten Ziegenkäse aus eigener Produktion bei. Er sagt: “Allah macht den Menschen. Der Mensch macht Käse. So einfach ist das.” Auch syrische Christen nennen ihren Gott „Allah”. Schwester Houda legt jedem sein Stück Fladenbrot an den Platz. Sie ist seit Padre Paolos Entführung die Vorsteherin des Klosters und soll zur Äbtissin gewählt werden. Zu fünft sitzen sie nun am Tisch. Die Nachricht von der Einnahme Rakkas spielt keine Rolle beim Tischgespräch. Sie rauscht über das Kloster hinweg wie eines der Kampfflugzeuge, die von einem Militärstützpunkt der syrischen Armee am Ende des Tals Richtung Norden fliegen. Zu lange schon ist Padre Paolos Schicksal ungewiss, zu spärlich und unsicher die Informationen über seinen Verbleib. Die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London hat ihn bereits drei mal für tot erklärt.


“Ich brauche Dich hier”, habe Jesus zu ihm gesagt, sagt Dschihad. Bei seinem ersten Besuch in der Kapelle von Mar Musa habe er eine Vision mit Christus hinter dem Altar gehabt. Das war vor zwanzig Jahren. Dschihad bat Padre Paolo um Aufnahme in die Gemeinschaft. “Du kennst unsere Aufgabe?”, fragte Padre Paolo. “Ich habe kein Problem mit Muslimen”, antwortete Dschihad. Er war in einem christlichen Gebiet nahe der Küste aufgewachsen und hatte bis dahin nur wenig Kontakt mit Muslimen gehabt. Paolo erwiderte: “Kein Problem mit Muslimen zu haben ist nicht genug. Du musst dich für den Koran und Mohammed interessieren. Du musst die positiven Dinge im religiösen Leben der Muslime entdecken. Verlasse Dich bei Deiner Suche nicht auf das Urteil anderer. Finde es selbst heraus!” Seit diesem Tag hat Dschihad täglich Kontakt mit Muslimen: mit den Bauarbeitern, mit denen er Tafel und Brot teilte; mit muslimischen Besuchern, die an manchen Freitagen zu Hunderten die spektakuläre Aussicht genossen. Und mit muslimischen Geistlichen aus ganz Syrien, die einmal im Jahr nach Mar Musa reisten und mit ihm und den anderen Mönchen und Nonnen über Glaubensfragen diskutierten. Vor allem die Gebete einiger Sufis, muslimischer Mystiker, auf der Terrasse des Klosters rührten ihn: wie sie mit geschlossenen Augen zu Trommelrhythmen den Namen Allahs in Endlosschleife bis in die Trance hinein wiederholten. “Ich spürte die Tiefe ihres Glauben - und meines eigenen”, sagt Dschihad. Seid diesen Treffen feiern auch die Mönche und Nonnen von Mar Musa nach der Sonntagsmesse ein Sufi-Ritual mit Trommeln und Gesang. Doch als 2011 in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, veränderte das alles. Die Besucher blieben fern, die Treffen mit muslimischen Geistlichen brachen ab. Die Mönche haben sich stattdessen auf einen “Dialog im Alltag” verlegt, auf praktische Hilfe von jene, die in Not sind. Dschihad ist jetzt müde vom vielen reden. Er räumt den Tisch ab und geht zu Bett. Morgen erwartet ihn ein langer Tag. Die Sonne steht erst wenige Stunden am Himmel über Mar Musa, als Dschihad ins Tal hinabsteigt, wo der Toyota der Gemeinschaft parkt. Im Kofferraum verstaut er drei Koffer mit jeweils einem Endoskop, eine Spende von Freunden aus Italien. Mit den medizinischen Geräten fährt er ins 15 Kilometer entfernte Nebek. Am Eingang des örtlichen Krankenhauses empfängt ihn der Direktor im Anzug, daneben der Mufti von Nebek, Yassir al-Hafez, im weißen Umhang und einem Kopftuch, das von einer Kordel gehalten wird. Der Mufti ist der Kontaktmann zwischen lokaler muslimischer Gemeinde und dem Staat. Er predigt freitags in der Moschee und regelt Streitigkeiten zwischen Eheleuten, Familien und Nachbarn. Außerdem gehört Yassir al-Hafez zum Beirat des Krankenhauses. Der Mufti ist ein Glück für die Mönche und Nonnen von Mar Musa. Mit ihm diskutieren sie über “Hoffnung auf Erlösung” im Christentum und im Islam, über “Tradition und Fälschung in der heiligen Schrift”.


Das Leben in der staubigen 50.000-Einwohner-Stadt Nebek hat sich hinter graubraune Häuserfassaden zurückgezogen. Das christliche Viertel liegt an der höchsten Stelle im Ort. Dort hatte sich die Freie Syrische Armee verschanzt, bis sie von Assads Truppen im Dezember 2013 wieder rausgebombt wurde. Die Mönche spendeten für den Wiederaufbau. Heute ist kaum eine Spur mehr zu sehen, von den zertrümmerten Wänden und ausgebrannten Dachstühlen. Eine Musikschule und ein Kindergarten mit hauptsächlich muslimischen Jungs und Mädchen erfüllen heute Kirche und umliegende Gebäude mit Leben. In einem neu gebauten vierstöckigen Hofhaus lässt die Gemeinschaft von Mar Musa 17 zuvor obdachlose Familien darin wohnen, die Hälfte von ihnen sind Muslime. Über dem Torbogen steht “Allah mahabbah - Gott ist Liebe!” und “Fröhlicher Ramadan!” Ein christlicher Nachbar sagt: “In diesem Haus spielt es keine Rolle, wer Christ ist, wer Muslim.” Die Mönche und Nonnen von Mar Musa erinnern die Menschen täglich daran, wie gut das Zusammenleben funktionieren kann. Und dass kein Glaubenskrieg in Syrien herrscht - sondern ein sehr weltliches Ringen um Macht.


Padre Paolo verschwand aus Mar Musa in zwei Etappen. Erst sprach er sich nach Ausbruch des Bürgerkrieges offen für demokratische Reformen aus und wurde 2012 vom Assad-Regime des Landes verwiesen. Also gründete er einen Ableger des Klosters in Suleymania im Irak. Die anderen Ausländer der Ordensgemeinschaft von Mar Musa folgten ihm nach Suleymania, weil es für sie in Syrien zu gefährlich wurde. Bald waren sie dort zu viert. Doch Padre Paolo reiste immer wieder nach Syrien, in Gebiete, die von Rebellen kontrolliert wurden. Zuletzt, weil ihn ein muslimischer Freund gebeten hatte, mit dem „Islamischen Staat“ über die Freilassung von Verwandten zu verhandeln. Sein letztes Lebenszeichen ist ein YouTube-Video vom 28. Juli 2013, aufgenommen in Rakka. Der “Islamische Staat” hatte zu der Zeit bereits ein Büro in der Stadt, aber kontrollierte sie noch nicht. Padre Paolo steht auf einer Straße am Rande einer Demonstration und spricht voller Zuversicht von einem neuen Syrien, in dem alle Menschen ungeachtet ihrer religiösen und kulturellen Unterschiede friedlich zusammen leben können. In der Nacht nach dieser Aufnahme wurde er entführt. Dschihad verließ Syrien darauf, studierte einige Zeit in Italien. Houda blieb in Mar Musa, der Rest lebte in Suleymania.


Fünf Jahr sind seit Gründung des Klosters in Suleymania vergangen und Schwester Houda war noch kein einziges Mal vor Ort. Doch die Sicherheitslage hat sich mittlerweile verbessert - und so reisen Houda und Dschihad im Juli 2017 von Syrien in den Nord-Irak. Ivo Saglietti und ich fahren ebenfalls dorthin. Das Kloster liegt im Gassenlabyrinth der Millionen-Stadt hinter einem Tor, das Tag und Nacht von kurdischen Soldaten bewacht wird. Die Glocken des Turms wurden schon lange demontiert, um die muslimische Nachbarschaft nicht zu provozieren. Im Kloster wohnt Bruder Jens aus der Schweiz, Schwester Friederike aus Deutschland und der Syrer Bruder Jacques. Bruder Jens reicht Tee in einer blauen Emaille-Kanne mit weißen Blümchen, Oliven, Brot, Jogurt stehen auf dem Tisch, Kinder aus der Nachbarschaft zocken auf ihren Handys Video-Spiele. “Ich bin froh, dass du mitgekommen bist”, sagt Houda und legt ihren Arm um Dschihad. Jens hält ihr eine Geschirrwanne als Heiligenschein hinter den Kopf. Dschihad sagt: “Dafür taugt die Wanne - aber zum Trocken des Geschirrs nicht. Ihr braucht ein Abtropfgitter!” “Die Wanne ist so praktisch, da passt viel rein”, sagt Bruder Jens. Er verspricht Dschihad dennoch eine Shopping-Tour im Basar. Aber zuerst führt er die Besucher gemächlich durch den Kreuzgang, wir passieren die Klostermauer und gelangen in einen Hof, der mit einem Dutzend Container vollgestellt ist. Christen, Jesiden und auch Muslime aus dem gesamten Irak sind vor dem „Islamischen Staat” an diesen Ort geflohen. 120 Menschen leben hier, jeweils bis zu sechs Familienmitglieder in einem sechs Quadratmeter kleinen weißen Container. Zwischen den Behausungen flattert Wäsche im Wind, spielen Kinder. Bruder Jens organisiert gemeinsam mit einer Hilfsorganisation Nähkurse für Frauen.
“Wenn die Menschen in ihre Heimat zurückgekehrt sind, können wir so einen Container als Einsiedelei in die Berge stellen”, schlägt Jens vor. Er plant gerne. Sein neuestes Projekt: Er möchte ein Begegnungszentrum für Menschen verschiedener Religionen einrichten. An diesem Tag kommen drei junge Muslime vorbei, Studenten an der hiesigen Universität. Sie wollen mehr über das Christentum erfahren. Jens unterbricht seine Führung für Houda und Dschihad, kocht Tee, setzt sich, rückt seine Kutte und seine Brille zurecht. - “Christen glauben also, dass Jesus Gottes Sohn ist?” - “Ja, genau. Er ist Gottes Sohn und kam als Mensch auf die Erde, um uns zu erlösen”, antwortet Bruder Jens. - “Dann ist er halb Mensch und halb Gott?” - “Nein, ganz Mensch und ganz Gott….” Es ist der Glaube an die göttliche Natur Jesu, die Muslime am meisten irritiert. Während Bruder Jens mit den Gästen diskutiert, klappert im Hintergrund Vater Jacques mit dem Abwasch, verstaut Teller und Gläser in der Wanne, hofft, sie mögen darin trocknen. Auf seinem gekrümmten Rücken scheint eine Last zu liegen, von der seine weichen Augen nichts verraten. Er hat seine Haltung gegenüber dem Islam vielleicht stärker geändert, als jeder andere in der Gemeinschaft. Jacques kennt Paolo von allen am längsten. Ihm, einem Syrer, ging die Liebe zu Muslimen zu weit, wie sie Padre Paolo, ein Ausländer, von ihm fordert. Er zog sechzig Kilometer weiter nach al-Qaryatain, blieb aber dem Orden treu. Während der ersten Jahre des Krieges versorgte Bruder Jacques die Zivilbevölkerung von al-Qaryatain mit Proviant. Bis vor zwei Jahren Kämpfer des „Islamische Staats” die Stadt überrannten, ihn und 250 Christen seiner Gemeinde nach Rakka entführten und sein Kloster mit einem Bulldozer platt walzten. “Im Moment Deiner Schwäche mache ich Dich stark”, betete er. Es waren die Worte des Apostel Paulus. Er fürchtete sich, zeigte aber keine Frucht. Brachten die Wärter Essen, lächelte er ihnen zu. Nach einer Woche kam ein maskierter Mann, sprach mit ihm über Gott. Eine Stunde lang. “Wieso führt ihr einen Kreuzzug gegen Muslime?” Wollte er wissen. “Christen in Syrien sind nicht der Westen”, antwortete Jacques. „Wir sind Brüder der Muslime seit Jahrhunderten.” Der Maskenmann, erfuhr Jacques später, war der Wali von Rakka, der Stellvertreter des selbsternannten Kalifen al-Bagdadi. Jacques und seine Gemeindemitglieder kamen mit der Begründung frei, Christen seien vom Koran geschützt. Und unter der Bedingung, dass sie nach al-Qaryatain zurückkehrten, das zu der Zeit vom „Islamischen Staat” besetzt und von russischen Kampfflugzeugen bombardiert wurde. Bruder Jacques diente den Fanatikern als ziviles Schutzschild. Dank eines muslimischen Freundes gelangten ihm und seinen Gemeindemitgliedern die Flucht. Sie verstreuten sich über die Welt. Jacques floh zu Jens und Frederike nach Suleymania.
Er blickt ernst, wenn er von seiner Entführung und Befreiung erzählt. “Selbst in einem Dschihadisten ist ein guter Kern. Wir können den Islam nur verändern, wenn wir mit Liebe auf ihn blicken. Ich glaube noch mehr als früher, dass nur der Dialog Frieden bringt.” Es ist Freitag, der Feiertag der Muslime. Dschihad, Jacques und Jens gehen zur Großen Moschee von Suleymania, um dem Scheich Salar al-Hafeed ihren Respekt zu zollen. Salar al-Hafeed leitet die Moschee und predigt über den Koran. Er hat sich aber auch als Rechtsanwalt und Historiker einen Namen gemacht. Im Hof wuseln Anzugträger, Bettler, Frauen und Alte in kurdischen Pumphosen und Bauchbinde durcheinander. In einer Ecke machen Menschen ein Nickerchen, eine Gruppe sammelt sich für die Unterweisung im Koran für Blinde, an einer langen Schlange warten Bedürftige auf eine Styropor-Box mit Reis, Bohnen und Hähnchen-Schlegel. Im Empfangsraum der Moschee sitzt ein Dutzend Männer auf Sofas. Der Scheich sagt: “In der Vielfalt liegt die Stabilität Kurdistans.” Bereits sein Großvater, der König von Kurdistan, war dafür bekannt, alle Religionen und Völker unter seiner Herrschaft zu vereinen. Nicht nur Christen, auch Turkmenen, Jesiden, Juden sollten wissen, dass sie willkommen sind. Trommelschläge dröhnen von draußen in den Raum. Sie laden zur wöchentlichen Sufi-Zeremonie. Im Norden des Irak sind muslimische Mystiker weit verbreitet. Die Gläubigen bilden einen großen Kreis, die Augen geschlossen, in der Mitte die Trommler und Männer mit hüftlangen Haaren, die ihre Mähne rhythmisch vornüber schmeißen und ständig wiederholen: “Allah, Oh, Allah! Barmherziger. Lebendiger. Beständiger. Allah! Barmherziger Allah!” Auch Jacques und Dschihad stehen im Kreis, haben die Augen geschlossen und beten. “Zum selben Allah”, wie Dschihad hinterher betont. “Nur auf andere Weise.” Die Rosen im Innenhof des Klosters verschwinden in der Dämmerung, in weiches Orange taucht eine Glühbirne den Gang. Zum Abendessen bereitet ein italienischer Gast im Kloster Spaghetti al pesto. Ein Mädchen huscht beim Versteckspiel unter den Tisch. Bruder Jens kann sie gerade noch abfangen. Kinderlachen am Ende des Gangs. “Oh, diese klösterliche Stille!” seufzt der Mönch. Auch Sami, ein junger Muslim, ißt mit. Er besucht fast täglich das Kloster. Die Mönche haben ihm nahegelegt, nicht regelmäßig zu kommen. Fundamentalistische Muslime könnten glauben, im Kloster würde missioniert. “Er versteht´s nicht”, sagt Jacques resigniert. An der Wand blickt Padre Paolo aus einem unscheinbaren Bilderrahmen. Er drängt sich nicht auf und ist doch präsent. “Wenn sie Paolo umbringen, dann inszenieren sie es so für die Medien, dass wir es erfahren hätten”, sagt Jens. “Aber er ist ein zu wertvoller Gefangener.” Tatsächlich können die Nonnen und Mönche von Mar Musa hoffen. Vor anderthalb Jahren hatte ein Überläufer des „Islamischen Staates“ erzählt, dass er Paolo lebend in einer Zelle gesehen hat. Doch seitdem kann viel geschehen sein. Dschihad, Jens, Jaques und die anderen müssen weiter für Paolo beten. Das Leben im Kloster funktioniert auch ohne ihn. Mittlerweile reden die Mönche wie Paolo. Sie sagen, dass sie den „Islam berühren“ wollen und schwärmen vom „Parfüm Jesu Christi“.
Padre Paolo war immer bewusst, dass sein Leben gewaltsam enden könnte. Vor dem Tod fürchtete er sich nicht. Aber davor, dass durch den Mord an einem Pater das Feindbild “Islam” genährt würde. Er hatte deshalb schon früh einen Wunsch: “Wenn ich durch ein Attentat umkomme - dann hoffentlich durch die Hand eines Drogenabhängigen oder Mafiosi. Aber bitte nicht durch die Hand eines Muslims!” (22.500 Zeichen) Infobox: Dschihad Das Wort “Dschihad” verbinden viele Europäer mit schrecklichen Bildern: Schwarz maskierte Islamisten mit Kalaschnikow, die auf Pick-ups durch die syrische Wüste rasen; verletzte und ermordete Menschen nach den Anschlägen in Paris, Brüssel oder Berlin. Dabei heißt “Dschihad” auf Arabisch erst einmal nur: “Sich kämpfend mühen” oder “Anstrengung”. Wenn Muslime von “großem Dschihad” sprechen, meinen sie damit die Anstrengung, das Böse in sich selbst zu bekämpfen. In der christlichen Ikonografie existiert eine Entsprechung: Der heilige St. Georg tötet vom Pferd aus mit seiner Lanze einen Drachen. Der Drache wird als Sinnbild für das Böse in uns interpretiert. Arabische Christen kennen das Wort. Im 2. Brief des Paulus an Timotheus steht: “Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue bewahrt.” In arabischen Bibeln steht an dieser Stelle “Dschihad”. Der “kleine Dschihad” ist dagegen der bewaffnete, physische Kampf. Davon ist auch im Koran die Rede. Welcher Krieg als “heilig” gilt, haben die großen Rechtsschulen des Islam über die Jahrhunderte definiert: Entweder als Reaktion auf einen Angriff oder auf Bekehrungsversuche. Die Terroristen des „Islamischen Staats” begründen ihre Verbrechen mit einzelnen Koran-Passagen, die sie aus dem Zusammenhang reißen. Islamwissenschaftler weisen darauf hin, dass die rasche Expansion des islamischen Reiches unter Mohammed und der nachfolgenden Kalifen im 7. Jahrhundert nicht die Bekehrung der Bevölkerung zum Ziel hatte. Den muslimischen Herrscher begrüßten es sogar, wenn Christen und Juden ihre Religion behielten - denn die mussten eine höhere Abgabe zahlen, die Dschizra, und füllten die Staatskasse.